Heiligerschein

von 
Reportage
zuerst erschienen im April 1997 im jetzt-Magazin

Dort, wo Anja, Simone und Michael leben, geschah einmal ein Wunder. Das ist ein paar hundert Jahre her, seither ist über das Leben in Kevelaer nicht viel zu berichten. Keine Abenteuer, keine Katastrophen. Und es sieht ganz danach aus, als würde das so bleiben. Außer, es geschieht mal wieder ein Wunder

Die Trösterin der Betrübten ist nur wenige Zentimeter groß. Aber sie ist weltberühmt. Sie steht panzerglasgeschützt in einer blumengeschmückten Kapelle, auf einem Asphaltplatz, von zwei weiteren Kapellen und einer Basilika umgeben. Sie ist 350 Jahre alt. Siebenhunderttausend Menschen steigen jährlich aus klimatisierten Reisebussen, aus spartanischen Sonderzugabteilen und aus polierten Personenkraftwagen, um der Trösterin der Betrübten in die Augen zu sehen. In den letzten zehn Jahren sind also mehrere Millionen Menschen die Hauptstraße entlang zur Marienkapelle gewandert. Immer wieder den gleichen Einkaufszonenweg entlang, immer wieder die gleiche Hauptstraße bis zur Kapelle hoch, und von dort aus wieder zurück. Das ist im Grunde schon alles.

Aufregende Geschichten, also abenteuerliche Verfolgungsjagden, atemlose Geständnisse, verwegene Manöver und unerwartete Verwicklungen ereignen sich irgendwo weit weg, an Orten wie New York, Los Angeles oder Rio de Janeiro. Aber die meisten Menschen leben weder in London, noch in Paris oder gar Los Angeles, sondern abseits aller Metropolen und weitab der Copacabana: in Dörfern. Dörfer sind aber langweilig.

Insofern ist diese Geschichte nicht ganz einfach. Sie spielt in einer kleinen Stadt zwischen Wiesen und Kühen, zwischen Mönchengladbach und Köln, zwischen Zuckerrüben und Baggerseen, und sie heißt schlicht Kevelaer. Es wohnen nur etwa zwanzigtausend Menschen in den wenigen Straßen, aber trotzdem ist Kevelaer in der christlichen Community berühmt. In Kalifornien oder in Mexiko-City haben die Menschen eher von Kevelaer gehört als beispielsweise von Düsseldorf. Schließlich war auch der Papst schon zu Besuch. Kevelaer ist ein heiliger Wallfahrtsort, ein vielleicht mystisches Kraftzentrum – aber durch alle diese Superlative ist es auch eine vergehende Stadt. Weil es an eine einzige Generation gekoppelt ist. Kevelaer wird schneller als Venedig sterben, weil Jugendliche nicht mehr an Wunderbilder glauben.

„Das geht mir am Arsch vorbei.” Michael Kasper macht gerade Zivildienst im Rathaus, und er kann so einen Satz in solch einer Stadt sagen, ohne zu husten. Mit seiner Schwester Simone, Dominik und Anja sitzen wir an einem Sonntag in einem Dorfmittelpunkt-Café, was ein Tribut an den Gast ist. Normalerweise ist sonntags in Kevelaer Ausgehverbot für Jugendliche. Von ihnen selbst auferlegt. Die Hauptstraße hin zur Marienkapelle sowie die meisten Nebenwege dorthin sind feiertags tabu. „Pilger”, sagt Simone und verzieht die Mundwinkel. Auch außerhalb der christlichen Hochsaison ist Kevelaer sonntags ein beliebtes Reiseziel. Für Pilger: also für Rentner. Für Heerscharen von Rentnern.

„Bochumer haben immer weiße Mützen an, wenn sie aus den Reisebussen steigen”, sagt Anja. Es sind immer alte Bochumer. Aber aus ganz Deutschland, aus Holland, Belgien, sogar aus Frankreich und Spanien fahren alte Menschen mit tausenden Reisebussen in die kleine Stadt, um in der Marienkapelle zu beten. Siebenhunderttausend alte Menschen ziehen in einem einzigen Jahr durch diesen Ort, davon zweihunderttausend aus Holland und Belgien.

„Meine Mutter bringt am Anfang des Jahres immer den Pilgerplan mit”, sagt Anja. Anhand dieses Terminkalenders gestalten die Jugendlichen dann ihre Stadtausflüge. Und Reiserouten für Notfälle. So daß die Stadt tagsüber fast vollständig jugendfrei ist. Sauber und anständig. Geordnet. Traurig.

Jugendliche treffen sich erst abends in den wenigen ungefährlichen Straßen. In „Schülerkneipen”, wie Anja so nett betont, eben überall dort, wo die offizielle Stadt nicht hinfindet. „Leider ist das einzige Kino geschlossen worden”, sagt Simone, und Michael erinnert sich, daß „der letzte Film, der da lief, bezeichnenderweise ,Franz von Assisi‘ war”.

Manchmal bauen lokale Radiostationen vor den Dorfmauern ein Zelt auf und präsentieren Live-Bands. Dort gibt es dann auch keine Rentner. „Jeder kennt jeden”, sagt Anja, aber das scheint ihr nicht viel auszumachen. Im Gegenteil: „Es ist nicht schwer, da jemanden kennenzulernen”, weil immer eine Freundin eines Freundes eines Bekannten noch einen Freund hat. Auch über dieses fremde Gesicht weiß man dann fast schon alles. „Und die Gerüchteküche tobt.”

Dominik hat auf so einer Zeltveranstaltung mit einer eigenen Techno-Band debütiert, und er betont den einen entscheidenden Dorf-Vorteil: „Ein Auftritt, und dich kennt hier jeder.” Zudem gibt es nur drei CD-Geschäfte im Umland, die er problemlos selber beliefern kann.

Aber wie gestaltet man jetzt die Zukunft dieser heiligen Stadt? Schweigen. Was, wenn sie selber älter sind? Kann man Kevelaer dann retten? Schweigen. Kevelaer lebt vom Wunder, von der Ergriffenheit, von gläubigen Christen. Niemand möchte, daß es Kevelaer schlechtgeht, da ist man sich schon einig.

Aber was sollen sie tun? Pilgerei interessiert niemand von ihnen und auch sonst kaum einen Jugendlichen – aber eine Pilgerstadt muß es wohl bleiben. Kevelaer kann kein Jahrmarkt werden.

Dominik erzählt, daß er sich bei seinem letzten Berlinbesuch immer als Kölner ausgegeben hat. „Wegen dem Touch.” Und dann lenkt er ein: „Kevelaer ist ein schöner Punkt, um heimzukehren.”

Wer hier nicht zu Hause ist, fühlt sich gleich hinter dem Bahnhof wie erschlagen von christlichen Utensilien: von Krippen-Ausstellungen, Kerzendekorationen und Holzkreuzvernissagen. Kein Fast-Food-Trog. Kein Billard-Salon, keine Spielhalle, keine Disco. Dafür eine ‚Devotionalienhandlung‘ und eine ,Devotionalienfabrik‘. Rechts daneben ein verirrter Kebab-Laden. Die ganze kleine Stadt ist ausschließlich auf die Trösterin der Betrübten ausgerichtet. Der Legende nach wurde Ende des 16. Jahrhunderts ein gewisser Hendryk Busmann von Gott gerufen, an eben dieser Weggabelung, an der sich heute die Kerzenkapelle, die Pax-Christi-Kapelle und die Marienbasilika befinden. Durch einen langgezogenen Lichtstrahl, dessen Ende auf ein Marienbildnis fiel, wurde er ermutigt, an eben dieser Stelle eine Kapelle zu bauen. Damals hat man solche Rufe anscheinend noch vernommen und begriffen. Damals baute man anschließend auch noch Kapellen.

Heute leuchtet die Trösterin der Betrübten durch ein kleines Fenster hinaus auf den Betonplatz. Im Sommer können gläubige Menschen dann auf Bänkchen sitzen und zurückschauen. Im Winter schlängeln sich die Menschen innen durch einen kleinen Gang. Man hält Abstand. Es ist ein überladener Raum, in Rot gehalten, in einer Prächtigkeit, die mit buddhistischer Kitschigkeit Schritt halten kann.

Draußen deckt sich der Wallfahrtsweg dann wieder mit dem Haupteinkaufsweg. In einer Einkaufspassage stehen überraschend zwei junge Mädchen. Als Bedienung. An Marktständen. „Es soll schon ein ruhiges Städtchen bleiben”, sagt Simone über die Zukunft Kevelaers. Schließlich könne man auch in die nächste größere Stadt fahren, um ein Kino zu besuchen. Man kann schnell rüber nach Holland zum Einkaufen. Und die Alten hauen auch alle wieder ab.

„In der Großstadt ist es mir nämlich zu kriminell”, sagt Anja. Ab und an mal „schauen fahren” ist okay, aber wohnen möchte niemand dort. Und irgendwie habe man sich an die Pilgerei gewöhnt. Auch solche Sätze fallen hier in Kevelaer, und weil sich die Mädchen mit der offiziellen Seite des Städtchens angefreundet haben, stehen sie auch zentral im Café vor Ort.

„Ich bin inzwischen gegen Kirchenglocken immun”, lacht Michael und beschreibt das dorfspezifische Phänomen, zwei Minuten von der Basilika entfernt, also zwei Minuten hinter dem Dorfmittelpunkt, wo sich auch alle Touristen zusammenballen, in kilometerlange Schweigezonen zu geraten. Ohne Häuser, Autos, Gespräche. Nur Wiesen und Schlamm. „Das Schrecklichste ist ja nicht die Musik”, sagt Dominik, „sondern wenn die auf der Straße unaufhörlich ,Maria Hilf, Maria Hilf‘ brüllen.” Um sich anschließend zu besaufen. Saufen gehört erstaunlicherweise zu einer richtigen Pilgerfahrt wie das Brüllen auf der Straße. „Was ein Problem ist, wenn man Besuch hat”, sagt Dominik. In der Pilgerzeiten-Hochsaison kann man nicht lange schlafen. Gerade am Wochenende. Aber da ist dann das Gedrängel an den Bussen, wenn sich die Tausendermassen ordnen und einstimmen. „Das kann lauter sein als die eigentliche Prozession.” Dabei schaut er verlegen auf seinen Kakao, weil er natürlich weiß, daß alte Menschen sich in der Ahnung zusammenfinden, eine nächste Prozession vielleicht nicht mehr zu erleben. Sodaß dieser kleine Kevelaer-Trip vielleicht deren letzte Reise ist. Was alte Menschen auch davon abhält, lange zu schlafen, erst recht wenn mal die Sonne scheint, die nun wirklich selten genug in Deutschland aufblüht und wärmt und gute Laune bringt. Kevelaer wird schneller als Venedig sterben. In dieser Generation schon. Anja rührt lange in ihrem Kaffee. Irgendwie ist es traurig. Schließlich ist dieser kleine Stadtkern schon um 1100 entstanden. Da muß es doch möglich sein, über irgendwas Gemeinsames zu reden, sogar mit den weißen Mützen aus Bochum, über irgendwas Verbindendes. Vielleicht über die Sonne. Oder über die Wärme. Wobei die Sonne sich wieder von kleinen mickrigen Wölkchen bedrängen läßt.

Statt dessen läuten Glocken.