Arto Lindsay

von 
Interview
zuerst erschienen im Juli 2002 in Alert Nr. 7, S. 16-23

[17] Arto Lindsay ist nicht wegzudenken aus der New Yorker Musikszene: Er war Gitarrist der Lounge Lizards und der Golden Palominos und Sänger von D.O.A. und den Ambitious Lovers. Seit Lindsay 1996 mit „O corpo sutil / A Subtle Body“ sein erstes Solo-Album veröffentlichte und fast im Jahrestakt fünf weitere folgen ließ, gilt der US-Amerikaner, der in Brasilien als Sohn christlicher Missionare aufwuchs, als rastloser musikalischer Grenzgänger. Arto Lindsays Musik ist stark beeinflusst vom brasilianischen Bossa Nova und der Low-New-York-Noise-Tradition, die er auf Alben wie „Mundo Civilizado“, „Prize“ oder jüngst auf „Invoke“ kunstvoll-dynamisch verschmilzt. Zuletzt produzierte Arto Lindsay Alben der brasilianischen Musiker-Volkshelden Caetano Veloso, Gal Costa und Marisa Monte. Auf Einladung von Alert kam Arto Lindsay während eines Berlin-Aufenthaltes in die Redaktion zum Abendessen, wo er auf alte Freunde traf, unter anderem den Fernsehproduzenten Christoph Dreher. Es gab Spätzle und Lammkeule und Apfelkuchen, dazu sizilianischen Rotwein. Zwei Stunden zuvor hatte das Interview in der Küche stattgefunden, während die Alert-Art-Direktorin Sibylle Trenck den Spätzleteig zubereitete. Felix Broede fotografierte Lindsay am Morgen darauf in dessen Hotelzimmer in Berlin Prenzlauer Berg.

Als wir uns das letzte Mal in Neapel gesehen hatten, hast Du mir von dem Godard-Film „Le Mepris“ erzählt, der in Curzio Malapartes Villa auf Capri spielt. Du erzähltest davon, wie schön es ist, an einem Ort anzukommen, von dem man eine Vorstellung hat, eine verklärte vielleicht, aber man hat ein Bild vor Augen.

Ja … „Le Mepris“ ist in Amerika zwischenzeitlich zu einem großen Kultfilm geworden - und damit das Malaparte-Haus auch. Es gibt jetzt große, pathetische Bilderbücher über das Haus, und jeder hat sie. Und jeder Penner äußert sich zu dem Haus, weil er denkt, es sei angesagt, etwas über das Haus zu sagen. Und natürlich kotzt mich das an, weil ich dieses Haus schon seit Jahrzehnten liebe und ich mir diese Bücher alle gekauft habe, bevor sie bei uns herauskamen. Wie geht man mit einer solchen Form von Verärgerung um? Sie gibt einem nämlich zu allem Überfluss noch das Gefühl, zu altern.

Aber Du gehst doch nicht so weit, etwas, das Dir lieb und teuer ist, zu verwerfen, nur weil es andere auch gutfinden?

Es ist eine Sache, sich zu ärgern. Eine andere ist, den Ärger zu vergessen, sich zu entspannen, darüber zu lachen. Dabei fällt mir auf, dass ich heute, nach all den Jahren, eine tiefere Beziehung zu meinen beiden Hauptwohnsitzen New York und Rio entwickelt habe. Eine andere Sache, die ich festgestellt habe, ist, dass ich meinen Zigarettenkonsum kontrolliert heruntergefahren habe. Von 25 Zigaretten am Tag auf derzeit vier. Und anstatt, dass es mich jetzt gesprächig gemacht hätte, habe ich angefangen, mehr Fernsehen zu gucken. Als ob mir diese Kur eine Menge Energie geraubt hätte. Es hat allerdings den Vorteil, dass ich auf diese Weise wieder Fußball gucke. Ich gucke, wann immer ich es kann, die italienische Serie A, die Bundesliga - und natürlich die Spiele der Seleçao. Und ich erinnere mich, dass ich damals im Fernsehen das ganze Ausmaß der Korruption erlebt habe - die letzte Präsidentschaftswahl in den USA. Du konntest die Korruption förmlich sehen. Du konntest im Fernsehen sehen, wie sie Gore die Wahl gestohlen haben. Sie haben in [19] Florida so viele illegale Dinge getan, angefangen von bürokratischen Hürden bezüglich der Wahlberechtigung für die in Florida lebenden Afro-Amerikaner bis hin zur Praxis der Stimmenauszählung und den durch die republikanische Gouverneurin gesetzten Zeitdruck. Ich habe mich zum ersten Mal seit Jahren als ein wütender Bürger gefühlt. Ich bin Amerikaner, und ich hatte gewählt - zum ersten Mal seit einer langen Zeit. Und man hat mich betrogen. Und dann passierte der 11. September. Ich war zu Hause in New York und schlief noch, als es passierte. Ständig klingelte das Telefon. Ich gehe selten ans Telefon, ich höre immer zuerst, wer anruft, und alle fragten, ob ich noch lebte, ob ich „es“ gesehen hätte … Ich ging also schließlich zum Fenster und sah den zweiten Turm einstürzen.

Was für Gefühle hattest Du in diesem Moment?

Ich habe eine Meinung zur globalen Politik. Ich habe auch eine Meinung zur katastrophal fehlgeleiteten Außenpolitik der USA. Ich bin in Brasilien großgeworden, in einem Land, das unmittelbar die Folgen dieser US-amerikanischen Geopolitik zu spüren bekommen hat. Und dennoch hat mich der 11. September auf eine seltsame Weise mit dem Land, in dem ich lebe, verbunden. Die Stadt war Traurigkeit in den Tagen nach dem Anschlag, spürbare, greifbare Traurigkeit. Jeder wollte Blut spenden, jeder wollte helfen, jeder hätte jeden in seiner Wohnung übernachten lassen, weil ja alle Straßen, Brücken und Tunnel, alle U-Bahnen, Flughäfen und Bahnhöfe gesperrt waren, alles zum Stillstand gekommen war. Das Traurige war: Es wurde gar kein Blut gebraucht. Es waren ja alle tot. Ich glaube, ich habe erstmals, seit ich schreibe, in meinen Texten Bezug auf ein politisches Phänomen genommen. Chiffriert zwar, in spröde Zeilen gefasst - aber früher habe ich mich davor immer gehütet.

Ein Beispiel, vielleicht anhand Deines neuen Albums?

Ich bin zum Beispiel immer an den Beziehungen zwischen Ökonomie und Sprache interessiert gewesen, etwa in dem Sinne, dass ein Wirtschaftsraum so stark ist, dass er die Sprache diktiert, die gesprochen wird. Das sind Themen, die, sobald es ums Schreiben geht, immer eine Rolle in meiner Arbeit gespielt haben. Das mag daran liegen, dass ich zweisprachig aufgewachsen bin - portugiesisch und englisch. Das Verhältnis von Rassen zueinander hat immer in meiner Arbeit eine Rolle gespielt, auch wenn ich stets zurückgeschreckt bin, es direkt auszusprechen in meinen Texten. Ich mag einfach Verschlüsselung, ich mag Jorge Luis Borges.

Und die Bibel?

Mein Vater war Theologe, er war ein Missionar; ich habe von ihm dieses biblische Englisch gelernt und ärgere mich, wenn ich sehe, wie andere das aufgreifen. Andere Songwriter etwa (lach, lach). Wer die Bibel kopiert, kopiert sie in der Regel schwächer als das Original. Ihm geht es nicht darum, das Geheimnis zu verstärken, sondern darum, eine Emotion zu erwirken. Fang an zu heulen und geh‘ heim. Vergiss es anschließend, aber ändere dich nicht.

Du hingegen hast stets verworfen, was Du neu geschaffen hattest. Es gibt Leute, die mit dem Sound, den Du miterfunden hast, reich und berühmt geworden sind.

Ich kann aus heutiger Sicht zurückblicken und sagen: Das stimmt. Es hat nichts mit einer edlen Intention oder so etwas zu tun, sondern vielleicht mehr mit einer Form von Besessenheit, die letztlich jeder Künstler hat, der auf der Suche nach dem für ihn gültigen Ausdruck ist.

Umgekehrt waren die Leute verwundert, als Du mit einem Mal in kurzer Folge mehrere Alben mit Bossa-Nova-Musik veröffentlicht hast - und statt im Großen zu verändern nur kleine Modifikationen unternommen hast.

Es gibt ja auch subtile Veränderungen. Ich hatte einen ursprünglichen Entwurf - das Album „O corpo sutil / A Subtle Body“ - mit jeder Variation subtil verändert, raffiniert, vorangebracht. Ich bin persönlich viel mehr daran interessiert, einer Idee zu Gültigkeit als zur Marktreife zu verhelfen. Ich will Herr über meine Arbeitsweise werden, und das bedeutet eben auch, dass ich nicht mehr partout radikale Brüche provozieren muss. Interessanterweise führt aber auch so eine Arbeitsweise zwangsläufig zu Brüchen.

Jeder Mensch hat seine Lebensspanne, die er zur Verfügung hat, um die Dinge zu tun, die er tun muss.

Damn! I never had a hit single!

Worauf ich hinauswill: Es gibt selten Fortschritt ohne zwischenzeitliche Besinnung. In Deinem Falle schreibst Du anders als früher, früher hast Du Dich auf musikalische Brüche konzentriert.

Es ist interessant, auf welche Weise man zu Erkenntnissen kommen kann. Ich habe in den letzten Jahren erstaunlich viel über nebenbei fallengelassene Kommentare von jüngeren Freunden von mir nachgedacht. Die haben dann etwa gesagt: „Offensichtlich hast du Angst vor Erfolg.“ Sie hätten es auch anders ausdrücken können. Sie hätten auch sagen können: Der rote Faden in seinem Leben ist das Verwerfen, der Wechsel, die Suche nach neuem Ausdruck, er versucht nicht, sich selbst zur Marke zu formen. Stattdessen aber heißt es: Warum musst du immer alles zerstören, was du auf der Bühne aufbaust? Nie bist du bereit, mit dem Publikum zu teilen, was ihr gemeinsam habt. So etwas bezieht sich natürlich darauf, dass ich Lautstärke und Krach auf der einen Seite habe und meinen sehr angreifbaren, zerbrechlichen Sprechsingsang auf der anderen. Mich haben Kommentare dieser Art tatsächlich ziemlich nachdenklich gemacht. Denn aus meiner Sicht habe ich mein Publikum doch nur mit Extremen konfrontiert, weil ich dachte, dass die Leute, die mir zuhören und ich selbst ähnlich empfinden würden. Aber tatsächlich kam es wohl so rüber, als ob ich mit Sarkasmus oder Schwäche auf das blicken würde, was ich gerade erst erschaffen hatte. Auf eine gewisse Weise wurde durch mein Vorgehen stets das jeweils Vorangegangene widerlegt. Ich versuche diese Dinge daher auch seit Neuestem konsequent zu vermeiden. Ich habe durch diese Kommentare von jüngeren Leuten, die keine Worte der Weisheit, keine Analysen waren, eine Menge Dinge verändert in meinem Leben und viele Verhaltensweisen in Frage gestellt.

[20] Inwiefern können zum Beispiel auch Interviews, also kommerzielle Gespräche, einen Künstler bewegen?

Man kann auch Interviews auf diese Weise betrachten. Zunächst einmal aber sind sie anstrengend, dann wird man verführt und zugleich abgestoßen von seinem eigenen Narzissmus. Ich meine: Es ist einfach eine unglaubliche Situation, den ganzen Tag lang über sich selbst zu reden. Für Stunden und Stunden und Stunden, und immer bekommt man neue Komplimente. Zur gleichen Zeit kommt einen die ganze Wiederholung immer leerer vor, man hat das Gefühl, als ob man sich in Phrasen bewegt. Und leer ist noch der beste Fall: Falsch ist der schlimmere. Tatsächlich sind Interviews aber auch Teil eines Prozesses der Reflexion, der Sich-Vergegenwärtigung, dass man etwas geschafft hat im Leben. Indem man versucht zu erklären, was man geschaffen hat.

Auch zu überwinden, was man geschaffen hat?

Ja. Zuhören. Lesen. Das sind andere Dinge, die einen weiterbringen. Ich sehe mehr und mehr Leute, die das Lesen als einen aktiven Akt begreifen. Nicht nur Zitieren, so wie irgendwelche Walter-Benjamin-DJs …

Wenn wir über erfüllte Lebensentwürfe reden: Hast Du Angst vor dem Tod?

Ich glaube, man kann nichts daran ändern, dass man Angst vor dem Tod hat … Aber die Furcht vor dem Tod ist in deinem ganzen Verhalten verborgen. Du musst es dort finden, wo es sich verkleidet hat. Angst vor Veränderung zum Beispiel ist nichts anderes als Angst vor dem Tod.

Das hieße ja wiederum, eins zu eins übersetzt, dass Du weniger Angst vor dem Tod haben musst, bei all den Veränderungen, die Du Mal ums Mal provozierst …

Hey, ich kann Dir ein bisschen Abwechslung anbieten, ein bisschen Veränderung … Aber ich habe auch noch erstklassigen Tod im Programm … Beste Ware, willste was? (lach, lach). Wie würdest Du denn gerne sterben?

Müde.

Das ist nicht schlecht. Nach einem langen, anstrengenden Tag sterben. Das ist fast schon buddhistisch.

Ich mag die Idee, das Leben als die Aufgabe zu betrachten, herauszufinden, wo seine Talente und seine Grenzen versteckt sind. Ich meine damit: Wir alle haben Kindheit, Erziehung, Beeinflussung hinter uns, aber vielleicht tun wir nicht das, wofür wir geboren wurden. Mit anderen Worten: Ich glaube nicht an den Jugendkult.

Etwas herauszufinden, was man sich zuvor nie getraut hat. Das ist ziemlich gut, so banal es klingen mag. Denn es geht darum, das Neue zu finden. Neuheit, neu sein, das ist ja ein Charakteristikum von Fleisch. Denn, nachdem es verrottet ist, ist es kein Fleisch mehr. Es verteilt sich, und wird zu Erde. Aber Neuheit, das ist wie ein freier Geist. Neuheit, das steht für sich. Es ist nämlich auch wahr, dass das Fleisch alles ist, und es ist traurig, wenn man es fortgehen sieht. Wir alle haben Angst davor, dass auch uns das Fleisch verlässt. Das hat nichts mit Resignation zu tun, nur weil es uns alle betrifft. Das Älterwerden hat eine Menge damit zu tun, eine Niederlage zu akzeptieren, der man nicht entrinnen kann. Auch wenn es unendlich traurig ist, seine Zähne zu verlieren, die Haare zu verlieren, das Augenlicht, die Erektion … - das ist die Straße.

Die Straße nach El Dorado?

Genau, die Straße nach El Dorado, und nur Gott weiß, wo das liegt!

Es gibt hier das Sprichwort: Traue keinem über dreißig …

Ja, das gibt es auch in Brasilien und in Amerika. Das gibt es wahrscheinlich überall.

Also ist etwas dran.

Mit einem abgeschlossenen Jahrzehnt ist meistens eine existentielle Krise verbunden. Man reflektiert, bekommt andere Blickwinkel - und verliert den Anschluss zu den Jüngeren, die diese Reflexion noch vor sich haben.

Möglich. Ich konnte es nicht erwarten dreißig zu werden. Und heute mache ich all die Dinge, die ich immer schon tun wollte. Das habe ich früher in dem Sinne nicht getan. Ist es nicht interessant, wenn man feststellt, dass man noch so viel nicht getan hat? Dass noch so vieles möglich ist? Man fragt sich: Warum habe ich das nicht schon früher begriffen? Warum war ich nicht früher schon illuminierter - um einen der neuen Songtitel von Dir zu zitieren …

Älterwerden heißt ja nicht alt werden. Das ist noch so ein Klischee, das man beiseite räumen muss: Du hast doch bestimmt auch schon vierzigjährige Männer gesehen, die hinter Teenager-Mädchen her sind. Weil sie Angst vor dem Älterwerden haben, weil sie Angst haben, dass diese Stimmung, dass alles ewig halten wird, vorbei sein könnte. Dabei ist die Jugend genau betrachtet die Lebensphase, die den Menschen am schlimmsten im Klammergriff hat. Die Freiheit des Kindes hat er bereits verloren. Die Abgeklärtheit und ein Ziel vor Augen sind noch nicht erlangt. Die sogenannte Reifezeit ist eine Zeit, in der du nichts als ein Spielball deiner Gefühle bist. Du wirst von deiner Jugendlichkeit kontrolliert. Ich habe kürzlich einen guten mexikanischen Spielfilm gesehen über zwei Jugendliche. Der eine ist reich, der andere nicht. Ihre Freundinnen fahren in die Sommerferien, und sie treffen diese Frau, diese sexy Frau, die verheiratet ist mit einem Cousin von ihnen. Sie haben zusammen ein Abenteuer, und sie bringt den Jungs bei, dass sie nicht so schnell kommen sollen, dass sie Respekt vor der Frau haben sollen - eine Art Einführung sozusagen ins Leben. Dieser Film ist ein wenig limitiert in seiner Aussage, aber er ist schön gespielt. Vielleicht erzähle ich das auch nur, weil mir gerade wieder schmerzlich bewusst wird, wie selten ich doch ins Kino gehe, und wie tief Filme auf mich wirken können. Vor allem, wenn sie in Gegenden spielen, die ich kenne.

Ich finde es faszinierend, dass Du als Reisender aufgewachsen bist. Immer pendelnd zwischen Süd- und Nordamerika und Europa, zwischen Rio und New York, zwischen zwei Sprachen und Welten. Wie nachhaltig prägt ein solches Leben?

Ich mag Bewegung. Ich mag es, an verschiedenen Orten zu sein. Aber ich mag vor allem lange genug an einem Ort sein, um etwas über diesen Ort zu erfahren. In den letzten Jahren bin ich ein bisschen weniger unterwegs gewesen. Nicht, weil ich die Orte mit einem Mal nicht mehr mochte, sondern, weil ich müde geworden war vom permanenten Reisen. Vom Akt des Reisens.

[23] Redest Du von den permanenten Wartezeiten auf Anschlussflüge? Von den lästigen Unterbrechungen, die den langen, ruhigen Fluss des Reisens unterbrechen?

Nein, ich meine einfach: Im Flugzeug sitzen. Zu fliegen. Fliegen hat etwas Erniedrigendes. Ich mag auch die Klassengesellschaft in den Flugzeugen nicht. Ich selbst fliege meistens Business Class. Und trotzdem mag ich das Klassensystem nicht. Ich mag es nicht, wie die Menschen nach ihrem Wohlstand kategorisiert werden. Verstehe mich nicht falsch: Es ist letztenendes richtig, die Menschen nach ihrem Wohlstand und ihrem Einkommen zu ordnen, weil das nun einmal so ist auf der Welt. Aber beim Fliegen übertreiben sie es. Es gibt dieses hartnäckig sich haltende Gerücht, dass die Luft in der Economy Class nicht im gleichen Rhythmus zirkuliert wie in der First Class und der Business Class. Und solcherlei Ungerechtigkeiten lenken ab von den schönen Dingen des Reisens. Reisen ist für mich nämlich ansonsten eine Frage des Rhythmus‘: Manchmal ist es gut, einen Ort nur zu streifen, anzukommen, ihn zu sichten, weiterzureisen. Manchmal ist es besser, ein paar Tage zu bleiben. Reisen beeinflusst dein Sexualleben ganz enorm. Reisen ist anders, wenn du eine feste Freundin hast, die nicht mitkommen kann. Auf der anderen Seite: Wenn du keine feste Freundin hast, kann ein solcher Lebensstil auch großartig sein. Sie haben keine Zeit, dich festzuzurren … (lacht). Der Boden verschiebt sich bei einem solchen Lebensstil. Denn vor den Neunziger Jahren, vor dem Internet, vor den DJs, habe ich viel mehr Information von einem Ort zum nächsten mit mir herumgetragen. Deutlich mehr auf alle Fälle, als ich es heute tue.

Weil Du heute auf andere Weise Zugang zu Informationen bekommst?

Genau. Und nicht nur ich. Jeder auf seine Weise. Information heißt doch auch: Es gibt seit den Neunzigern viel mehr Zeitschriften, die viel mehr Geschichten drucken … Fotostrecken, farbig, mit Bildern bis zum Rand hin … Mode, Kunst, Berühmtheiten - alles ist omnipräsent. Diese Magazine ähneln einer Maschine, die statt Benzin Neuigkeiten braucht. Wir alle wissen jetzt alles über Japan. Wir wissen alle jetzt alles über Skandinavien - Skandinavien war in Amerika ein großer Trend in den letzten Jahren … Afrika hat Skandinavien jetzt abgelöst, und die Amerikaner fliegen nach Afrika. Afrika fand zuerst in den japanischen Magazinen statt. Jetzt schreiben sogar schon die Holländer darüber … Das alles heißt ja nicht, dass Unterschiede jetzt verschwinden, sondern sie werden nur anders verhandelt. Sie werden anders dargestellt.

Die Welt - ein Dorf?

Yeah, ich sage ja auch: Veränderung ist gut! Es ist witzig, weil man eine gewisse Balance braucht im Leben. Wenn es die ganze Zeit nur laut ist, dann verliert die Lautstärke ihre Wirkung. Wenn man immer nur traurig ist, dass man einen Platz verlassen hat, wird man nicht die Erregung spüren, einen neuen Ort zu entdecken. Ich mag an neuen Orten ankommen. Es passiert mir manchmal, dass ich gerne in der Stadt leben würde, durch die ich im Begriff bin zu reisen. Städte verführen mich manchmal.

Welche Städte?

Neapel, Florenz, Paris, Berlin, São Luis in Maranhao, Kyoto, San Francisco, New Orleans. Mir fallen viele Orte ein.

Als Musiker kannst Du theoretisch ja in jeder Stadt der Erde arbeiten.

Ich bin in Bewegung, seit ich mich erinnern kann. Mit meinen Eltern erlebte ich stets diese Situation der Fremdheit: Man lebte irgendwo, aber man kam von woanders her, man war Fremder. Dieses Gefühl der Fremdheit machte es mir leichter, jederzeit woanders hin reisen zu können. Die Entscheidung Musiker zu werden hatte auch etwas damit zu tun, dass ich gerne reisen wollte. Was ich damals schon wusste, war: Ich wollte mir keinen Campingwagen mieten und durch die Vereinten Staaten fahren, ich wollte die Welt bereisen. Aber das Reisen selbst, das Wegmetern einer Strecke, das langweilt mich nur noch. Es macht mich müde, und von daher kann ich eine Reise auch nicht für mich nutzen, zur Reflexion oder um zu arbeiten. Ich hab’s: Das Reisen, der Flug, die Taxifahrt, das Einchecken im Hotel - das ist die Arbeit am Musikerdasein. Der Rest ist der Spaß. Ich habe zum Beispiel auch keine großen Probleme, mich an einem Ort wohlzufühlen, dessen Sprache ich nicht spreche. Das ist dann für mich immer ein Abenteuer.

Wie wichtig ist für Dich der Zugang zu Dingen, die Dir etwas bedeuten, etwa bestimmte Musik, bestimmte Filme oder Bücher?

Ich bin kein Materialist, der ständig seinen Besitz um sich braucht. Und zum Reisen gibt es diese praktischen CD-Taschen, in die mehrere Dutzend CDs ohne Cover reinpassen. Ich mache mir stets ziemlich coole Zusammenstellungen von CDs für unterwegs … Zum Beispiel, wenn die Band auf Tour geht, dann versucht jeder immer die coolste Selektion zu haben. Alter Rhythm ‚n‘ Blues, der aktuellste Death Metal, kommerzieller HipHop, japanischer Pop, eine Platte von Joseph Beuys, brasilianischer Kram … Wir versuchen uns gegenseitig auszustechen. Aber manchmal haben wir auch gar keinen Bock darauf, diese ganze geile Musik zu hören. Mir passiert das sogar recht häufig, dass ich feststelle, zuviele CDs eingepackt zu haben … Sobald es allerdings um Bücher geht, werde ich nervös. Ich nehme grundsätzlich zu viele Bücher mit. Einfach, weil ich nicht weiß, was ich wohl lesen werde. Und das ist auch das, was ich am Fliegen so schlimm finde: Ich kann mich nicht auf das Buch konzentrieren, das ich lese. Magazine, ja. Daher kaufe ich mir auch immer einen Stapel Zeitschriften, die ich mir zuhause in New York nie kaufen würde … Viele Leute sagen ja auch, dass sie von den Filmen, die an Bord gezeigt werden, emotional viel tiefer angesprochen werden, als wenn sie den gleichen Film im Kino gesehen hätten. Mir geht das genauso. Ich kann im Flugzeug irgendeine Hollywood-Komödie sehen und laut lachen. Oder ich heule, weil ich einen traurigen Film sehe. Und ich weiß ganz genau, dass ich in einem Kinosaal nicht heulen würde. Ausgeschlossen. Einmal alle zehn Jahre. Aber im Flugzeug: immer.

Hast Du eine Idee, woran das liegt?

Ich glaube, weil man angreifbar, verletzbar ist, so hoch über den Wolken. Nicht, weil man denkt, das Flugzeug könnte abstürzen, sondern einfach, weil der eigene Körper so hoch über der Erde schwebt. Das ist aber natürlich nur eine Vermutung.