»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

18.6.2020

Der Dichterwettbewerb von Klagenfurt gewinnt eindeutig durch die neuartige Darstellungsform. Und halt auch mit Philipp Tingler. Beim altgedienten Juror Kastberger aus Österreich ist der gerahmte Einblick in die private Umgebung freilich unschön. Überhaupt scheint jetzt alles aus dem Reich der Ahnung nach vorne ins Bild geräumt. Gut, aber wie schrieb schon Patrick Bahners in den neunziger Jahren anlässlich von Kempowskis «Bloomsday»: Wer hat schon tagsüber Zeit zum Fernsehen?

Warhol hat jetzt eine Kreditkarte (Diners Club).

17.6.2020

«Who goes into fine art as business move?» schreibt Blake Gopnik, und meint es, auf den Beginn der Ära Warhols bezogen, ironisch. Aber wenn er (Gopnik) gut wird, dann richtig gut. Offenbar hat er gute 300 Seiten lang bloß diesen Anlauf genommen, um dann auf drei Seiten erzählen zu können, wie Warhol seine Entscheidung fällen muss, den pseudogestischen Stil abzulegen, um die vollkommene Künstlichkeit im Ausdruck erlangen zu dürfen. Was natürlich das Schwierigste ist überhaupt. Hätte es das Buch schon zu meiner Schulzeit gegeben, hätte ich einsehen können, dass mir Derartiges niemals gelingen dürfte.
In der Zeitung freut man sich schon auf Kim Yo-jong, den ersten Diktator in Frauengestalt.

16.6.2020

Der Inhaber eines galvanischen Betriebes hier um die Ecke ist ein Natural, wie man im frühen Hollywood gesagt hätte, ein Sprechliterat. Neulich noch erzählte er mir im Zuge der Warenannahme, dass er mithilfe seiner Kenntnisse in Elektrochemie die Grüne Sauce neu erfunden hat (es gibt Beweise, er hat auf einem Wettbewerb tatsächlich die Jury für seine Zubereitung einnehmen können). Gestern hat er mir am Rande meiner Abholung erzählt, dass er sich schon im Januar mit Covid-19 infiziert hatte (beim Erzählen, natürlich; ein Kunde war gerade aus Wuhan, natürlich, zurückgekehrt und hielt sich eine Stunde lang in seinem Büro auf), und dass er schon einen Roman geschrieben hat, dessen Handlung, die sich auf Gran Canaria abspielen sollte, ihm im Schlaf eingegeben wurde. Seit George-Spencer Brown nicht mehr unter uns weilt, dürfte der Galvaniker also der letzte sein, den ich kannte, dem die Inspiration zuteil wurde.

In der Warhol-Biografie erwähnt Gopnik am Rande ein Gerät, das mir unbekannt war. Offenbar eine französische Erfindung einer Musikbox, die zu den Singles passende Filme zeigen konnte (mithilfe von Rückprojektion). Die sogenannte Scopitone kam von Paris über England auch ins New York der fünfziger Jahre. Mich wundert, dass Roland Barthes sie nicht erwähnenswert fand.
A propos: Elizabeth Peyton dürfte meines Wissens nach die erste Künstlerin sein, die eine funktionierende Form für eine Ausstellung online gefunden hat. Was Museen und Galerien bislang zeigen belässt es bei der Imitation eines Besuches im Raum. Bei Peyton gibt es auch keine Erklärtexte, ich muß mir auch keine überflüssigen Gedanken über die Einrichtung der Ausstellungsräume oder der Position der Kamera darin machen. Man wird lediglich aufgefordert, das Gerät in den sogenannten Landscape-Modus zu drehen, schon geht die Kunst los. Vor Jahrzehnten, auch vor dem Internet hat mir eine Rubrik in der Inselzeitung von Sri Lanka, dem «Islander» immer so gut gefallen: Über den Seiten mit Annoncen des Kleingewerbes stand dort «Let your fingers do the walking». Genau so funktioniert es jetzt bei Peyton. Die Seite versteckt sich unter der Adresse Petitcrieu.com 

15.6.2020

Gestern zufällig wieder diese schöne Radiosendung gehört «Golden Ratio Frequencies», die mich vor ein paar Wochen für sphärische Musik begeistert hat. Beinahe zwei ganze Stunden verbrachte ich so, lauschend. Die Zeit verging nicht wie auf einem Flug, wo vor dem Fenster mehr oder weniger ein Standbild zu sehen bleibt, sondern wie auf einer Wanderung durch die landschaftlichen Harmonien. Dabei fiel mir Chuck D ein, von dem ich noch kein Statement zur Rassenproblematik gelesen hatte. Aber er lebt noch. Stellte sich heraus, dass Public Enemy gerade das Stück «Food As A Machine Gun» bewarben («Chips, dip, soda, soda, yo, give me some / Pow, pow, food is a machine gun»).
Jean Raspail ist gestorben (94). Nachruf von Simon Strauß. Bisschen unklar, seine Haltung. Es steht doch eben dort, im «Heerlager» ziemlich eindeutig drin, wie Raspail die rechte Haltung definiert hat: Als heitere Gesinnung, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und für die rechte Sache dafür bis zum letzten Tropfen, alle anderen Weicheier et cetera.
Bei Gopnik ging es um Warhols erste Ausstellung (in einem Hinterzimmer mit blausamten bespannten Wänden) bei einem flamboyanten Griechen. Und dass er kochen konnte (AW): Fasanenbrust unter der Glasglocke. Das Gericht selbst war mir noch unbekannt.

14.6.2020

Andy, der sich noch André nennt, André Warhola zieht zuhause aus, nach New York, an die Lower East Side. Ich habe das Gefühl, dass sein Leben, dass auch Gopniks Buch jetzt richtig los geht. Man braucht ein bisschen Vorlauf im Text, um sich warmzuschreiben. Selbiges gilt für das restliche Leben. Auch Vertrauen zu sich selbst, dass man das kann: Woanders leben als daheim. Wenn man in der Praxis dann die ersten paar Male mit der Nase ganz nah dem Fussboden der neuen Behausung liegt und einschlafen soll … Und natürlich alles voller Kakerlaken, sogar aus den Bewerbungsmappen kriechen sie zwischen den Zeichnungen heraus. Aber Hamburg war nie New York.
Abends aßen wir Rote vom Grill. Bisschen frech vielleicht, despektierlich gegenüber der Braut vom Nachmittage, die in einem roten Kleid hereingewirbelt wurde auf den festlich dekorierten Garagenhof. Man sieht es der Roten Wurst nicht an, mit der Braut verglichen tendiert sie innen zum Rosafarbenen, von außen her ins Braun. Alfred Andersch hat seinen Roman nicht nach meiner Roten benannt. Haftbefehl, Aykut Anhan hat sich mittlerweile in Stuttgart niedergelassen, erfahre ich (von seiner Frau). Der Liebe zuliebe (mit Mädchennamen heisst sie Epple).

13.6.2020

Im Garagenhof des Nachbarhauses, der von unserem Hofgarten von einer niedrigen Mauer abgeteilt wird, bereiten die Bulgaren eine Hochzeitsfeier vor. Die gesamte Nachbarschaft der Bulgaren ist eingeladen. Eine große Sache, schon heute früh wurden mit dem Pressluftaggregat etliche Luftballons befüllt. Auf einem weiß eingedeckten Tisch liegen einige Schokoladen – Merci, aber auch einheimische Produkte — drapiert. Die Zwischenräume zwischen den Packungen wurden mit den Blütenblättern einiger Hortensiendolden bestreut. Die Mume brachte diese in einer Plastiktüte mit. Ich glaube, ich kenne sogar den Vorgarten, in dem sie gedeihen. Auch für uns, die wir vom Balkon aus als Zaungäste (!) geduldet sind, ist diese Feier eine große Sache — war es doch eine Bulgarensause in dieser Art, die uns damals, vor ein paar Jahren, erst auf die Idee hatte bringen können, nach Bulgarien selbst zu reisen. Friederike kann heute aber selbst leider nicht dabei sein, die Zeitung muß fertig werden. Ich entsann mich meiner eigenen Zeit in der Redaktion und seitdem «tickere ich», wie es dort immer hieß, die allmählichen Zurüstungen zum großen Knallbonbon zu ihren Händen. Gerade eben wurde ein immenser Benz auf den Hof gerollt, aus dessen Lautsprechern jetzt der Hof aller Höfe beschallt wird. Mein Telefon identifiziert den Opener «Mega Bomba» von Sinan.

Bei Gopin ging es gestern vergleichsweise zivil zur Sache: Wie Andy Warhol zu seinem berühmten Zeichenstil fand. Nichts, aber auch gar nichts in diesem Leben war Zufall. Was eventuell an der Perspektive des Erzählers liegt.

12.6.2020

Den Sommer erkenne ich an seinem Licht, das, durch das Blätterdach von den Platanen in einen Regen aus goldenen Münzen verwandelt, auf die Windschutzscheiben hernieder fällt. Während seiner Zeit an der Kunstschule in den vierziger Jahren hat Andy Warhol sich einen rosa Anzug gekauft, um aufzufallen. Andauernd gehe ich aus dem Text hinaus, um eines dieser Details nachzuschauen, oder eine Idee zu verfolgen, auf die ich durch Gopniks Methode gekommen bin. Durch ein Versehen landete ich in einem Blog, das nur aus Bildern bestand. Bilder aus dem Leben eines Paares, wie sie leben. Ihre Pflanzen. An einer Mauer, wie die gemauert war, erkannte ich, dass ihre Geschichte in Barmbek spielt. Wie ähnlich uns Fremde vorkommen können. Lange Zeit mit dem Betrachten dieser Bilder verbracht. Wie in einer fremden Wohnung.

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