»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

30.6.2020

Mierle Laderman Ukeles ist freilich Künstlerin der Stunde, andererseits halt auch schon 81 Jahre alt — wer weiß, ob sie ihre Preisverleihung noch erlebte? Bin auf sie natürlich durch die Arbeit am Warhol gestoßen. Wobei ich in den vergangenen Tagen zu wenig weit vorangekommen bin, weil es im Garten meiner Eltern kein WLan gibt. Das ist für das Lesen im Buch selbst unwichtig, nicht aber für die Konkordanz, der Kontext ist so entlegen wie gigantisch von seinen Ausmaßen her, sodass ich von jeder Seite aus zweimal mindestens, viermal höchstens aussschweifen will, um beispielsweise herauszufinden, welche Art Kunst hinter jenem just erwähnten Namen sich verborgen haben könnte. Also «Sanitation Art». Ich hatte mich, dies an anderer Stelle, vor langer Zeit, schon einmal darüber gewundert, warum ausgerechnet die Stadtwerke von New York das Stipendium eines Artist in residence ausloben. Als Stadtschreiber auf der Mülldeponie — es könnte schlimmer kommen.
Ansonstern wurde das Buch zum hinteren Drittel hin, in dem ich mich jetzt befinde, immer nur noch besser. Klar, ich näherte mich unaufhörlich dem Jahr 1968, dem Jahr des Attentats, das nicht nur in Warhols Leben selbst, sondern auch in der Konstruktion des rekonstruierten Lebens in der Biografie von größter Bedeutung bleibt. Ein Nadelöhr, durch das Blake Gopnik den roten Faden zieht. Im Sommer darauf dann Stonewall Riots. Erst jetzt und das durch diese Biografie ist mir klar geworden, dass Andy Warhol vor allem als schwuler Künstler zu verstehen ist. Und nur wenig nachgeordnet als Filmemacher — noch in der Todesanzeige für seine Mutter bezeichnet er sich als Pornofilmproduzent. Umso empörender, dass in meinem Leistungskurs «Bildende Kunst» ein halbes Jahr lang zu Andy Warhol unterrichtet wurde und es ging vor allem um Siebdrucktechnik und Roy Lichtenstein. Interessant in dem Zusammenhang freilich, dass es in der Ära vor Stonewall noch keinen Zusammenschluss von Feminismus und Schwulenbewegung gegeben hat. Eigentlich hatte Warhol ja vorgehabt, eine 24-stündige Dokumentation mit Marcel Duchamp zu drehen. Stattdessen wurde er von Valerie Dingsbums niedergeschossen. Als er aus der Reha kam, war Duchamp tot.
2020 übrigens, ganz nebenbei, ein Jahr der Kirschen. Wir haben Tonnen von den Bäumen gelesen. Nicht bloß auf den Wiesen und auf den Weinbergen, sogar im Wald.

26.6.2020

Weil das Naturbad Eberdingen, in dem ich noch in der Jugend oft die herrlichste Zeit, im Schatten dort, bei Senfbroten, verbracht, geschlossen bleiben sollte, und in den wenigen Freibädern von Stuttgart man ausschliesslich zu im Vorhinein reservierten Zeiten «nur in eine Richtung» schwimmen durfte, führte ich Friederike über den Heusteig durch den Wald hinunter in das stille Tal, wo sich das Strudelbächle windet, an dessen schattenreichster Stelle mir einst, vor vielleicht vierzig Jahren, ein winzig kleiner Stichling in meinen kaum viel größeren Kescher schwamm. Hier netzte sie sich ihre Füße. Und gleich neben ihr hatte sich eine Prachtlibelle niedergelassen, bald noch eine. Die Tiere, das fanden wir vor Ort heraus, waren extrem selten geworden. Angeblich bloß noch dort zu finden, wo Gewässer von naturreiner Klarheit fließen. Das Tal sonst freilich auch überhaupt kein bisschenmehr still; nicht einmal mehr phasenweise, weil hier die arbeitende Bevölkerung dicht an dicht die Motoren ihrer Sportwagen hochjazzt (zu meines Vaters Zeiten arbeiteten 800 im nahen Entwicklungszentrum von Porsche, heute sind es mehr als 7000). Als in meinen Jugendjahren das von seinem Konzept her neuartige Lokal Palast der Republik eröffnet wurde, schrieb die Stuttgarter Zeitung von «Bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Lautenschlagerstraße». Dazu hatten sie ein Foto von den Gästen, die, weil es nicht ausreichend Stühle gab, den Caipirinha auf dem Trottoir sitzend schlürften.
Abends erzählte meine Mutter, was mir neu war, vielleicht hatte ich es bloß vergessen, wie ihr Englischlehrer sie einst ausgefragt hatte, weil er in ihren englischen Sätzen einen Hauch vom sogenannten Slang vernommen hatte. Er wollte herausfinden, ob sie sich mit einem Besatzungssoldaten angefreundet hatte. Seinem Empfinden nach musste es sogar ein Schwarzer sein? So fein war sein Gehör für fremde Klänge ausgebildet. Es war aber bloß Radio gewesen, das die Aussprache meiner Mutter getuned hatte: Armed Forces Network. Mutter des Pop.
Warhol hat auch einen Film über seine Mutter gemacht, in dem seine tatsächliche Mutter Julia eine fiktive Mutterfigur verkörpert, weil ihm das Bild seiner Mutter, das durch einen Dokumentarfilm über Julia Warhola verbreitet werden sollte, nicht gefiel.

24.6.2020

Jetzt hat das Jahr diese Temperaturen erreicht, bei denen ich mich am wohlsten fühle: Tag und Nacht auch außerhalb des Bettes so, als läge ich noch unter meiner bestickten Decke. Wir reisen zu den Brezeln mit den dicken Ärmle. In Bayern mag man die Brezel-Ärmle dünn und knusprig, in Baden-Württemberg, ihrem Herkunftsland, dagegen dick und mit Butter bestreichbar. Frankfurt liegt zwischen diesen beiden Anschauungswelten zum Brezelärmlesgeschmack. So holte ich dort heute früh beim Bäcker welche mit schwäbisch dick gebackenen. Aber ansonsten ist in Frankfurt weitaus mehr vom bayerischen Einfluss zu spüren als von einem schwäbischen.

Bei Warhol ging es um die Aufnahmen zum ersten Album von Velvet Underground. David Bowie nach erstmaligem Durchhören «I was so excited I couldn’t move.» Warhol selbst hingegen wird vom Ehemann Elaine Sturtevants, der in einer Werbeagentur arbeitet, für einen Spot angeheuert, der ein Abführmittel anpreisen soll (in Schwarzweiß mit Strobo). Der Spot verfehlt seine Wirkung. Es waren halt andere Zeiten. Heute gibt sich sogar die Reizdarm-Branche progressiv.

Mit Blick aufs Datum: In einem halben Jahr schon ist es wieder soweit.

23.6.2020

Abends bei den Mosebachs. Sie haben endlich eine Wohnung finden können und leben jetzt mit Blick weit über Wipfel auf die Bürotürme wie am Central Park. Die Verluste an Kunst und Mobiliar, durch ihren Brandschaden erlitten, hatte ich mir drastisch vorgestellt — es war davon rein gar nichts zu bemerken! Man kann es dem Haus nun wirklich nicht von der Straße her ansehen, in welcher Schlosshaftigkeit sie sich auf ihrer Etage eingerichtet haben.
Es war, von einem Picknick vor drei Wochen, mein erster Abend in Gesellschaft seit Ende März. Ebenfalls gekommen waren der Novize Manuel, den wir schon von dem Weihnachtsfest bei den Jägers kannten, sowie ein junger Philosoph aus Albanien, ein Liebhaber des Spätwerkes von Paul Thomas Anderson, der zur Klausur in die Alpen Albaniens aufbrechen wollte, und der Verleger Eberhardt vom Rußwurmschen Herrenhaus, der auf der Durchreise nach Capri war. So muss es also zugegangen sein, wenn Pilger beinahe unverhofft aufeinander trafen. Es gab famose Butterbrote, anhand derer ich mit Frau Mosebach ins Plaudern über ihre Heimat Schweden kam. Die Schweden sind ja, hier den Dänen ähnlich, berühmt für ihre Butterbrotkultur.
Es war schon weit nach Mitternacht, da brachte Mosebach selbst eine Flasche Wein an, die er seit sechzig Jahren schon besaß und die, wie durch ein Wunder, die Brandkatastrophe überlebt hatte. Das Etikett war angesengt und fehlte zur Hälfte sogar ganz. Der alte Wein war wunderbar.
Zwei volle Tage nun habe ich mein Pensum in Sachen Warhol geschwänzt. Mit frischem Mut (Mishima) gehe ich heute ans Werk. Morgen brechen wir in die alte Heimat auf.

22.6.2020

Morgens früh nach Seckenheim (rauf, runter oder rüber?), Luft war noch angenehm, beinahe kühl im Schatten der Bäume. Uns war ein alter Kirschbaum zugeteilt worden, dessen Zweige schwer beladen herunterhingen. Wir konnten ohne Leiter pflücken. Ein Korb fasst zehn Kilo, in einer Stunde machten wir zwei und einen halben voll. Zwanzig liessen wir als Spende für die Besitzer der Plantage. Die wollten später noch Kirschwein ansetzen, dafür brauchten sie 500 Kilo (ein Fass fasst 50, unsere Spende darin kaum mehr als ein Bodensatz). Kaum dass wir angefangen hatten, gesellte sich auch bald eine Frau zu uns und den anderen Helfern im Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ); eine von dem Schlag, der bei körperlicher Arbeit andauernd tratschen muss. Brachte mich immer wieder draus aus dem schönen Rhythmus von Kirschen ertasten und zupfen und Korb. Ich bin auch beim Kirschenpflücken vom Schlage Virginia Woolfs und will einen Baum für mich allein.
Weiß jetzt allerdings, warum bei den Amerikanern, bei denen vom Schlage Ralph Laurens speziell, ein bestimmter Farbton zwischen Purpur und Magenta als Cherry bezeichnet wird. Das hat nichts mit der Farbe der Früchte im Korb zu tun, sondern mit den Handflächen nach dem Pflücken.

20.6.2020

«The Commercials don’t really break up the continuity»: Warhol über Immersion Anfang der sechziger Jahre. Mittlerweile unterbricht vor allem die Werbung das Gefühl des Eintauchens. Alles andere unter der Bildschirmoberfläche erscheint auf mein Verlangen, alles kommt mir entgegen. Die Werbung, ob als Vor- oder Zwischenfilm, als Schrifteinblendung kommt uns dazwischen. Die Werbung stammt aus einer dritten Welt, einer mit der man nichts zu tun haben will. Anders als noch vor zwanzig jahren kenne ich heute niemanden mehr, der in der Werbung arbeitet.
Obwohl mich die Filme von Andy Warhol auch weiterhin nicht interessieren, habe ich heute zum ersten Mal «Space» gesehen. Er hat eine der ersten Videokameras angeschafft und filmt mit seiner 16mm-Film-Kamera einen Bildschirm ab, auf dem eine Aufnahme seiner Darstellerin läuft, die er mir der Videokamera aufnimmt und diesen Film auf dem Monitor zeigt, den er mit seiner Filmkamera filmt.
Heute hat der Sommer angefangen. Morgen gehen wir in die Kirschen.

19.6.2020

Bei Warhol lief im Hintergrund immerzu der Fernsehapparat, wie Zeitzeugen berichten. Ich erinnere mich, dass das noch weit über die Mitte der neunziger Jahre so geblieben war als Einrichtungstrend: Das bewegte Bild im Hintergrund. In den Achtzigern noch Tele5 und bald darauf MTV entweder mit abgedrehtem Ton oder ganz leise, dann in den Neunzigern gern etwas mit Dauernachrichtenlaufstreifen am unteren Bildrand. Als Erbe der Golfskriegsjahre mit Christiane Amanpour, CNN. Im neuen Jahrtausend hörte das aber auf, zumindest bei mir. Schade eigentlich, hatte aber wohl mit dem Programm zu tun (oder mit einem veränderten Einrichtungsgeschmack). Ich habe dann heute auf experimenteller Grundlage ausprobiert, mit einem minimierten Bild im Bildschirm die Übertragung aus Klagenfurt laufen zu lassen, während ich im E-Book las. Die Immersion gelang mir nicht. Lag vielleicht auch am spezifischen Problemgespräch unter den Juroren, die sich fortwährend auf einer Metaebene zum Text wiederfinden wie dorthin gebeamt, um von dort aus dann nicht mehr herunterzufinden zur Textarbeit. Hat eventuell damit zu tun, dass sie nicht mehr zusammen mit den Probanden in einem Ort zusammen sich befinden. Live!
Der Moderator gehört auch endlich noch abgeschafft.

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