Wer hat Angst vor Kenneth Anger?

Interview
zuerst erschienen im März 2013 in Interview, S. 110-115
Seine Filme beeinflussten Generationen von Regisseuren und Künstlern. Wirklich bekannt wurde der Avantgarde-Filmemacher Kenneth Anger jedoch erst mit seinem Skandalbuch Hollywood Babylon. Während in Berlin eine Ausstellung Leben und Werk Angers feiert, empfing uns der 86-jährige Amerikaner in den Privaträumen der Galerie Sprüth Magers. In den Nebenrollen: Jayne Mansfield, Charles Manson, Marianne Faithfull, der Teufel und andere Weggefährten

Herr Anger, Sie halten vehement daran fest, am 3. Februar um Mitternacht im Jahr 1930 geboren zu sein. Etliche Quellen behaupten indes, Sie wären am 3. Februar 1927 zur Welt gekommen. Bitte klären Sie uns auf.

Ich bin 1930 geboren. Das sieht man mir doch an.

Ich dachte, Sie hätten vielleicht das Jahr verändert, weil die Sterne im Jahr 1930 an Mitternacht günstiger standen.

Das ist Unfug. Ich glaube an viel, aber nicht an Horoskope. Horoskope sind etwas für Lutscher. Allerdings liebe ich es, derlei Verwirrung zu stiften. Das ist eine meiner Spezialitäten.

Ebenso fraglich scheint Ihr erstes Engagement in Hollywood: Haben Sie als kleiner Junge in Max Reinhardts Verfilmung des Sommernachtstraums mitgespielt - oder war der Prinz in Wirklichkeit ein kleines Mädchen namens Sheila Brown?

Nein, das war ich! Ich war der Changeling Prince! Ich ritt allerdings auf einem Hund, nicht auf einem Pferd. Der große deutsche Regisseur Max Reinhardt war ein Freund meiner Großmutter Bertha, so kam ich an die Rolle. Und bevor Sie jetzt nachfragen: Ich war vier oder fünf Jahre alt, nicht sieben oder acht!

Ihren ersten eigenen Film haben Sie mit elf gedreht.

Leider ist Who Has Been Rocking My Dreamboat verloren gegangen. Er war sieben Minuten lang, gedreht im Sommer 1941, kurz vor dem Angriff auf Pearl Harbor – im Film schwingt das drohende Engagement Amerikas im Zweiten Weltkrieg mit. Ich hatte die Furcht, dass Giftgas eingesetzt werden könnte. Dies war jedoch nicht der Fall. Zumindest nicht außerhalb der Gaskammern.

Wie kamen Sie als Elfjähriger darauf, einen Film zu drehen?

Ich bin in Hollywood aufgewachsen, war Schüler der Beverly Hills High School. Wir Kinder spielten Film, atmeten Film, träumten Film. Das Kino begleitete uns ständig. Glücklicherweise besaß meine Familie eine 16-Millimeter-Kamera. Und da ich nicht wollte, dass mir jemand in meine Angelegenheiten reinredet, entschied ich, Regisseur zu werden.

Wie hat sich Hollywood seit Ihrer Kindheit verändert?

Eigentlich war der Stern Hollywoods schon verglüht, als ich ein Teenager war. Schauen Sie sich doch das Personal heute an - all diese Angelinas, schrecklich beliebig. Oder fällt Ihnen ein echter Hollywoodstar dieser Tage ein, der mit Göttinnen wie Clara Bow, Joan Crawford oder Jayne Mansfield mithalten könnte? Nennen Sie mir nur einen!

Lindsay Lohan, Kristen Stewart, Angelina Jolie?

Die können Sie behalten.

Die Damen sind also kein Material für die lang ersehnte Fortsetzung Ihres Skandalbuchs Hollywood Babylon?

Ich bitte Sie!

Was war der letzte in Ihren Augen würdige Skandal in Babylon? Whitney Houstons Tod? Oder das Ableben von Michael Jackson?

Whitney ist in der Badewanne eingeschlafen und ertrunken. Es war ein dummer Unfall, tragisch sogar. Aber kein Fall für mich: Es fehlt die Intrige. Denken Sie nur an Fatty Arbuckle in den Zwanzigern – er ruinierte seine Karriere, weil ein Mädchen auf einer seiner berüchtigten Partys starb. Oder der Schauspieler Wally Reid, der drogensüchtig war und aus Scham darüber vom Filmstudio in ein Irrenhaus verfrachtet wurde, wo er starb. Aus Versehen. Da war was los!

Vielleicht haben die Stars im 21. Jahrhundert einfach bessere Agenten als der Stummfilmkomiker Arbuckle. Oder sie haben gelernt, nach einer Linie Kokain nicht zu dritt von der Toilette zu kommen.

Jedenfalls ist es heute sehr ruhig. Auch wenn Kokain immer für eine paar ernsthafte Probleme gut ist.

Eigentlich haben Sie mit Ihrem Buch den Gossip, den Schmutz, nach Hollywood gebracht. Die Aufmachung Ihres Skandalbuchs, die Zeilen, die Paparazzi-Ästhetik, all das sieht aus wie die Blaupause des heutigen Boulevardjournalismus. Auf dem Cover fliegen einem die Brüste von Jayne Mansfield geradezu entgegen…

Was Jayne unfassbar peinlich war. Das Bild entstand auf der Geburtstagsparty von Sophia Loren. Jayne kam wie immer zu spät. Sie trug dieses unmögliche Kleid mit einem unfassbar tief geschnittenen Dekollete. Als sie sich zu Sophia runterbeugt, um zu gratulieren, springen ihre Brüste einfach nur raus. Eigentlich ein tolles Geschenk, finden Sie nicht?

Das liegt im Auge des Betrachters.

Den Erzählungen nach fand es Sophia durchaus amüsant. Jayne keineswegs. Ihr war all das schrecklich peinlich, weswegen sie heulend davonrannte.

Wahrscheinlich fand Ms Mansfield es nicht gerade schmeichelhaft, dass Sie dieses Bild als Cover für Ihr Buch ausgewählt haben, oder?

Sie konnte sich nicht beschweren. Sie war tot. Verunglückt bei einem tragischen Autounfall.

Wie kamen Sie eigentlich an all die Geschichten für Hollywood Babylon? Sie behaupten in Ihrem Buch unter anderem, Bette Davis habe ihren zweiten Mann ermordet, Lucille Ball habe ihre Karriere in Hollywood als Prostituierte begonnen und James Dean sei einem zwölfjährigen Jungen hinterhergestiegen.

Das wusste man damals. Es hat nur vor mir niemand aufgeschrieben. Schon als kleiner Junge sammelte ich alle Anekdoten, die mir zugetragen wurden, und schrieb sie auf. Und als Schüler der Beverly Hills High School hatte ich einen Logenplatz: Ich konnte aus dem Fenster des Chemieunterrichts in den Hinterhof von 20th Century Fox schauen. Und da mein bester Freund Andre Previn (später ein berühmter Pianist, Komponist und Dirigent) und ich keine Lust hatten, am Sportunterricht teilzunehmen, schauten wir den anderen dabei zu, wie sie schwitzten, und tratschten über die Gerüchte und Geheimnisse, die uns unser Mitschüler Harry Brand Jr. in den Pausen verriet. Sein Vater war Produktionsleiter bei 20th Century Fox, eine unfassbar ergiebige Quelle.

Wie sind Sie denn um den Sportunterricht herumgekommen?

Ich gab vor, Nasenbluten davon zu bekommen.

Als Schüler haben Sie schließlich Ihr erstes heute noch erhaltenes Werk gedreht: Fireworks.

Das auf einer sexuellen Fantasie, einem Traum von mir basiert.

Eine Horde Seefahrer fällt über Sie her, am Ende reißen die Matrosen Ihnen die Brust auf, doch anstelle des Herzens sieht man dort eine tickende Uhr. Ein sehr ästhetischer erster Film, Herr Anger!

Danke! Ich muss jedoch betonen, dass die Seeleute keineswegs solche Rüpel waren, wie es im Film scheint. Die Jungs wollten Kameramänner werden und waren begeistert von meiner Idee. Aber es waren echte Seeleute in echten Uniformen. Ich hätte es mir auch gar nicht leisten können, Uniformen für Statisten zu leihen. Letztendlich musste ohnehin alles sehr schnell passieren. Wir haben Fireworks in gerade mal 72 Stunden gedreht. Mehr Zeit hätten wir auch gar nicht gehabt.

Weil die Jungs zurück in den Dienst mussten?

Nein. Meine Eltern fuhren zur Beerdigung eines Onkels nach Pittsburgh. Ich nutzte die Gelegenheit, räumte das Wohnzimmer aus, rief die Seeleute an, und los ging’s.

Ihre Eltern ahnten nichts von dem Unterfangen?

Nein, die haben den Film auch nie zu Gesicht bekommen. Glücklicherweise regnete es während der drei Tage nicht. Sonst wäre es zu einer Katastrophe gekommen - ich hatte die Möbel einfach nur in den Garten getragen -, und das hätte mein Vater gar nicht lustig gefunden.

Wie muss man sich Kenneth Anger als Schuljungen vorstellen?

Eigenwillig. Neugierig. Meine Eltern wussten nie so recht, was sie mit mir anfangen sollten. Meine wichtigste Bezugsperson war deshalb meine Großmutter. Ihr zeigte ich auch Fireworks.

Und wie fand die alte Dame den Film?

Sie fand Fireworks großartig. Dabei war sie eine alte Frau, die durchaus geschockt hätte sein können. Sie ahnte vermutlich, dass ihr Lieblingsenkel schwul sein könnte.

Fürchteten Sie eigentlich keine Probleme mit dem Gesetz? Die Anspielungen im Film sind nicht gerade schwer zu lesen. Und Homosexualität stand damals noch unter Strafe in Amerika.

Ich war jung, und mir war egal, welche Konsequenzen oder Scherereien der Film mir bereiten könnte. Es war auch keine Frage der Courage: Mir ging es nur darum, meine Vision umzusetzen. Sie dürfen zudem nicht vergessen, dass Fireworks ein Undergroundfilm ist, ein Film für ein ausgewähltes, elitäres Publikum. Das einzige Problem war, ein Labor zu finden, das Fireworks entwickelt. Heute leben wir ja in einer Zeit, in der irgendwie alles geht, alles vertretbar ist. Früher musste man auf Zehenspitzen angeschlichen kommen. Deshalb finden Sie in meinen Filmen auch nichts Explizites. Man findet Anspielungen, und davon jede Menge, diese sind jedoch so symbolhaft, dass ich damit immer durchkam.

Wie das Feuerwerk, das in der Hose losgeht?

Na gut, zugegeben, das ist vielleicht etwas offensichtlicher.

Parallel zu Fireworks änderten Sie auch Ihren Namen: Aus Kenneth Wilbur Anglemyer wurde Kenneth Anger. Sie hätten sich auch Kenneth Angel nennen können – oder waren Sie dafür zu wütend?

Das hätte in meinem Fall wirklich nicht gepasst (lacht). Kennen Sie das Tattoo auf meiner Brust (Lucifer)? Nein, mir ging es darum, aus meinem Namen eine Marke zu erschaffen, ein Logo, eine Ansage. Bei der ersten Vorführung des Films, die nach einer Aufführung von Brechts Galilei um Mitternacht im Coronet Theatre, Los Angeles, stattfand, kam sogar Dr. Alfred Kinsey vorbei. Er kaufte die erste Kopie des Films. Sie steht noch heute in dem nach ihm benannten Institut an der Universität von Indiana. Kinsey interviewte mich damals für sein Buch Sexual Behavior in the Human Male – acht Stunden lang. Die Gespräche wurden allerdings anonymisiert. Sie können sich also die Mühe sparen, nach mir zu suchen. Kinsey und ich wurden gute Freunde, ich besuchte ihn oft an seinem Institut in Bloomingdale.

Sie drehten zudem den Film Thelema Abbey mit ihm.

Ja, bei Kinseys erster Reise nach Italien. Ich hatte mich ausführlich mit Aleister Crowleys Landhaus beschäftigt, das Crowley die Abbey of Thelema nannte. Er hatte die Wände mit erotischen, von Gaugin inspirierten Bildern bemalt, die ich wieder freilegen wollte. Ich schrubbte einen ganzen Sommer lang die Wände, um zu sehen, was Crowley hinterlassen hatte: Scarlet Woman, die von einem Ziegenbock bestiegen wird. Das war wohl zu obszön für Italien unter Mussolini (lacht).

Dabei haben die Römer doch all das erfunden!

Ha, das stimmt! So habe ich das noch gar nicht gesehen.

Die Schriften des Okkultisten Aleister Crowley haben Ihr Werk maßgeblich beeinflusst. Wie haben Sie als Teenager in Los Angeles überhaupt vom berüchtigten Frater Perdurabo gehört?

Als Teenager lernte ich Jack Parsons kennen, einen der wichtigsten Jünger Crowleys. Parsons leitete die Agape-Loge in Kalifornien und war einer der intelligentesten Männer, die ich kennenlernen durfte. Er arbeitete in der Raumfahrt und entwickelte den Treibstoff, der die ersten Raketen ins Weltall beförderte. Jack gab mir Crowleys wichtigste Schriften, die ich eifrig studierte. Der Hintergrund war folgender: Crowley starb 1947, da war ich 17, er gründete den Ordo Templi Orientis, eine Geheimorganisation, zu dessen Anhängern ich mich bis heute zähle. Leider starb Jack bei einem Experiment in seiner Garage in Pasadena. Er sprengte sich selbst in die Luft. Glücklicherweise überlebte seine Frau Cameron, da sie gerade einkaufen war. Die beiden wollten eigentlich nach Mexiko abhauen, da das FBI hinter Jack her war.

Muss man sich den Ordo Templi Orientis wie eine Loge der Freimaurer vorstellen?

Er ist ähnlich strukturiert.

Besuchen Sie regelmäßig die Logenabende?

[113]

Nein, ich kannte ihn natürlich. Die kleine Dame ist der Schlüssel zum Film, weil ich das Umfeld, die Fontänen und Skulpturen, größer erscheinen lassen wollte.

War es von Anfang an Ihre Idee, die Fontänen zu Vivaldi sprudeln zu lassen?

Vom ersten Tag an. Ich liebe Die vier Jahreszeiten, und ich wusste immer, dass ich irgendwann das Wintermotiv in meiner Arbeit verwenden würde.

Der Titel Eaux d’artifice…

…ist ein Wortspiel, auf das ich stolz bin: Feu d’artifice bedeutet Feuerwerk auf Französisch, ich verweise also mit einem Augenzwinkern auf Fireworks.

Sie drehen ausschließlich Kurzfilme. Hatten Sie nie Lust, etwas in Spielfilmlänge zu drehen?

Schon, aber dafür fehlte mir immer das Budget. Mein Geld reichte meistens für 15 Minuten, manchmal auch für eine halbe Stunde oder 40 Minuten. Aber das ist nicht tragisch: Ich vergleiche meine Filme gerne mit Gedichten. Von denen erwartet auch keiner, dass sie ein Roman sind.

Eine Angestellte der Galerie Sprüth Magers, die Kenneth Anger betreut, kündigt an, dass die verabredete Gesprächszeit bald vorüber sei. Anger schaut auf, sagt: „Wir haben noch keinen Kaffee bekommen. Bieten Sie diesem Gentleman erst einmal ein Getränk an.“

Bitte fahren Sie fort!

Weinen Sie im Kino?

Nein, ich bin keine Heulsuse, wenn Sie das meinen. Aber Filme berühren mich durchaus.

Inauguration Of The Pleasure Dome war der erste und einzige Film, den ich auf LSD gesehen habe.

War es aufregend?

Schön. Verstörend. Und rätselhaft.

Ich habe nicht viel mit Drogen experimentiert, schon gar nicht mit harten Drogen. Allerdings versuchte ich einst, auf LSD zu filmen. Das klappte überhaupt nicht! Ich bekam das Bild nie scharf. Vielleicht lag das aber auch an meinen Augen – oder das LSD war einfach zu stark. Sie wissen schon: Das war in den Sechzigern in San Francisco …

Dort arbeiteten Sie an einem Ihrer Hauptwerke, an Lucifer Rising.

Ein durchaus kompliziertes Unterfangen.

Es scheint nicht gerade einfach, einen adäquaten Luzifer zu finden.

Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise: Es war die Hölle.

Dabei war Ihr Luzifer nicht der Leibhaftige nach der christlichen Lesart, sondern der Luzifer nach der Interpretation Aleister Crowleys.

Luzifer als der Lichtbringende, ja. Tief in mir spüre ich eine Stimme, die sagt: Du bist noch nicht fertig mit dem Thema. Irgendwann werde ich wohl zu Lucifer Rising zurückkehren. Aber das ist Zukunftsmusik.

Gerüchteweise sollte Mick Jagger die Rolle übernehmen…

 …dann seine Bruder Chris, Chris Jagger, der mir jedoch viel zu viele Fragen stellte. Wir drehten in Ägypten, und der Kerl wollte ständig wissen, warum dies oder jenes geschieht, was all das zu bedeuten hat. Dabei war er nur ein Erfüllungsgehilfe, eine Marionette. Ich brüllte ihn an: „Halt die Klappe. Das verstehst du nicht.“ Letztendlich musste ich ihn nach Hause schicken.

Die Rolle der Lilith übernahm Marianne Faithfull.

Und sie war schrecklich, grauenhaft, die Schlange im Garten Eden. Sie trug alles Böse, was Frauen zu bieten haben, in sich. Wegen ihr wären wir beinahe im Knast gelandet. Schlimmer noch: Wir hätten wegen Marianne Faithfull hingerichtet werden können. Damals drohte in Ägypten die Todesstrafe für Heroinbesitz…

Heroin?

Marianne war zu dieser Zeit hochgradig süchtig. Sie schmuggelte ihr Rauschgift im Make-up nach Ägypten. Ungeachtet aller Konsequenzen. Mir fiel das auf, weil sie plötzlich mit diesem grauen Gesicht an meinem Set erschien. Sie war total zugedröhnt und merkte nicht einmal mehr, dass ihr Make-up eigentlich Heroin war.

Den Soundtrack zu Lucifer Rising sollte Jimmy Page beisteuern.

Ja, aber Jimmy schickte nur 20 Minuten. Ich brauchte jedoch 40 Minuten. Er hatte damals ebenfalls ein ziemlich heftiges Heroinproblem, was kein Geheimnis war. Mit solchen Leuten kann ich einfach nicht arbeiten.

Stattdessen steuerte Ihr alter Freund Bobby Beausoleil den Soundtrack bei. Er nahm die Musik im Gefängnis auf.

Das stimmt. Und zwölf verurteilte Mörder halfen ihm dabei.

Bobby Beausoleil sitzt eine lebenslange Haftstrafe für den Mord am Musiker Gary Hinman ab.

Er war Mitglied der Manson Family, Bobby Beausoleil ist einer der Manson-Mörder, richtig. Ich habe ihn einmal hinter Gittern besucht, aber das war ganz furchtbar. All die Kontrollen, Stahltüren, Gitter, Schlüsselringe. Einfach nicht meine Welt. Seither haben wir uns nur noch geschrieben.

Vor der Tat lebten Bobby und Sie zusammen in San Francisco. Sie waren ein Paar. Was ist schiefgelaufen?

Ich machte Schluss und schmiss Bobby raus.

Warum?

Bobby war jung, viel jünger als ich. Er bat mich um 700 Dollar, um Verstärker für seine Band The Magick Powerhouse of Oz zu kaufen. Ich gab ihm das Geld, er fuhr nach Südkalifornien. Doch anstatt mit Lautsprechern kam er mit diesen Paketen zurück, die fortan in seinem Zimmer lagerten. Wir hatten damals einen Hund, Snowfox, einen Husky. Und der fing an, ständig an diesen ominösen Paketen rumzuschnüffeln. Irgendwann fiel mir das auf. Ich fand es merkwürdig. Also schnitt ich ein Loch in eines der Pakete - und was bröckelt raus? Marihuana!

Jetzt klingen Sie aber spießig, Herr Anger! Wir reden schließlich über die Sixties! Haight-Ashbury! San Francisco!

Na und? Bobby war jung, viel zu jung. Er war minderjährig. Und er log mich an.

Was passierte dann?

Ich setzte ihn vor die Tür. Ich war verletzt. Und sauer. Daraufhin stahl Bobby meinen Van und brauste davon. Er wollte runter nach Südkalifornien, doch der Van blieb auf halber Strecke liegen. Unglücklicherweise genau vor der Ranch, die damals Charlie Manson und seine Bande bewohnten. Das mag jetzt wie eine schlecht konstruierte Geschichte klingen, aber ich schwöre Ihnen: Sie entspricht der Wahrheit. Die Girls entdeckten den hübschen Jungen, tanzten um ihn rum, rauchten sein Gras, da war es um ihn geschehen. Bobby war sehr jung. Wahrscheinlich fand er in Charlie Manson eine Vaterfigur.

Immerhin brachte Manson ihn dazu, einen Menschen umzubringen. Angeblich wegen eines missglückten Drogendeals.

Schrecklich. Und traurig. Sehr traurig.

Während Bobby einer von Mansons Todesengeln wurde, schalteten Sie eine Todesanzeige für Kenneth Anger in der Village Voice. Eine ziemlich drastische Maßnahme, finden Sie nicht auch?

Nein, wieso? Ich wollte meine Karriere als Filmemacher tatsächlich beerdigen. Kenneth Anger. Filmmaker. 1947-1967. Aus. Schluss. Vorbei. Bobby hatte mir das Material meines wichtigsten Projekts gestohlen, und ich war wirklich am Ende. Und da ich gerade in New York war, dachte ich, dies sei eine adäquate Reaktion.

Dachten Sie tatsächlich, dass Ihre [115] Freunde und Familie es amüsant finden, Ihre Todesanzeige zu lesen?

Teilweise. Die meisten wussten natürlich, wie verrückt und gestört Kenneth Anger ist. Sie dachten wahrscheinlich: „Ach, schau her. Ein echter Kenneth Anger.“ Ich hatte immer einen Hang zu Drama und zur Inszenierung. Das verdanke ich wahrscheinlich einem meiner früheren Leben.

Vor der Halloweennacht 2008 kündigten Sie ebenfalls an zu sterben. Dennoch sitzen Sie heute hier.

Daran kann ich mich nicht einmal mehr erinnern. Aber ein gelungener Publicity-Stunt, wie es scheint, oder nicht?

Prägnante Schlagzeilen scheinen jedenfalls eine Ihrer Gaben zu sein. Eine andere lieferten Sie in den Achtzigern: Nach wie vor hält sich das Gerücht, Sie hätten dem Gründer des Interview-Magazins einen Eimer Farbe vor die Haustüre gekippt. Hegten Sie gegen Andy Warhol einen besonderen Groll?

Ich war auf Krawall gebürstet, ein Hitzkopf. Außerdem konnte es sich Warhol leisten, die rote Farbe wegmachen zu lassen.

Kannten Sie ihn denn?

Nein. Wir waren zwar einmal im selben Raum in New York, aber Warhol hatte ja ständig seine Rasselbande um sich, all die Taugenichtse und Möchtegerns. Eigentlich wollte ich ihn ansprechen, von Underground-Filmemacher zu Underground-Filmemacher. Aber dieses Spektakel war mir dann zu doof. Zumal Warhol dafür bekannt war, ohnehin nur „Yes“, „No“, „Really“ und „Amazing“ zu sagen.

War das während der Zeit, als Sie Scorpio Rising in New York drehten?

Nein, später. Als ich Scorpio Rising drehte, hatte Warhol noch keinen Schimmer von Filmen.

Der Film entstand lange vor Easy Rider, lange vor Hell’s Angels von Hunter S. Thompson, lange bevor die Jungs auf den schweren Maschinen zu Outlaws und Helden der Gegenkultur wurden.

Er symbolisiert auf eine Art den Anfang all dessen. Ich kannte die ersten Heils Angels, und die waren keineswegs so degeneriert wie die Saat, die sie säten. Die Jungs im Film, meine Jungs, waren geradezu unschuldig, verglichen mit der späteren Brut. Sie arbeiteten tagsüber auf dem Fulton Fish Market, dem örtlichen Fischmarkt, und steckten jeden Cent in ihre handgefertigten Feuerstühle.

Im Film schneiden Sie gekonnt zwischen Motorradaufnahmen, Hakenkreuz- und Passionsbildern umher. Hat sich darüber nie jemand beschwert?

Wer sollte sich beschweren?

Vielleicht irgendwelche Nazis. Eine Motorradgang. Oder ein paar aufgebrachte Christen, denen der Zusammenhang zwischen Rockern, Hakenkreuzen und dem Heiland nicht sofort einleuchten will.

Naja, gerüchteweise haben sich ein paar Nazis anonym bei irgendeiner Behörde in Los Angeles tatsächlich wegen des Films beschwert. Sie monierten, ich habe ihre Flagge besudelt. Aber das war Kokolores. Und die christlichen Aufnahmen, entliehen einem Film namens The Last Journey To Jerusalem, landeten durch einen obskuren Zufall in meinem Briefkasten. Stellen Sie sich das mal vor: Der Film einer Kirchengruppe im Briefkasten von Kenneth Anger! Man könnte behaupten: Eine göttliche Fügung. Vielleicht war es auch nur ein sehr guter Witz eines Freundes. Wie dem auch sei - mir gefiel die Parallele zwischen Heiland, seinen Jüngern und der Motorradgang. Irgendwann bekamen jedoch ein paar Nonnen aus Los Angeles Scorpio Rising zu Gesicht…

…und die drohten, Sie ins ewige Höllenfeuer zu stoßen?

Nein. Die Damen fanden es okay, wie ich die Aufnahmen verwendet habe. Sie meinten, mein Film sei auf eine Art auch sehr religiös (lacht). Die Nonnen bedankten sich sogar bei mir dafür.

Herr Anger, der dritte Teil von Hollywood Babylon ist seit mehr als zehn Jahren angekündigt. Es gibt eine Menge Leute, die sich darauf freuen würden, das jüngste Gerücht von Ihnen serviert zu bekommen.

Ein schönes Kompliment. Leider glaube ich nicht daran, dass die Kapitel, die ich schon lange fertig habe, jemals das Licht der Welt sehen werden. Meine Anwälte raten mir davon ab.

Wieso das?

Ach, etliche Dinge, die ich schreiben würde, sind ziemlich heikel. Beispielsweise das Kapitel über Tom Cruise und Scientology. Ich habe das gründlich recherchiert, mit vielen Menschen gesprochen, ich kann erklären, warum Tom Cruise und John Travolta solch enthusiastische Vollidioten im Dienste dieser Sekte sind. Aber es sind Vollidioten mit einer Armee von Anwälten. Irgendwie ist das Ganze ohnehin ein trauriger Verein. Wen haben die schon groß geködert? Außer Tom Cruise, Karen Black und John Travolta? Und die werden immer älter - Tom ist mittlerweile schon jenseits der 50! Wissen Sie, letztendlich bin ich Underground-Filmemacher. Kein Romancier, kein Regisseur für Musikvideos. Ich habe die amerikanische Avantgarde erfunden. Ich bin Kenneth Anger!