In den Händen der Frau

von 
Portrait
zuerst erschienen am 26. September 2013 auf Zeit Online
Er ist der Erfinder tragbarer Sexyness, er hat Leder und Lycra in die Mode eingeführt: Azzedine Alaïa, der Stoffbildhauer. Nun feiert ihn Paris mit einer Retrospektive.

Als Azzedine Alaïa 1985 vom französischen Kulturministerium als Designer des Jahres ausgezeichnet wird, trägt ihn Grace Jones über die Bühne. Dem Supermodel Farida Khelfa springt er auf einer legendären Modefotografie seines Freunde Jean-Paul Goude aus demselben Jahr in die weit geöffneten Arme. Azzedine Alaïa lässt sich gern von Frauen tragen. Und die Frauen tragen gern Alaïa.

In den Achtziger Jahren trug jede Frau, die es sich leisten konnte, die Mode des französischen Designers mit den tunesischen Wurzeln. Bis heute ist es so geblieben. Alaïa hat etwas, das ihn von allen anderen zeitgenössischen Modeschöpfern abhebt: Seine Silhouette hat sich über die Jahrzehnte nicht verändert. Er muss sich nicht jede Saison neu erfinden. Azzedine Alaïa hat den perfekten Rock, das perfekte Kleid, den perfekten Mantel schon vor Jahren entworfen. An diesen Silhouetten bleibt er dran, macht sie nur noch besser, präziser, sinnlicher, mal aus Leder, mal aus Strick, mal aus Jersey. Alaïa ist der letzte echte Couturier in Paris.

Jeder Entwurf geht durch seine Hände, jedes Stück entsteht an einer Frau. Um die Bewegung seiner Entwürfe zu sehen, hat Alaïa immer ein Model zur Anprobe bei sich, das auch in seinem Haus in der Rue du Moussy wohnt. Hier wird jedes Kleidungsstück handgefertigt. Mögen sich die Lagerfelds und Pradas da draußen in der kommenden Woche mit Modenschauen in Popkonzertgröße gegenseitig übertrumpfen, Alaïa veranstaltet keine öffentlichen Defilees. Er macht keine Werbung. Nur wenige Magazine bekommen seine Kleider für Fotos. Aber in der Luxusmodeabteilung von Barneys in New York ist er der meistverkaufte Designer.

Als Schneider und Haushälter kommt er nach Paris

Das Jahr 2013, es ist Alaïas großes Jahr. Am kommenden Samstag wird er seine zweite Boutique in Paris eröffnen, in der Nummer 5 Rue de Marignon. Am gleichen Tag eröffnet das Modemuseum Palais Galliera nach vier Jahren wieder, mit einer großen Retrospektive. Sie hat den Titel ALAÏA, fünf große Buchstaben und eine ganze Welt. Zum ersten Mal wird Alaïa, 73, in seiner Wahlheimat Paris so geehrt. „Es ist ein Signal der Stadt Paris und des Modemuseums, die Unabhängigkeit der kompromisslosen Kreativität zu ehren“, sagt der Direktor Olivier Saillard. Alaïa sein, bedeutet radikal, höflich, witzig, großzügig zu sein und vor allem unbestechlich.

Als Kind von Weizenbauern wird Alaïa im Jahr 1940 in Tunesien geboren, die Familienverhältnisse sind bescheiden. Seine Zwillingsschwester, Hafida, ist diejenige, die sich für Mode interessiert und bringt dem jungen Azzedine das Nähen bei. Mit Siebzehn schafft es Alaïa auf die Kunsthochschule und studiert Bildhauerei. Nach seinem Studium arbeitet er jedoch als Schneiderlehrling, der Sprung nach Paris gelingt ihm als Haushälter und Hausschneider der Comtesse de Blégiers.

Sie führt Alaïa in die Pariser Haute-Volée ein und stellt ihm die Reichen, die Berühmten, die Glamourösen vor: Greta Garbo, Marlene Dietrich und die Rothschilds werden seine ersten, privaten Kundinnen. Alaïa beginnt für Christian Dior zu arbeiten, später ist er bei Guy Laroche und Thierry Mugler. Im Jahr 1980 eröffnet Alaïa schließlich sein eigenes Atelier in seiner Wohnung.
Die Klarheit seiner Entwürfe sorgt sofort für Aufmerksamkeit - die Mäntel in Prinzesslinie, seine Röcke und Kleider, hauteng geschnitten wie jene von Eiskunstläuferinnen, sein Strick, der anliegt wie eine zweite Haut. Sein größter Triumph: In einer Zeit, in der nur Prostituierte Leder tragen, führt Alaïa Leder in die Haute Couture und in die Prêt-à-Porter ein. Mit Wasserdampf macht er das Material geschmeidig und formt es direkt am Körper seines Modells. Die dramatischen Corsagen und Kleider, die so entstehen, überzeichnen die weibliche Silhouette. Alaïa zeigt den Körper der Frau, wie er noch nie zuvor zu sehen war.

Azzedine Alaïa wird einer der einflussreichsten Designer der achtziger Jahre. Die Supermodels Naomi Campbell und Stephanie Seymour arbeiten eng mit ihm, gemeinsam mit Jean-Paul Goude erschafft Alaïa die Kunstfigur Grace Jones. Sein Stil prägt eine ganze Dekade, von den Stretchkleidern Tina Turners bis zu den Lederrüstungen auf nackter Haut in Mad Max.

Mitte der Neunziger zieht sich Alaïa plötzlich zurück. Seine Zwillingsschwester Hafida stirbt und Alaïa verlässt das Rampenlicht. Ihm gehört mittlerweile ein beachtlicher Häuserblock in der Rue du Moussy im Pariser Stadtteil Marais, dorthin lädt er von nun an zu seinen Präsentationen. Fernab des Schauenrhythmus zeigt er seine Mode nur noch privaten Kundinnen und Freundinnen.

Die Frau und ihre Silhouette begreifen

Bis heute ist die Rue du Moussy sein Zuhause und sein Arbeitsplatz. Die bislang einzige Boutique, sein Atelier, der Showroom, das Studio für private Kundinnen und ein Drei-Zimmer-Hotel, in dem er seine Freunde beherbergt - alles passiert unter einem Dach. Alaïa ist immer dort. Wenn er nicht oben in seinem Atelier arbeitet, ist er in der Boutique oder unterhält Gäste in der Küche. Die Küche ist das Herz der Rue du Moussy. Jeden Tag bereitet der Koch des Hauses ein Mittagessen und ein Abendessen zu, für Alaïa, die rund achtzig Mitarbeiter und seine Gäste.

Auch die Idee zur Ausstellung im Palais Galliera ist in dieser Küche entstanden. Zwei Jahre lang wurde sie in der Rue du Moussy vorbereitet. Knapp 70 Kleider wählte Alaïa für die Retrospektive aus seinem Archiv, er ließ die Puppen für das Museum extra anfertigen, kontrollierte jedes Detail. Vier Tage dauerte am Ende der Aufbau der Schau, der Meister war die ganze Zeit selbst vor Ort.

In fünf Räumen werden die 70 Silhouetten gezeigt, im gedämpften Licht, daneben hängen sehr große Tafeln, die haarklein eine beispiellose Karriere erklären. Alles was man über Mode wissen muss, kann man in dieser Ausstellung lernen. Präzision, Konzentration, Perfektion, Reduktion und vor allem: Wie wichtig es ist, die Frau und ihre Silhouette zu begreifen und zu versuchen, sie durch Kleider noch wunderbarer erscheinen zu lassen. Was offensichtlich klingt, wird heute von fast niemandem mehr gemacht. Während Alaïa von Hand seine Silhouetten formt, denkt er an nichts anderes als die Frau. „Zuerst setze ich mich mit dem Stoff auseinander“, sagt Alaïa. „Ich schneide ihn und denke über die Form nach, die ich ihm geben will. Als nächstes drapiere ich ihn an der Frau, um zu sehen, wie er fällt, und denke wieder nach. Ich mache jedes einzelne Teil mit meinen eigenen Händen. Einen schönen Rock pro Saison zu entwerfen, das allein ist schon ein Wunder. Wenn es dir gelingt einen Mantel zu entwerfen, den Frauen begehren, hast du gewonnen.“

Azzedine Alaïa hat gewonnen. Jedes einzelne Teil in der Ausstellung wirkt, als sei es von heute, zeitlos modern. Die sehr kurzen, hautengen, drapierten Lederröcke, die schmalen Jersey-Tops, das weltberühmte Schlauchkleid mit den Reißverschlüssen, die sich wie eine Schlange um die eigene Silhouette winden. Die Kleider, die Grace Jones beschwören, schmal und lang mit einer Kapuze, das Lederkostüm mit Nieten versehen. Auch die Farbpalette zeigt die Kompromisslosigkeit von Alaïa. In über 40 Jahren benutzte er nie eine andere Fabre als Weiß, Schwarz, Puder oder Crème. Nicht eine einzige Überflüssigkeit findet sich an diesen Kleidern. „Ich konzentriere mich nur auf die Kleider die ich entwerfe. Ich frage mich: ‚Warum mache ich Kleidung?‘ Es gibt stets nur einen guten Grund“, sagt Alaïa, „damit die Frau noch schöner aussieht. Ich mag keine Dekorationen, außer an Frauen. Ich kalkuliere nie. Ich denke nur an Frauen, während ich entwerfe. Ich verdanke ihnen alles – meinen ganzen Erfolg.“ Von den 50 geladenen Gäste, die bereits am Mittwochmorgen zur Vorschau der Retrospektive im Palais Galliera erscheinen, tragen 25 Alaïa-Kleider, die schönsten aller Zeiten. Es gibt Applaus und Tränen. Die engen Vertrauten, die berühmten Freundinnen, die eleganten Kundinnen – sie werden ihn, den größten Couturier von Paris, auch in Zukunft auf Händen tragen.