Der King of Kunst oder auch „The Boy is a Genius“

von 
Protokoll
zuerst erschienen im März 2013 in The Germans Nr. 3, S. 39-49

Johann König ist ein hungriger und durstiger junger Mann. Außerdem ist er ein großartiger Tänzer, ein Expressionist. Er ist 32 Jahre alt und hat drei Kinder von zwei Frauen. Sein erster Sohn Franz Willi ist sieben, seine Tochter Rita Olivia ist vier Jahre alt und Max Karl wurde letzten November geboren. König selbst ist in ähnlichen Familienverhältnissen groß geworden, als jüngster Sohn des Kunstprofessors und Kurators Kasper König und als einziges Kind der Schauspielerin und Illustratorin Edda Köchl. Johanns Halbgeschwister Leo, Coco und Lili stammen aus Kasper Königs erster Ehe.

Die Königs sind in Deutschland berühmt, zumindest in Kunstkreisen. Onkel Walter ist ein großartiger Buchhändler. Vater Kasper ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Kuratoren der Bundesrepublik und war bis vor Kurzem Direktor des Museums Ludwig in Köln. Bruder Leo ist Galerist in New York. Mit einem solchen familiären Hintergrund überrascht es kaum, dass Johann Galerist ist. Doch. Mit zwölf Jahren verliert Johann König durch einen Unfall einen Großteil seines Augenlichts. Neun Jahre später eröffnet er auf eigene Faust in Berlin seine erste Galerie.

Zum zehnjährigen Jubiläum der Galerie Johann König protokolliert Jina Khayyer Teile seiner unvollendeten Biografie, die auch eine Zeitreise durch die moderne Kunstgeschichte ist.

Gerhard Richter, Tennisturnier, Wasserspfeife

Ich bin im Juli ’81 in Köln geboren, das damals ja so etwas wie der Kunstnabel der Welt war. Eine meiner Schwestern ist auch in Köln geboren, aber meine anderen beiden Geschwister kamen in New York zur Welt. Vor meiner Geburt hat mein Vater in Amerika gelebt und mit Warhol gearbeitet. Dann kam er zurück nach Deutschland, wo er meine Mutter kennenlernte.

In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, hat mein Vater gerade diese große Ausstellung in Köln gemacht - Westkunst. Es war eine der ersten Biennale-ähnlichen Großausstellungen. Wir lebten dann zuerst in Köln. Mein Vater hatte eine Professur für Kunst im öffentlichen Raum in Düsseldorf und war gleichzeitig als freier Kurator tätig. Meine Mutter arbeitete als Illustratorin für die Zeitschrift Twen und die britische Times. Sie hat ja auch eine ganz spannende Geschichte. Bevor sie meinen Vater kennenlernte, war sie mit Wim Wenders verheiratet. Sie hat in den ganz frühen Wenders-Filmen mitgespielt.

Meine Kindheit war total super. Wir haben direkt an einem Park gewohnt. Der Kindergarten lag mitten im Park und ich hatte einen sehr engen Freund im Haus, Jens.
Interessant ist, an welchem Punkt Kunst zum ersten Mal in mein Leben spielte. Ich erinnere mich an eine Diskussion, die ich mit einer Babysitterin hatte. Sie behauptete, sie könne ein sehr abstraktes Gerhard-Richter-Bild, das bei uns hing, ganz genau so malen, da würde man keinen Unterschied sehen. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt und versuchte ihr zu erklären, dass das nicht so ist. Und dass es auch darum geht, wer so ein Bild zuerst malt, und nicht, wer es nachmalt. Das war eine ganz absurde Geschichte mit ihr. Sie wohnte schräg gegenüber von uns und rauchte immer Wasserpfeife, den ganzen Tag. Ihre Wasserpfeife war mit bunten Bläschen bedruckt. Wenn sie auf mich aufpassen sollte, haben wir im Fernsehen zusammen Tennisturniere geguckt und sie hat Wasserspfeife geraucht. Das sind so die ersten Bilder, die mir im Kopf geblieben sind: Gerhard Richter, Tennisturnier, Wasserpfeife.

Mein Vater ist kein wirklicher Sammler, die Sachen haben sich einfach angehäuft. Wir lebten damit, deshalb wurde auch dementsprechend sorglos mit den Kunstwerken umgegangen; sie wurden so behandelt, wie man alle anderen Sachen auch behandelt - ohne besondere Vorsicht. Prägnant ist diese Brillo Box von Andy Warhol, die bis heute im Haus meines Vaters als Fernseh-Sockel dient. Eine andere Sache, die sich mir schon als Kind eingeprägt hat, ist ein Gemälde von John Wesley, das ganz viele Chinesen zeigt. Und die Datumsbilder von On Kawara.

Kawara ist ein ganz enger Freund meines Vaters; meine Schwester ist nach seiner Frau benannt. Für mich ist Kawara immer schon eine wichtige Figur gewesen; in meiner Kindheit vor allem durch seine Präsenz und später, als ich älter war und selbst mit Kunst arbeitete, dann auch inhaltlich. Ich habe ihn mal zu überreden versucht, mein Geburtsdatum zu malen. Damals hatte ich noch nicht realisiert, dass er immer nur das Datum des aktuellen Tages malt. Das ist quasi das Konzept. Es geht ihm dabei um die Bewältigung des aktuellen Tages. Von meinem Geburtstag gibt es kein Bild, aber er hat mir den 25. Januar 1980 geschenkt; das war damals das einzige noch nicht verkaufte Datum.

Die Bewältigung des aktuellen Tages wurde metaphorisch später auch mein Thema, nach meinem zwölften Lebensjahr, nach meinem Unfall.

069 Frankfurt

Als ich acht Jahre alt war, zogen wir nach Frankfurt. Mein Vater wurde zum Direktor an der Städelschule berufen. Ich glaube aber, dass für ihn die Gründung des Portikus viel wichtiger war. In dieser neuen Ausstellungshalle in Frankfurt wollte er kleine, aber wichtige Einzelausstellungen machen.
Im Prinzip war unser Leben für mich als Kind sehr normal. Erst aus einer späteren Perspektive wird es besonders. Ich habe nie gedacht: Wow, da sitzt ein großartiger Künstler bei uns auf dem Sofa. Aber als wir in Frankfurt lebten, bekam ich schnell das Gefühl, dass bei uns zu Hause etwas anders ist als bei meinen Mitschülern. Vor allem meine Grundschullehrerin hatte damit Probleme, glaube ich. Mein Vater hatte zum Beispiel Hermann Nitsch als Professor nach Frankfurt berufen, was sehr stark kritisiert wurde. Frankfurt ist einfach keine Kunststadt.

Meine erste Schule in Frankfurt war eine Privatschule, da habe ich mich gar nicht wohlgefühlt. Alle anderen Kinder kamen aus dem Taunus und wurden mit dem Porsche in die Schule gefahren. Ich habe nebenan gewohnt. Das ist eben dieser typische Pragmatismus meiner Eltern, die sich sagten: Die Schule nebenan kostet zwar Geld, ist aber praktisch. Besser wurde es dann, als ich auf die Bettinaschule Frankfurt kam, ein staatliches Gymnasium und eine tolle Schule. Moses Pelham ist auch dort hingegangen.

On Kawara am Küchentisch, Gerhard Richter auf der Couch

Für mich ist es interessant zu sehen, welche Relevanz beispielsweise Gerhard Richter heutzutage hat und mit welcher Verehrung ihm die Menschen inzwischen begegnen. Er war ja oft bei uns zu Hause, gut mit meinem Vater befreundet und immer sehr nett zu mir. Als ich letztens für meine Kinder Kassetten sortiert habe, habe ich eine Indianergeschichten-Serie gefunden, die Richter mir immer mitgebracht hatte. Die hört heute mein Sohn.

Oder wenn ich heute Wolfgang Tillmans treffe und er anfängt, mir Geschichten zu erzählen, wie ich als Kind gewesen sei. Tillmans hat 1992 bei meinem Vater in Frankfurt im Portikus ausgestellt, es war meines Wissens seine erste Ausstellung überhaupt. Er kennt mich besser als ich ihn. Ich kenne ihn zwar auch gut, aber er kennt mich als Kind. Als Wolfgang zum Beispiel seine erste Ausstellung im Portikus hatte, hab ich wohl immer This is the rythm of my life. Oh yeah… gesungen. Jedenfalls hat er mir das letztens in Zürich erzählt. Ich kann mich nicht erinnern, aber das stimmt bestimmt. Das war ja damals ein großer Hit.

Bemerkenswert war auch Martin Kippenberger, der uns manchmal zu Hause besuchte und sich einfach immer extrem auffällig verhielt. Und Kawara natürlich. Er war oft da und malte bei uns seine Bilder. Manchmal wohnte Kawara auch bei uns oder wir waren mit seiner Familie zusammen in Wien für zwei Wochen und dann hat er sich an den Küchentisch gesetzt und gemalt. So ein Bild zu malen, dauerte sechs oder sieben Stunden. Das war schon sehr besonders, diese Ruhe zu beobachten. Wie gesagt, für ein Kind ist das alles zwar aufregend, aber nicht ungewöhnlich. Ich kannte es nicht anders.

Meine Eltern haben mir Kunst nie erklärt. Sie haben mich einfach meine eigenen Wahrnehmungen machen lassen. Als ich zehn oder elf war, sind wir zum Beispiel zu diesem Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch gefahren. Nitsch kam wie ein Dorfpastor gekleidet auf einem Motorroller und ist vorneweg gefahren. Das fand ich schon ziemlich absurd. Manchmal hat es mich natürlich auch tierisch genervt, immer in diese Museen gehen zu müssen. In jedes Scheiß-Museum, sogar im Urlaub.

Urlaub sah bei uns so aus: Wir fuhren entweder mit dem Zug nach Frankreich oder nach Spanien und auf dem Weg besichtigten wir immer etwas. Aber einmal habe ich allein mit meinem Vater eine tolle Reise gemacht. Wir sind zu zweit nach New York gefahren und haben uns den Tag geteilt: Für die eine Hälfte war er zuständig, für die andere ich. Das war, als ich vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt war, nach meinem Unfall. Toll war, dass unsere Tageshälften ineinander übergingen. Ich fand seinen Tag gut, wenn wir Jeff Koons in seinem Atelier besuchten, und er fand meinen Tag gut, wenn wir rauf aufs World Trade Center oder raus zur Statue of Liberty fuhren.

Bei mir und meinen Kindern ist das heute nicht anders. Ich gehe mit ihnen in „Tommys Tobewelt“ und nehme was für mich mit. Es erinnert mich ein bisschen an Veranstaltungen, die ich gelegentlich beruflich besuchen muss. Dieser ganze Kunstmessezirkel ist im Grunde nichts anderes als Tommys Tobewelt.

Die Bewältigung des aktuellen Tages Teil 1

Ich habe mit einer Startschuss-Pistole für Wettrennen gespielt. Als ich abgedrückt habe ist der Lauf geplatzt und die Pistole ist kaputt gegangen. Dann habe ich die Patronen – das waren so Styroporkugeln mit einem Schwarzpulvergemisch - aufgebrochen und auf den Boden geworfen. Ich habe damals immer irgendetwas gesammelt und in Kisten verstaut und wenn mir langweilig war, habe ich die Sachen umgeschichtet, von einer Kiste in die andere. Ich habe die Kügelchen vom Boden aufgesammelt und in eine Anglerbleidose gesteckt. Beim Füllen der Dose muss eine Reibung entstanden sein - jedenfalls ist die Dose explodiert. Die Splitter sind in meine Augen geflogen. Mein Gesicht wurde zerstört, die Hornhaut und die Netzhaut in beiden Augen wurden zerschnitten und meine Hand wurde aufgesprengt. Ich war zwölf. Und dann ging es los.

Ich war ewig lange im Krankenhaus. Ganz viele Operationen. Ich konnte überhaupt nichts mehr sehen und es war nicht klar, ob sie mein Augenlicht überhaupt noch retten können. Dann haben sie eine Notoperation gemacht und mir eine fremde Hornhaut eingesetzt. Danach konnte ich wieder ein bisschen sehen, doch dann hat sich die Hornhaut wieder eingetrübt - daneben hatte ich noch die ganzen Operationen an der Hand. Zwischendrin hatten sich meine Augen stabilisiert, aber im Grunde war es ein stetiges auf und ab, bis vor fünf Jahren. Mal habe ich die Hornhaut angenommen, dann konnte ich wieder ein bisschen sehen, mal habe ich sie abgestoßen und nichts gesehen.

Das war schon krass, plötzlich nichts mehr zu sehen. Du bist es gewohnt, morgens aufzuwachen, die Augen aufzumachen und zu sehen. Und plötzlich ist es schwarz, manchmal gibt es ein bisschen Licht, manchmal ist alles im Nebel. Da fragst du dich schon: Was mache ich jetzt damit? Gebe ich mich jetzt auf? Oder mache ich das Beste daraus?

Wenn mir das erst später passiert wäre, als ich schon älter war… puh. Ich habe im Reha-Zentrum in Marburg erlebt, wie hart das für Erwachsene ist: Ein Schreiner, der plötzlich blind wird, verliert alles. Er kann nicht mehr zur Arbeit gehen. Die Frau trennt sich. Er kann nicht mehr alleine pinkeln gehen, obwohl man dafür nicht mal sehen muss. Aber er ist das Sehen so gewohnt, dass er das nicht mehr hinkriegt. Es gab für mich gar keine Alternative. Ich musste das Beste daraus machen. Ich wusste, ich komm da eh nicht raus.

Ein Jahr nach meinem Unfall kam ich in Frankfurt auf die Sehbehindertenschule, die aber nicht nur für Sehbehinderte war. Alle Behinderten wurden zusammengefasst: Spastiker, geistig Behinderte, Sehbehinderte. Damals gab es noch dieses Konzept der Integration, nach dem alle Behinderten zusammengefasst wurden. Das aktuelle Konzept der Inklusion, wo Behinderte ganz normal im Unterricht mitmachen, finde ich allerdings noch viel problematischer. Sie müssten eigentlich alle individuell ausgebildet werden. Außerdem kommt man total schlecht drauf. Eigentlich ist man ja ein cooler Typ, dann verliert man sein Augenlicht und findet sich auf einer Behindertenschule mit Spastikern und geistig Behinderten wieder. Und die Spastiker haben auch nichts davon. Es ist ja nicht so, dass sie nichts können, aber sie brauchen eben eine individuelle Förderung.

Meinen Eltern wurde klar, dass diese Schule keine Perspektive für mich war. In Marburg gibt es eine sehr gute, auf Sehbehinderte spezialisierte Schule, auf der man ein ganz normales Abitur machen kann. Meine Mutter hat sich sehr schwergetan mit dem Schulwechsel, sie wollte mich in Frankfurt behalten. Aber mit 14 ging ich dann doch nach Marburg.

Blindenschrift kann ich ein bisschen lesen, aber ich wollte das nie wirklich lernen. Ich kam mit den Computer-Hilfsmitteln besser klar. Außerdem finde ich Blindenschrift keine gute Form, weil sie absolut homogen ist. Kommunikation sollte aber in alle Richtungen funktionieren. Ich konnte bald mit riesigen siebeneinhalb Zentimeter großen Buchstaben am Bildschirm lesen.

Das Abitur habe ich mit minimalem Aufwand geschafft. Und dann habe ich sofort danach meine Galerie in Berlin eröffnet.

Die Bewältigung des aktuellen Tages Teil 2

Ich habe alle Erfahrungen gemacht, die ein Pubertierender machen muss. Aber es hätte ruhig mehr sein können; mein Selbstbewusstsein war damals noch nicht so ausgeprägt.

Meine erste Freundin hatte ich sogar schon vor meinem Unfall, mit zwölf - Händchen halten, knutschen. Sie war älter als ich und hieß Sandra. Mein bester Schulfreund damals war Frank. Und eines Tages kommen die beiden mich im Krankenhaus besuchen und sind ein Paar. Wie das eben so ist - Kinder können total erbarmungslos sein.

Am Anfang hatte ich noch eine Bindung zu meinen früheren Schulkameraden, aber die brach dann allmählich ab. Was will man auch mit so einem Typen machen? Ich war ja schwer verletzt, meine Hand wurde durch eine Drahtkonstruktion zusammengehalten, ich war blind.

Ich musste mir meine Freiheit erst wieder erkämpfen. Ich hatte keine Lust, von diesem Fahrdienst abgeholt zu werden. Ich war früher alleine in die Schule gegangen und ich wollte wieder alleine in die Schule gehen, mit der U-Bahn fahren und so. Ich kannte ja den Weg und habe dann gelernt, mit dem Blindenstock zu gehen. Ich hatte den Wunsch, möglichst bald wieder eigenständig Sachen zu machen. Aber ich habe wahnsinnig gelitten. Ich musste ganz starke Medikamente einnehmen, darunter hochdosierte Kortison-Tabletten, und habe extrem zugenommen. Mit 13 Jahren brachte ich 100 Kilo auf die Waage. Das war ganz schlimm; ich konnte nicht sehen, ich konnte meine Hand nicht richtig bewegen und ich war wahnsinnig fett geworden. Das war so ziemlich das Schlimmste, was einem pubertären Kind passieren konnte.

Mein Vater versuchte, mich zu ermutigen und mich aus meiner Starre herauszuholen. Meine Mutter wollte meine Schonzeit immer verlängern und bemühte sich sehr um mich. An diesem Punkt kam ich ins Schwanken: Sollte ich mich aufgeben? Es gibt ja Blindengeld und genügend Versorgungsmöglichkeiten. Ich könnte ja auch einfach nichts machen. Ich könnte vom Blindengeld, von der Sozialhilfe und mit ein bisschen Zuwendung von den Eltern leben.

Nachdem ich das Fernsehprogramm auswendig konnte, fing ich an, Hörbücher zu hören. In Marburg gibt es eine Bibliothek, von der man sich Kassetten zuschicken lassen kann. Und so habe ich die ganze Weltliteratur auf Kassette gehört. Das war gut. Das war alles noch in Frankfurt.

In Marburg war ich sehr weit weg von allem, auch von meinen Eltern. Ich hatte sogar eine Assi-Kids-Phase und hing mit den ganzen Prollkids zusammen rum. Da waren auch die besseren Mädchen. Wir machten das, was Prollkids heute noch machen, vor dem Kaufhaus rumhängen - ziemlich bescheuert.

Abgenommen habe ich erst viel später. Ich hatte auch immer wieder Operationen. Seit fünf Jahren sind meine Augen stabil. Wunder der Forschung. Es gibt ein neues Transplantationsverfahren und neue Medikamente. Die Dicke der Brillengläser hängt mit meinen nicht vorhandenen Pupillen zusammen. Durch die Explosion sind meine Pupillen weggeflogen und die Brille ersetzt meine Pupillen. Meine Augen können zum Beispiel hell und dunkel nicht mehr regulieren. Meine Pupillen sind also immer gleich stark geöffnet.

Johann König, der erste halb blinde Galerist der Bundesrepublik, wenn nicht der Welt

Ich kannte Berlin nicht. Ich war zuvor nur einmal dort, aber ich dachte, es könnte spannend sein, in der neuen Hauptstadt etwas aufzubauen. Ich wollte mit Künstlern arbeiten und ich wollte sofort arbeiten. Aber ich war ja blind. Da kam nur eine eigene Galerie in Frage.

Während meiner Schulzeit in Marburg verbrachte ich die Wochenenden immer in Frankfurt. Da habe ich jeden einzelnen Kunstscheiß besucht; Lesungen, Ausstellungen.

Nach meinem Unfall und bis ich etwa 16 Jahre alt war, hielt ich ja Distanz zur Kunst, aber danach fing ich wieder an mich für eigene Sachen zu interessieren, die nichts mit meinem Vater zu tun hatten. Ich wollte die Welt jenseits dessen kennenlernen. In dieser Zeit spielte Nikolaus Schaffhausen, der damals Direktor am Frankfurter Kunstverein war, für mich eine sehr wichtige Rolle. Er bot mir damals an, Assistent bei ihm zu werden. Dass ich gar nichts sehen konnte, machte seiner Meinung nach nichts aus. Er meinte das sehr ernst, er wollte sich vor allem austauschen. Gleichzeitig bekam ich auch das Vertrauen der Künstler. Ich hatte unter anderem Jeppe Hein kennengelernt, der in Frankfurt studierte und später auch einer meiner ersten Künstler wurde. In dieser Zeit habe ich gemerkt, ich will etwas mit Künstlern machen und ich will Projekte entwickeln. Mein entscheidender Antrieb waren die Inhalte. Und dafür brauchte ich ein Forum.

Ich habe auch ein paar Vorlesungen in Kunstgeschichte besucht, aber die haben mich gar nicht angesprochen. Ich interessierte mich für Figuren wie Marcel Duchamp. Und bei den Kunstgeschichtsvorlesungen hörst du bei Marcel Duchamp auf. Ich habe das dann nicht weiter verfolgt. Mir geht es um lebende Künstler und die Zukunft und weniger um die Vergangenheit. Außerdem hatte ich schon ein gewisses kunsthistorisches Verständnis.

Meine erste Galerie war insgesamt 80 Quadratmeter groß und befand sich am Rosa-Luxemburg-Platz gegenüber von der Volksbühne. Die Eröffnung war 2002, da war ich 21 Jahre alt. Ich habe relativ spät Abitur gemacht, weil ich aufgrund meiner Krankheit ein Jahr aussetzen und dann noch ein Jahr wiederholen musste.

Mein Galerieprogramm stand von Anfang an fest und hat sich bis heute nicht geändert: Ich will mit Künstlern meiner Generation arbeiten. Mit Künstlern, die eine Position einnehmen, die mit unserer Gesellschaft zu tun hat. Die eine Kunst propagieren, die man erfahren muss. Eine Kunst, die man in ihrer Gesamtheit erleben muss. Das ist mit Malerei zwar auch so, aber eine Installation von Helen Marten musst du ganz erleben und eigentlich willst Du sie anfassen.

Ich habe mich weder mit meinem Vater noch mit meinem Onkel noch mit sonst jemandem ausführlich beraten. Aber das Startkapital von 20 000 Euro stammte von meinem Onkel. Er ist sehr wichtig für mich. Mich beeindruckt, dass er ein Kaufmann und Geschäftsmann ist und dass er das macht, was er wichtig findet und was ihn interessiert, und damit auch noch wirtschaftlich erfolgreich ist. Das ist natürlich das Ideal und deshalb bin ich auch dankbar für den Beruf, den ich habe.

Mein Vater ist auch ein Held und auch erfolgreich, aber mein Vater interessiert sich überhaupt nicht für Geld. Mein Onkel, der Kaufmann, liebt es, zehn Bücher wegzustellen und zu wissen, dass er in zehn Jahren damit Profit macht. Mein Vater hat sich so oft übers Ohr hauen lassen. Als ich mit ihm einmal einen Film über Gerhard Richter angeschaut habe, sagte er immer: Ach, das Bild hatte ich mal. Und das hatte ich auch mal. Es ging um die ganzen frühen Bilder der 60er-Jahre. Insgesamt gehörten ihm mal 25 Bilder von Gerhard Richter. Damit könntest du heute ganz Berlin kaufen. Die hat er sich einfach von irgendwelchen Kunsthändler abluchsen lassen. Aber das interessiert meinen Vater überhaupt nicht. Das macht ihm auch nichts aus.

Der Durchbruch

Erst die dritte Ausstellung, die ich mit Jeppe Hein gemacht habe, war ein Erfolg. Und das war das riskanteste Projekt überhaupt. Mein Vater und auch mein Onkel hatten mir zuvor geraten, kein Risiko einzugehen, kleine Formate anzubieten, die man auch verkaufen kann, und niemals in die Produktion zu investieren. Bei Jeppes Ausstellung zerstörte eine riesige Kugel meine Galerie. Bingo. Die Leute fanden das super. Und von da an habe ich nur noch Sachen gemacht, von denen ich selbst überzeugt war, die ich selbst auch kaufen würde, und das war dann auch die richtige Entscheidung.

Ich konnte selbst teilweise gar nicht sehen, was wirklich vor sich ging, aber mein Trigger sind die Inhalte. Das interessante ist ja, es geht nicht nur darum, es zu sehen. Es geht um mehr. Marcel Duchamp hat mal gesagt, ihn interessiert Kunst, wenn sie post-retinal ist, also nachdem sie die Netzhaut durchstoßen hat und im Gehirn ankommt. Bei Jeppe Hein ist natürlich die Kugel, die die Wand zerstört, nicht so schön; und auch bei Tatiana Trouvé ist der visuelle Eindruck nicht ausschlaggebend. Das Visuelle muss eine Qualität haben, sonst funktioniert es nicht. Aber am Ende geht es um die Gesamtwelt, die erzeugt wird.

Ich erinnere mich noch genau an mein erstes visuelles Erlebnis nach meiner finalen Operation vor fünf Jahren: Ich hatte immerhin fast 16 Jahre – also den Großteil der 90er-Jahre bis 2007/2008 – nicht wirklich viel gesehen. Schatten, Umrisse, manchmal gar nichts und manchmal alles wie durch einen trüben Nebel. Ich bin direkt nach dem Eingriff auf die Art Basel gefahren. Das hat mich vollkommen umgehauen. Ich kam mir vor wie in einem Comic, wo man nur noch Farbspiralen sieht. Es war eine komplette Reizüberflutung. Dieses Gefühl kennt man zwar auch als normal Sehender, aber für mich war es besonders krass und ich war auch völlig entsetzt über den ganzen Schund, den es gibt. Und über diese Masse. Meine letzten scharfen Bilder stammen ja aus den 80er- und den frühen 90er-Jahren, dann fast 16 Jahre nur Umrisse und jetzt – flash – Takashi Murakami. Als ich das zum ersten Mal sah, konnte ich nicht fassen, dass so etwas Kunst ist.

Happy Birthday 10 Jahre Galerie Johann König

Meine ersten Künstler waren Michaela Meise, Tue Greenfort, Jeppe Hein, David Zink Yi, Michael Salzdorfer, Tatiana Trouvé, Annette Kelm. Und die Jungen wachsen ran, wie die tolle Alicia Kwade und der jüngste Superstar Helen Marten.

Seit zehn Jahren mache ich das jetzt schon. Was schwierig ist in der Kunst, ist die Politik drumherum. Darauf möchte ich meine Energie nicht verschwenden. Stattdessen möchte ich neue Positionen finden und neue Konzepte entwickeln. Am meisten Spaß macht es, Karrieren wie die von Helen Marten zu begleiten. Entdecken kann man heutzutage sowieso nicht mehr. Es geht mehr ums Finden, Fördern, Managen und dann muss man es nur noch richtig kommunizieren.
Aber als nächstes konzentriere ich mich nicht auf neue Künstler, sondern auf die neue Galerie. Wir ziehen in eine Kirche nach Kreuzberg, die hoffentlich im September 2013 fertig wird. Diese Kirche ist der Hammer. Die brutalistische Architektur hat mich fasziniert. Und die räumlichen Bedingungen: Der eine Hauptraum ist so gigantisch, dass er selbst dann noch eine Höhe von zehn Metern hat, wenn ich eine weitere Decke einziehe. Das wird ein breathtaking space werden. Mich reizt auch die Möglichkeit der Veränderung, die die neuen Räume mit sich bringen werden. Wir waren schon in Berlin-Mitte, als der Bezirk noch längst nicht das war, was er heute ist. Dann sind wir an den Potsdamer Platz gezogen, der auch immer bourgeoiser wird, und jetzt fliehen wir wieder. Allerdings hoffe ich, dass wir diesmal vielleicht zwanzig Jahre bleiben.

Manchmal denke ich, ich habe mich ein bisschen übernommen. Aber ich lebe immer im Jetzt. Und jetzt, finde ich, läuft doch alles prima.

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