Das Bio-Kartell

Essay
zuerst erschienen am 6. April 2014 in Welt am Sonntag, S. 52
Der ominöse Lebensmittelkonzern Whole Foods hat große Teile des amerikanischen Bürgertums in die Abhängigkeit getrieben

Whole Foods – wie das Phänomen beschreiben? Wenn die Investmentbank Goldman Sachs eine „riesige Vampirkrake“ ist, wie die amerikanische Rolling Stone 2010 schrieb, „die sich um das Antlitz der Menschheit gewickelt hat, um ihren Bluttrichter in alles hinein zu bohren, das nach Geld riecht“, dann ist Whole Foods als delikater Sepia zu verstehen, von bärtigen Fischern mit der Hanfleine aus lokalen Gewässern gezogen, der seine Fangarme verständnisvoll über das blutende Herz der Gegenwart gelegt hat.

Lila Rosenkohl, lokale Käsereien, artgerechte Kaninchenhaltung, mit Nachhaltigkeit als Lokomotive und Nostalgie als Plattform am Heck – auf diesen Zug ist der gehobene Mainstream-Amerikaner mit einem derartigen Enthusiasmus aufgesprungen, dass die 340 Whole Foods-Filialen im letzten Jahr knapp 13 Milliarden Dollar umsetzten. „Früher hielt man uns für süß und kuschelig“, klagt Gründer und CEO John Mackey, „und heute gibt es diesen Darth Vader-Mythos, man erzählt sich, das Wachstum habe uns böse gemacht.“ Obwohl die Arbeit weniger Spaß mache, „wenn einen die Leute ständig als Arschloch beschimpfen“, ist Mackeys Expansionsdrang ungebrochen: 1200 Filialen, so lautet die offizielle Zielsetzung.

Die Strategie von Whole Foods beruht dabei auf jener Methode, die Niklas Maak in der FAZ „Zombifikation“ getauft hat. Damit ist die Nachahmung zwecks Kommerzialisierung eines Phänomens gemeint, dessen Wesen einer standardisierten Massenvermarktung meist zuwiderläuft – in diesem Fall hat man Wiedergänger des Bauernmarktes geschaffen. Deren Szenenbild erreicht eine beeindruckende Perfektion, vom Scheunenholz der Gemüseauslagen bis hin zur uniformen Unkonventionalität des Personals, die mit dem genormten Individualismus der Kundschaft korrespondiert. Ebenso wie Hut, Bart, Loft und Hosenträger dem erfolgreichen Steuerrechtler suggerieren: Auch Du kannst wie ein Künstler leben, stellt ihm Whole Foods die Befreiung aus seiner Entfremdung in Aussicht: Obwohl dein Dasein sich in einem Glasturm unter Neonlicht vor einem Bildschirm abspielt, flötet das Bio-Kartell, kannst Du im Einklang mit der Natur leben, mit altmodischen Hippie-Werten, die zwecks bequemerer Aneignung zur zeitgenössischen Ganzheitlichkeits-Attitüde der „core values“ von Whole Foods zombifiziert worden sind.

Zu diesen, so die Website, zähle auch die intime Verwobenheit jeder Filiale mit ihrer Nachbarschaft, was nicht gelogen ist: Eine Whole Foods-Filiale unterwirft sich ihre Umgebung ebenso nachhaltig wie eine Filiale des Großdiscounters Wal-Mart die ihre, nur auf gegensätzliche Weise. Allein die Ankündigung einer neuen Wal-Mart-Filiale sorgt dafür, dass in ihrem meist ländlichen Umkreis ein Großteil des Einzelhandels Pleite geht, wodurch die Arbeitslosigkeit sprunghaft ansteigt. Das resultierende Prekariat wird dann von Wal-Mart angestellt, zu derart miserablen Bedingungen, dass es nur noch bei Wal-Mart selbst einkaufen kann. So entsteht in der Nachbarschaft ein „race to the bottom“, ein Strudel aus immer niedrigeren Gehältern und Preisen, der alle Beteiligten rapide ärmer macht – bis auf die Wal-Mart-Besitzerfamilie Walton, deren Reichtum mittlerweile das Gesamtvermögen der unteren 30 Prozent aller Amerikaner übersteigt.

Die Eröffnung einer neuen Whole Foods-Filiale hingegen führt dazu, dass die Mieten in der Umgebung massiv anziehen, während die schier grenzenlose Edel-Auswahl derselben ihre Anwohner in eine seelische Abhängigkeit hinein treibt. Jede noch so schmale Nische wird von Whole Foods mit einem breit gefächerten Sortiment befüllt, sodass die täglichen Gedankenspiele über den allabendlichen Whole Foods-Einkauf – analog zum Herumspielen auf dem Smartphone – dazu geeignet sind, jeden Zwischenraum geistiger Freizeit mit besänftigender Zerstreuung zu füllen. Dem Anwohner wird demnach nicht nur die Loft-Miete erhöht, sondern er beginnt auch, Unmengen an Geld zu Whole Foods zu tragen, oder „Whole Paycheck“, wie die Kette auch genannt wird, nicht zuletzt aus sozialer Kontrolle, da auch die ganze Nachbarschaft dies tut, bis er sich in der Situation philippinischer Gastarbeiter in Abu Dhabi wiederfindet: Er arbeitet nur noch für Kost und Logis.

Und so wird in den Lofts gekocht, da man sie ja genießen muss, wenn für die Miete das halbe Einkommen draufgeht, allabendlich werden hunderttausendfach die Whole-Foods-Tüten auf die Arbeitsflächen der offenen Küchen hinauf gewuchtet, neben Öfen der Firmen Wolf oder Viking, deren Namen Freiheit transportieren, Wildheit, ungekünstelte Bio-Natürlichkeit. Die amerikanische Nachwuchs-Führungskraft kann sich dann zum 100-Dollar-Chardonnay im integrierten Steinofen ihres satinierten Edelstahl-Viking erstmal Bio-Birnen aus Long Island mit Bio-Chevre aus Vermont gratinieren, während vor den Fenstern die Stahlskelette der neuen Wohntürme wuchern, die im Umkreis einer jeden Whole Foods-Filiale entstehen.

Für deren Verdichtungs- und Gentrifizierungskraft ist „Whole Foods Effect“ mittlerweile zum feststehenden Begriff geworden. „Der Witz dabei ist“, so John Mackey, „dass wir mehr Geld als mit Lebensmitteln damit verdienen könnten, die Immobilien im Umkreis unserer Standorte zu entwickeln.“ Die Filiale, die Whole Foods im letzten Jahr in der Innenstadt von Detroit eröffnet hat, inmitten eines halb entvölkerten Ruinenparks also, erscheint vor diesem Hintergrund als radikales Experiment, nach dem Motto: Wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht auch das hier gentrifizieren können. Was kommt danach – Mogadischu?

So abwegig Detroit als Standort für Whole Foods erscheint, so nahe liegt Brooklyn, sodass überrascht, dass die erste Filiale dort, in Gowanus, erst im vergangenen Dezember eröffnet hat. Gowanus ist der noch weitgehend ungentrifizierte Abschnitt zwischen den bourgeoisen Bohème-Stadtteilen Park Slope und Carrol Gardens, der einerseits als der leere Mittelpunkt und andererseits als der Anus von Mainstream-Brooklyn gilt, da durch ihn ein Kanal fließt, der zu den dreckigsten Gewässern Amerikas zählt. Im Gowanus Canal schimmert eine nach Fäkalien stinkende toxische Brühe, in der die Gang-Soldaten der Bloods aus den nahen Sozialbaublöcken der Gowanus Houses, so die Legende, noch im letzten Jahrzehnt die Leichen erlegter Gegner aufzulösen pflegten. An einem Ort, der weniger Bio demnach nicht sein könnte, hat Whole Foods auf dem Dach seiner 6000 Quadratmeter großen Filiale nun eine Bio-Farm installiert, deren Beete sie mit ultra-lokal angebautem Wurzelgemüse beliefern.

Trotz der langen Wartezeit auf Whole Foods ist in den Hipstergesichtern der leitenden Angestellten, die nach Feierabend in Gowanus durch die Gänge flanieren, ein innerer Zwiespalt zu erkennen. Dieser ist wohl auf denselben Gefühls-Mix zurückzuführen, den man als liberaler und kulturell interessierter amerikanischer Großstadt-Gutverdiener der Gentrifizierung gegenüber empfindet: Man will Whole Foods ablehnen, diese harte Kommerzialisierung, man will das im Grunde scheiße finden, findet es aber geil, wenn auch mit einem Hauch von Selbstekel. Das Schlaraffenland hat Einzug gehalten, denkt man sich, wenn man an der 30 Meter langen Käsetheke entlang schlendert, inmitten der überwältigenden Vielfalt des natürlichen Reichtums der Neuen Welt, andererseits fragt man sich: Bin ich der Typ, der 12 Dollar 99 pro Viertelpfund Blauschimmelkäse von der Insel Nantucket ausgibt?

Im Zuge meines eigenen letzten Einkaufs bei Whole Foods in Gowanus gewann ich folgende Erkenntnis: Ich bin offenbar der Typ, der sich für einen Abend, an dem er vorhat, allein zuhause zu bleiben, ein 60-day dry-aged bone-in prime ribeye anschafft, von der Morgan Ranch in Nebraska, gut 3 Pfund für 136 Dollar. Der Kassierer beglückwünschte mich, das Fleisch von der Morgan Ranch fände sich auch weit oben auf seiner eigenen Bestenliste. In Deutschland steht der Supermarkt-Kassierer mittlerweile sinnbildlich für die unterste Stufe der Arbeitswelt, aber mitnichten bei Whole Foods in Brooklyn: Der Kassierer lümmelte sich mit lässiger Kompetenz auf seinem orthopädischen Bürostuhl wie Großväterchen Tweed, die Krawatte schmal, der Bart präzise gestutzt, wohl schwul, oder einfach nur sehr, sehr hip, die Poets & Writers neben seinem einer Registrierkasse nachempfundenen Terminal, mit der Schlagzeile: „The comprehensive guide to an inspired writing life.“ Ich fragte mich, ob es irgendwo einen Headhunter für dieses perfekte Personal gab, diese schnurrbärtigen Steak-Metzger aus den 20er Jahren zum Beispiel – die laufen einem doch nicht einfach so zu? Andererseits: In Gowanus vielleicht schon.

Ich stieg dann in den zweiten Stock hinauf, um erst mal ein Bio-Bier zu trinken. Neben der urban farm gibt es dort einen Ausschank mit 17 Sorten Bier vom Fass. Mit einem Humpen Ale von der örtlichen Sixpoint Brewery lief ich in den Dachbiergarten hinaus, der an jenem verschneiten Februarabend von Heizstrahlern in ein rotes Schummerlicht getaucht war. Ich trat an ein Geländer heran, um eine Zigarette zu rauchen, eine verbotene Zigarette, denn „Whole Foods is a smoke-free environment“, wie in altmodisch wirkender Schrift auf Schildern zu lesen war, aber immerhin eine Zigarette mit Tabak aus kontrolliert biologischem Anbau, die zudem meine Nasenschleimhäute gegen den beißenden Geruch von Ammoniak, Schwefel und menschlichen Exkrementen desensibilisierte, der vom Kanal herüberwehte. An dessen Ufer, hinter einem Umspannwerk und einem Ensemble aus Chemietanks, war ein halb fertig gebauter Luxuswohnturm zu sehen.

Wieder in Manhattan, im Loft meiner acht Jahre jüngeren Schwester, die nie zuhause ist, da sie für einen Hedgefonds arbeitet, trat ich an den zwei Meter breiten Wolf-Ofen heran, um die Brenner unter dem mittigen Grillrost zu zünden und auf max power zu schalten. Die Flammen wärmten meinen Bart. Das Rauschen des Gases, des weiß-blauen Feuers, das Dröhnen der Wolf-Dunstabzugshaube – diese Geräusche riefen mir das nostalgische Bild einer goldenen Vergangenheit ins Bewusstsein, in der es in Amerika noch industrielle Arbeitsplätze gegeben hatte. Neben den Flammen war die einzige Lichtquelle im fast leeren Loft der Kühlschrank hinter mir, ein Sub-Zero Pro 48 mit gläsernen Türen, die es notwendig machen, die Whole Foods-Einkäufe darin zu Stillleben zu arrangieren.

Das Fleisch fiel mit einem wütenden Zischen auf den glühenden Rost, wo es bald zur Gänze von einer Stichflamme umschlossen war. Nach 6 Minuten wendete ich, nach weiteren 6 schob ich das Steak in den kleineren der zwei Backöfen, den ich auf 140°C vorgeheizt hatte. Nach 20 Minuten zog ich es wieder heraus, um es auf einem Holzbrett ruhen zu lassen. Eine Flasche Rotwein stand offen, ein Cabernet Sauvignon aus der Napa-Lage Howell Mountain und als ich mir ein Glas einschenkte, waberte sein Duft durch das Loft, einerseits Zedern und Muskat, andererseits kalifornischer Kirsch-Küstennebel.

Dieser vermischte sich mit dem Duft den Ribeyes, das ich vom Knochen ablöste und dann, wie in Trance, in grobe Tranchen schnitt. Meine Synapsen begannen zu summen. Ich nahm einen Bissen, einen Schluck und ließ dann meinen Kopf zurückfallen, die Lippen geöffnet, die Pupillen dilatiert, meine zwei spitzen Eckzähne vom Wein rot eingefärbt, im kalten Schein des Sub-Zero Pro 48 – eindeutig der Höhepunkt meines bisherigen Jahres.