Kindersoldaten des Kapitals

Erzählung
zuerst erschienen im September 2011 in Cicero

Es war kurz vor Mitternacht, als ich in Rom im Spätsommer 2003 im St. Regis eincheckte, einem diffus italienisch anmutenden Disneyland-Palazzo für reiche amerikanische Touristen. Ich war mit der ersten Maschine aus London gekommen, also um vier Uhr aufgestanden, was auf drei Stunden Schlaf hinausgelaufen war, die Stunde im Flugzeug schon mitgerechnet, den Kopf über der Lehne nach hinten abgeknickt, im schlimmsten Falle schnarchend.

Ich hatte den ganzen Tag in Besprechungen verbracht, in einem Hochhaus am Rande eines  Industriegebiets, um einen Kunden meiner Bank in seinem Vorhaben zu unterstützen, ein dubioses Mautsystem an eine italienische Staatsholding zu verkaufen, idealerweise samt der ausgelagerten Tochterfirma, die das System konzipiert hatte. Was wusste ich über Mautsysteme? Nichts. Trotz des langen gestrigen Tages, an dem ich mich in die lähmend langweilige Materie eingearbeitet hatte. Was interessierte mich an Mautsystemen? Nichts.

Ich hatte allerdings die Geistesgegenwart besessen, mir im Taxi auf dem Weg ins Hotel am Telefon die Roomservice-Weinkarte vorlesen zu lassen, sodass mich auf meinem Zimmer eine Flasche Tignanello erwartete. Ich ließ mein Köfferchen fallen, schenkte mir Rotwein ein und lehnte mich in den Rahmen eines offenen Fensters, um über Rom hinaus zu blicken. Ein Reisender in Sachen Mautsysteme, dachte ich mir. Ich war 27 und sicher schon zehn Mal in Rom gewesen, aber immer geschäftlich. Ich war 27, aber im Grunde ein abgewrackter Geschäftsmann Mitte 40, der in irgendwelchen Zimmern teurer, aber geschmackloser Hotels nachts allein schweren Rotwein trank, während sich sein Bauch immer weiter über den Echsenledergürtel hinaus schob – wie war es so weit gekommen?

Seinen Anfang hatte das Ganze wohl acht Jahre vorher genommen, als ich nach dem ersten Jahr an der Georgetown University einen Sommerjob in New York angetreten hatte, bei einer kleinen Brokerfirma, deren Geschäft es war, Wertpapiere an Privatleute zu verkaufen. An meinem ersten Morgen dort wurde ich gleich in den boiler room geführt, was für mich erstmal nach Schwulenbar klang, sich aber dann als Halle herausstellte, in der etwa zweihundert junge Männer, nur ein paar Jahre älter als ich, telefonierend vor ihren wie Legehennenbatterien aneinander gepferchten Schreibtischen auf und ab liefen.

Jeder von ihnen, und bald auch ich, telefonierte den ganzen Tag lang ununterbrochen, damals noch mit echten Telefonhörern an Ringelkabeln, von morgens bis abends. Denn das Unternehmen funktionierte folgendermaßen: Die Brigade der Würdegern-Jungbroker im boiler room machte täglich jeweils etwa fünfhundert sogenannte cold calls, also Anrufe an Menschen, die sie gar nicht kannten, um diesen im Idealfall ein Aktienpaket aufzuschwatzen, in der vagen Hoffnung, für ihre spärlichen Abschlüsse von ihrem Arbeitgeber irgendwann einmal mit einem richtigen Job belohnt zu werden.

Das ergab natürlich nur Sinn, wenn man reiche Menschen anrief, und so zirkulierten ständig Kladden mit Kontaktdaten, die sich etwa aus den Mitglieder- oder Kundenlisten exklusiver Golfclubs, Autohäuser oder Casinos zusammensetzten. Es gab auch noch ein Handbuch mit verschiedenen psychologischen Herangehensweisen und Aktienanalysen der hauseigenen „Kapitalmarktabteilung“ – einem einzigen älteren Typen mit Nasenbrille, soweit ich das überblicken konnte. Im Rückblick muss man dabei natürlich an Drückerkolonnen in fensterlosen Callcentern an der Autobahn neben Flatrate-Bordellen denken, aber damals, mit 19, dachte ich mir: So funktioniert das Bankwesen wohl eben.

Der nächste Sommer verlief deutlich angenehmer, ich hatte einen Job im Equity Research bekommen und würde also nicht mehr im Stehen telefonieren, sondern im Sitzen an Unternehmensanalysen arbeiten – so dachte ich zumindest. Die Bank, bei der ich angeheuert hatte, war ein kleines Überbleibsel der berüchtigten Drexel Burnham Lambert, die unter dem später inhaftierten Michael Milken, einem der Vorbilder für die Figur Gordon Gekko, erst die Schrottanleihe erfinden und die feindliche Übernahme von ihrem Stigma befreien sollte, bevor sie unter großem Getöse zu Trümmern zerfiel.

Mein Chef dort war ein Isländer, etwa zehn Jahre älter als ich und feucht-fröhlicher Freund meiner Familie, mit dem ich mich schon immer gut verstanden hatte. Offenbar hatte er nicht viel zu tun in diesem Sommer, er hatte wohl generell nicht viel zu tun, da er damals, wie er betonte, der einzige ernstzunehmende Isländer an der Wall Street war und somit in der Verwaltung der Gelder der großen institutionellen Investoren Islands ein Monopol besaß.

Dies führte dazu, dass mein Tag in der Regel folgendermaßen aussah: Ich kam morgens rein, holte mir einen Kaffee und vertiefte mich in die Unterlagen der Unternehmen, die in jenem Monat zu bewerten waren. Immer gegen Mittag stand dann der Isländer an meinem Schreibtisch, um mich für ein „Meeting“ abzuholen. Wir fuhren mit dem Aufzug hinunter, überquerten die Straße und betraten das Rhiga Royal Hotel, eine mittelprächtige Absteige für Mittelmanagement-Geschäftsreisende, in der sich allerdings eine schummrige asiatische Cocktail-Lounge befand, in der wir uns jeden Tag bis in die frühen Abendstunden mit mittelmäßigem kalifornischem Chardonnay betranken.

Dann fuhren wir zum Isländer nach Hause, der ein Penthouse am Central Park West bewohnte, und den es im Investmentbanking trotz seiner beneidenswerten Stelle nicht lange halten sollte: erst zog er nach Prag, um dort zwei Boutique-Hotels zu eröffnen, und heute lebt er wieder in Reykjavik, als erfolgreicher Moderator einer, wie er es formuliert, „right-wing talk show from hell.“ Aber in diesem Sommer ließen wir uns jeden Abend auf seiner Terrasse nieder, wo seine charmante Frau uns manchmal eine Wanne Lasagne vorsetzte, um den Sonnenuntergang über dem Park anzuschauen.

Meinen dritten Sommer als Student verbrachte ich auf Long Island, und als im folgenden Winter langsam mein Abschluss in Sichtweite kam, begann ich, mich mit meinen Karriereperspektiven zu befassen. Hinderlich dabei war, dass ich keine berufsrelevanten Interessen hatte. Ja, ich las viele Bücher, aber deswegen konnte ich ja nicht gleich Schriftsteller werden. Ja, ich trank viel Wein, aber deswegen konnte ich ja nicht gleich Winzer werden. Ich sah mich mit der strukturellen Problematik konfrontiert, dass junge Menschen mit 22, dem Alter, in dem studierte Amerikaner in aller Regel ins Berufsleben eintreten, noch keine belastbare Vorstellung ihrer beruflichen Zukunft entwickelt haben.

Somit sind sie gefundenes Fressen für die Rekrutierungsteams der globalen Investmentbanken, sauber gescheitelte Spezialeinheiten, die auf der Suche nach leicht formbaren Kindersoldaten im Wochentakt auf den einschlägigen Ostküstenuniversitäten einsegeln, um den Studenten deren berufliche Zukunft bei angenehmen Lobsterdinners im Four Seasons oder Ritz-Carlton erst mal mit ganz konkreten Zahlen zu unterlegen. Michael Lewis, ehemaliger Investmentbanker und Autor des Banking-Klassikers „Liar’s Poker“, fasst die daraus resultierende Logik folgendermaßen zusammen: „Ich hatte keine Vorstellung davon, was ich nach der Universität anfangen sollte, und Wall Street schien für das, was ich konnte – also nichts –, erstaunlich gut zu bezahlen.“

Gegen diese bestechende Logik kamen auch meine Alternativen (Autor, Winzer, Rapper, karibischer Hotelier et cetera) nicht an, sodass ich bald ein Angebot für eine Stelle als financial analyst in London annahm, was aber nicht bedeutete, dass ich nach meinem Abschluss sofort mit der Arbeit begonnen hätte. Erstmal ging es für zwei Monate nach New York, zum sogenannten analyst training, zusammen mit allen anderen analysts aller Büros weltweit, zu deren Unterbringung die Bank ein Apartmentgebäude in Chinatown angemietet hatte. Jeder analyst – die ersten zwei Silben dieses Begriffes werden intern prinzipiell so ausgesprochen, als existierte die dritte nicht – bekam eine minimalistische Wohnung mit polierten Betonböden zugeteilt, nachdem ihm oder ihr als spending money bereits ein satter Batzen Travellerschecks in die Hand gedrückt worden war.

Das Training selbst bestand aus Seminaren, Vorträgen und sogar Prüfungen, was aber nicht in Arbeit ausartete, es herrschte eine ausgelassene Klassenfahrtsatmosphäre, was auch daran lag, dass etwa ein Viertel unseres Jahrgangs, damals sehr ungewöhnlich, aus Frauen bestand. Die Zielsetzung des Programms lag darin, mit diversen steakhouse dinners und cocktail cruises den Zusammenhalt unter dem globalen Nachwuchs zu festigen, dafür zu sorgen, dass jeder von ihnen in jedem Büro weltweit einen Ansprechpartner haben würde, was gut gelang: Wenn zwei Analysten unseres Jahrgangs, aufgrund dessen miserablen Betragens das Programm im Anschluss abgeschafft wurde, sich nicht zusammen betrunken oder Drogen geraucht hatten, dann hatten sie gleich miteinander geschlafen.

Auf den New Yorker Dauerrausch folgte in London abrupt das Straflager. Ich war nach Heathrow geflogen, hatte mir in Notting Hill schnell für zweitausend Pfund im Monat sechzig Quadratmeter gemietet und mich dann zum Appell gemeldet, um fortan für achtzehn Stunden täglich in den Mühlen der Finanzmaschinerie zu verschwinden. Meine Aufgabe bestand darin, mit Hilfe komplexer Modelle große Unternehmen zu bewerten, die übernommen, verkauft oder fusioniert werden sollten, und in Gesprächsunterlagen für Meetings mit potentiellen Kunden die Fähigkeiten der Bank als spezifisch für den jeweiligen Kunden maßgeschneidert erscheinen zu lassen.

Das Prinzip von Investmentbanken beim Umgang mit Nachwuchskräften ist es, von diesen Unmögliches zu verlangen, nicht im Sinne von inhaltlicher Komplexität, denn diese ist von jedem intelligenten Menschen ohne Weiteres zu bewältigen, sondern im Sinne eines ins Absurde überzogenen Arbeitspensums. Das simple Kalkül dahinter ist, dass Mitarbeiter, die nach drei Jahren noch an Bord sind, dann über das Äquivalent von neun Jahren an Berufserfahrung verfügen – wobei sie allerdings auch dementsprechend aussehen.

Beim Anblick meines ersten Londoner Chefs beispielsweise, eines kleinen Mannes Anfang 30, der etwa zwei Millionen Pfund im Jahr verdiente und wie Anfang 40 aussah, musste ich an einen Witz denken, den mir mein Vater mit auf den Weg gegeben hatte: Kommt ein Mann in eine Zoohandlung und will einen Papagei kaufen. Der Händler hat zwei auf Lager. Der erste Papagei ist groß und bunt und majestätisch und kann in sieben Sprachen aus „Hamlet“ zitieren. Er kostet zehn Dollar. Der zweite ist klein und grau, kann weder sprechen noch fliegen und hat hässliche, misstrauische Augen, wie die einer Ratte. Er kostet tausend Dollar. Als der Kunde fragt, wo denn da die Logik sei, erklärt der Händler, der zweite sei der Chef des ersten Papageis.

Etwa zwei Wochen nach meiner Ankunft rief dieser Chef einen anderen neuen Analysten, einen Spanier namens Josemaría, den ich zufällig aus einem Tenniscamp in Kalifornien kannte, und mich in sein gläsernes Büro, um uns zu unseren frisch eingetroffenen Visitenkarten zu gratulieren. „Now you can go pick up some chicks!“, rief er, um danach hektisch zu gickern. Josemaría und ich setzten uns gequälte Lächeln auf, um uns für die folgende peinliche Phase der Stille zu wappnen, die darauf zurückzuführen war, dass hier Welten aufeinandertrafen: Während Josemaría und ich schon als Teenager wie Könige gelebt hatten, in der kalifornischen Wüste hinter den Bretterverschlägen unseres Ferienlagers, mit lustigen Tennismädchen und billigem Rum vom korrupten liquor store, hatte der graue Papagei mit seinem gescheiterten Versuch der Verbrüderung in aller Deutlichkeit verraten, dass der Spaß im Leben für ihn eben erst mit dem vielen Geld losgegangen war.

Der übertriebenen Arbeitsbelastung stehen für einen Analysten im Bereich Fusionen und Übernahmen die bizarren Persönlichkeiten gegenüber, denen er zwangsläufig begegnet, da der Entschluss, eine Akquisition zu tätigen oder eine Fusion durchzuführen, nur auf höchster Ebene getroffen werden kann. Schon in meinem dritten Monat beispielsweise saß ich dem Finanzminister eines westdeutschen Bundeslandes gegenüber, es ging um eine Privatisierung, der Vorstandschef des betroffenen Unternehmens erzählte, er habe wieder geheiratet und anders als ihre Vorgängerin koche seine neue Frau mit Gas, sodass er das ganze Haus umbauen müsse und sogar Richard Holbrooke wäre noch zu unserer netten Runde gestoßen, der legendäre amerikanische Diplomat, der damals ein sogenannter senior advisor unserer Investmentbank war, wenn die New Yorker Flughäfen nicht aufgrund von Stürmen gesperrt gewesen wären. Ich lernte nach und nach die Vorstandsetagen der größten deutschen Konzerne kennen, auf denen die Innenaustattung das ästhetische Empfinden meist auf eine harte Probe stellte.

Nicht so im Falle von Enron, einem damals riesigen texanischen Energiekonzern, dessen Londoner Niederlassung eine auf bizarre Weise angenehme Denver-Clan-Optik pflegte. Leider aber auch eine Unternehmenskultur der ungerechtfertigten Arroganz und des stupiden ständigen Geldsegens, die dazu führte, dass die Enron-Leute in Besprechungen nie ganz bei der Sache waren, da sie unentwegt auf die überall montierten Bildschirme mit dem minütlich aktualisierten Kurs der Enron-Aktie schielten, die jeder von ihnen fortwährend in rauen Mengen zugeteilt bekam.

Ein typischer Mitarbeiter dort war ein Managing Director namens Dick, der in Indien gerade die Errichtung eines monströsen Kraftwerks angezettelt hatte, die dann nicht zustande kam, nachdem Enron bereits kühn eine Milliarde Dollar in das Projekt investiert hatte. Dick hatte einen texanischen Akzent, einen langen Pferdeschwanz und einen getunten Aston Martin, mit dem er dennoch zu jedem Meeting zu spät kam, wobei man ihn beobachten konnte, da er den Wagen jedesmal seelenruhig unter den Fensterfronten der Besprechungsräume parkte. Dann kam er grinsend herein geschlendert, um erst mal einen Blick auf den Aktienkurs zu werfen.

Bevor Enron 2001 spektakulär pleite ging, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Zahlen des Unternehmens bereits seit mehreren Jahren frei erfunden gewesen und seine Aktien somit wertlos waren, strotzten dort alle vor Selbstbewusstsein, allen voran Jeff Skilling, der Vorstandsvorsitzende, der bei einigen Meetings per Telefon aus Texas zugeschaltet war. Skilling war ein größenwahnsinniger ehemaliger McKinsey-Berater, der, wenn man ihm eine Gegenfrage stellte, mit vor Verachtung triefender Stimme zu einer mäandrierenden Suada ansetzte, ob man überhaupt wisse, wer er sei, mit wem man es zu tun habe, dass man sich erst mal fragen solle, wer man selbst sei, ob man überhaupt über das intellektuelle Rüstzeug verfüge, das Wort an ihn zu richten, der er immerhin Chef von Enron sei, des besten Unternehmens der Welt und so weiter.

Heute verbüßt Skilling eine vierundzwanzigjährige Haftstrafe, aber damals hatte er sich in den Kopf gesetzt, sein Luftschloss mit einem der großen deutschen Energieversorger zu fusionieren, womit er bei einem von diesen auch gleich auf offene Ohren gestoßen war. Dass eine solche Transaktion tatsächlich in Angriff genommen wurde, dass sie beinahe zustande gekommen wäre, dass also deutsche Atomkraftwerke um ein Haar als Teil der Enron-Konkursmasse geendet wären, ist aus heutiger Sicht naturgemäß unfassbar, aber wahr. Am Ende scheiterte das Vorhaben allein an Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Postenverteilung.

Da mein Großvater der erste Präsident des Deutschen Atomforums gewesen war, besaß ich eine natürliche Affinität zu Atomkraftwerken, es sind ausgesprochen atmosphärische Anlagen, die im Inneren Anklänge an Hauptquartiere von James-Bond-Bösewichten erkennen lassen. Obwohl ich diese Historie intern natürlich nicht kommuniziert hatte, häuften sich nach dem Enron-Mandat die Vorgänge, im Zuge derer ich mich intensiv mit Atomkraftwerken zu befassen hatte, bis ich mir in der Bewertung dieser eine umfassende, für mein weiteres Leben gänzlich unnütze Expertise erarbeitet hatte, die sogar den aggressiven Nachfragen des Finanzvorstandes eines weiteren der großen deutschen Energieversorger standhalten konnte.

In diesem war ein Kampf um die Nachfolge des Vorstandsvorsitzenden entbrannt, der dazu führte, dass der Finanzvorstand und sein interner Rivale unabhängig voneinander und jeweils mit Hilfe ihrer bevorzugten Investmentbank die Übernahme eines europäischen Wettbewerbers vorbereiteten. Derjenige, der seine Transaktion in die Tat würde umsetzen können, so hatten die beiden sich das gedacht, würde auch das Rennen um den Chefposten für sich entscheiden. Diese haarsträubende Konstellation brachte es mit sich, dass die Banken ihre Analysen jeweils auch vor dem gegnerischen Vorstandsmitglied vorbringen mussten, sodass mir mit damals 24 Jahren die dankbare Aufgabe zufiel, meine fragwürdigen Bewertungsmodelle vor dem obersten Finanzexperten eines DAX-Konzerns zu verteidigen, dessen weiterer beruflicher Aufstieg davon abhing, mich zu diskreditieren.

Endgültig ins Absurde überspitzt wurde dieser Vorgang einerseits durch den Konferenzraum, in dem er sich abspielte, in dem der Vorstand auf der einen Seite des Tisches leicht erhöht und mit dem Rücken zu einer Fensterwand saß, sodass er auf die Gegenseite, die außerdem von der Sonne geblendet war, von oben herab blicken konnte. Und andererseits durch die simple Tatsache, dass Bewertungsanalysen von Investmentbanken fundamental unseriös sind, da sie auf einer Vielzahl von Prognosen basieren, mittels derer das Ergebnis auf beinahe jeden gewünschten Wert justiert werden kann. Und obwohl der Finanzvorstand keinen Fehler in meiner Bewertungslogik finden konnte, aus purem Glück meinerseits, war dies einer der Momente, in denen ich mich trotz analyst training fragte, ob ich diesem ganzen Unsinn auch nur annähernd gewachsen war.

Im Büro lief es also gut, sodass ich am Telefon immer öfter die verdrucksten Stimmen von Headhuntern hörte, windigen Personalvermittlern, einem schauerlichen Volk ähnlich den Immobilienmaklern, das die Abwesenheit jeder konkreten Befähigung hinter auswendig gelerntem Pseudo-Fachgeschwätz und massiv überhöhten Gebühren zu kaschieren versteht. Abgesehen davon, dass Investmentbanken sich untereinander ohnehin ständig Mitarbeiter abjagen, wollten zur damaligen Boomphase der Branche auch noch diverse Großbanken aus Spanien, Holland oder Frankreich ihren Teil der Sahnetorte haben, die dazu bereit waren, ihr fehlendes Prestige durch ein völlig übertriebenes Vergütungsniveau auszugleichen – im Sinne eines gesamten Jahreseinkommens als signing bonus etwa, also allein dafür, dass man einer Bank die Ehre erwies, sich von ihr vorübergehend anstellen zu lassen.

Dennoch hatte ich an einen Wechsel keinen Gedanken verschwendet, was vielleicht auch an den Headhuntern lag, die man nicht ernst nehmen konnte, von denen man sich beispielsweise nach Belieben auf späte dinners in gute Restaurants einladen lassen konnte, um dann mit schaler Belustigung zu verfolgen, wie sie schlagartig nervös wurden, wenn man sich auf ihre Kosten großspurig eine teure Flasche Wein bestellte. Erst als mir einer von ihnen eröffnete, dass der Deutschlandchef meiner Bank, den ich mochte, zur Konkurrenz wechseln und einige Kollegen mitnehmen würde, begann ich, diese Option in Erwägung zu ziehen. Als er mir dann auch noch die standardisierte Sperrklausel in meinem Vertrag erklärte, von der ich gar nichts wusste, da ich den Vertrag ohne ihn zu lesen unterschrieben hatte, die besagte, dass ich vor dem Wechsel zu einem Wettbewerber vier Monate würde pausieren müssen, war es sofort um mich geschehen. Vier Monate am Stück ohne jeden Stress – das konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen.

Ich schrieb also meine Kündigung, die abgelehnt wurde, auf einmal war man sehr freundlich zu mir, bot mir einen riesigen Garantiebonus an und bat darum, mich umstimmen zu dürfen. Die Bank verfolgte dabei offenbar eine good cop / bad cop-Strategie: Der vice chairman der Firma, der mich als erster umzustimmen versuchte, war ein zivilisierter Brite, der mir alles Gute wünschte, während mein zweiter Gesprächspartner ein muskulöser Amerikaner mit Proletenbärtchen war, der global head of mergers & acquisitions, der mich gleich anpöbelte, was ich denn wolle, was dieses illoyale Getue solle, ob ich denn keinen Charakter habe. Als ich zu erklären versuchte, dass ich es primär auf die vier Monate abgesehen hatte, die ich zur Regelung privater Angelegenheiten benötigte, zeigte er auf das gerahmte Foto eines etwa dreijährigen Mädchens, das in seinem Büro an der Wand neben einem Footballwimpel hing. Das sei seine Tochter, sagte er, die im letzten Jahr gestorben sei. Wo er am Tag nach ihrem Tod wohl gewesen sei? Ganz genau: hier im Büro.

Noch am selben Abend räumte ich meinen Schreibtisch aus, schickte meine endgültigen Kündigungsmails und ließ mich vom Fahrdienst nach Notting Hill chauffieren, wo ich in der illegalen kubanischen Bar, die immer bis sechs Uhr geöffnet und daher in den letzten Jahren oft meine einzige Option für einen nightcap gewesen war, per Zufall in eine Feierlichkeit von Paula Yates geriet, der heroinabhängigen Exfrau von Bob Geldof, die offenbar beschlossen hatte, die ganze Bar einzuladen. In euphorischer Stimmung soff ich dort bis Sonnenaufgang, lief nach Hause, schlief eine Stunde, duschte, packte, ließ mich vom Fahrdienst nach Heathrow fahren, flog nach JFK und nahm mir von dort ein Taxi nach Long Island, um die nächsten Monate im Haus meiner Mutter in Southampton zu verbringen. Dort lag ich am Pool, trank Sherry, las Thomas Bernhard und stellte mich bei Sonnenuntergang in die Ausläufer der Brandung, um mit langer Rute nach Bonito zu angeln.

Vier Monate später löste ich in London meine Wohnung auf und flog weiter nach Frankfurt, um dort meine neue Stelle anzutreten. In der neuen Bank war alles beim Alten, ich musste mich nicht einmal eingewöhnen, wahrscheinlich ist das wie für Prostituierte beim Bordellwechsel, die Räume sehen anders aus, aber der Ablauf ist immer der Gleiche. Ich fuhr weiterhin zu Vorständen, aber das war jetzt Routine. Meiner inneren Milieustudie der Vorstandsetage hatte ich nichts mehr hinzuzufügen. Allenfalls für die Unterschiede im Catering konnte ich noch Interesse aufbringen, für die Frage, warum der Küche des einen Vorstandskasinos eine perfekte Seezunge gelang und der des anderen nur ein fades Rinderfilet, das wie in der Businessklasse der Lufthansa schmeckte.

Am Ende, als ich in Rom am Fenster stand, gierig meinen Tignanello leerend, sah ich das Phänomen des Investmentbankings auf einmal aus weiter Ferne. Sollten das nicht andere machen? War ich nicht langsam zu alt für all das? Mir fiel noch ein, dass der Verkauf der Brauerei Becks bevorstand, für den meine Bank mandatiert worden war, und für einen Augenblick sah ich mich auf dem grünen Becks-Windjammer vor Sylt mit derangierten amerikanischen Finanzinvestoren im weißen Dinnerjacket eiskaltes Becks trinken. Dann setzte ich mich an meinen Laptop, um meine Kündigung zu schreiben.