Allahu Akbar

von 
Kurzgeschichte
zuerst erschienen im Oktober 2012 in The Germans Nr. 1

Vater unser im Himmel
geheiligt werde Dein Name
Dein Reich komme
Dein Wille geschehe
wie im Himmel so auf Erden
unser tägliches Brot gib uns heute
und vergib uns unsere Schuld
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
und führe uns nicht in Versuchung
sondern erlöse uns
von dem Bösen

Paris Orly – Iran Air

Der Purser vor dem Abflug: „Willkommen im Namen Gottes des Gerechten und Allmächtigen an Bord der Iran Air.“
Nur männliche Flugbegleiter
Keine Kopftuchpflicht
Magazine, Bücher, iPhone – geht alles unzensiert durch
Es gibt Coke, Fanta und Sprite an Bord

Teheran – Imam Khomeini Airport

Der Purser nach der Landung: „Willkommen im Namen Gottes des Gerechten und Allmächtigen in der Islamischen Republik Iran. Willkommen zu Hause, die Damen, bitte bedecken.“
Keine Sicherheitskontrollen
Keine Geldautomaten oder Wechselstuben oder andere Möglichkeiten sich Tuman zu beschaffen
Bücher, iPhone, iBook, Kamera – nichts wird beachtet

Imam Khomeini Airport – Teheran

Über eineinhalb Stunden Fahrt
Vorbei am Imam Khomeini Mausoleum, ein Areal, in etwa so groß wie Düsseldorf
Vorbei an Behesht-e Zahra. Nach offiziellen Angaben liegen in Zahara’s Paradies knapp zwei Millionen Menschen begraben; an jedem neuen Tag kommen vierhundert frisch Verstorbene hinzu
Nach über einer Stunde zeigt sich Teheran Stadt und der 2006 fertig gebaute Fernsehturm Borj-e Milad (Turm des Volkes). Durch ihn lässt sich jedes Fernsehgerät, jedes Radio, jeder Internetanschluss und auch jedes Mobiltelefon in Teheran orten, unterbrechen, stören
Turm des Volkes, so verspricht es die nationale Werbung, ist „das zwölfthöchste, freistehende Gebäude der Welt; der fünfthöchste und größte Fernsehturm der Welt, mit dem allergrößten Fernsehturmkorb der Welt und dem allergrößten Fernsehturmkorb-Restaurant der Welt“
Ein Omega-Plakat; George Clooney ist die einzige internationale Werbefigur

Allahu Akbar

Teheran könnte nicht wahnsinniger sein. Das Stadtbild muss man sich so vorstellen: jeder, der ein Grundstück besitzt hat eine Baugenehmigung, die einer Carte Blanche gleichkommt. Höhe, Breite, es sieht nicht so aus, als gebe es Normen oder Regeln. Außer, dass in der Regel ab der Mittelschicht und aufwärts jeder den Grund auf dem er lebt besitzt; außer man entscheidet sich für eine der modernen Appartement Wohnungen, wie sie in Teheran seit den achtziger Jahren in Mode sind. Aber wenn man eben, so wie es üblich ist, in einem Einfamilienhaus auf seinem eigenen Grund lebt und wenn einem ein Nachbar zu nahe rückt, kann man einfach eine Mauer hochziehen. In grün zum Beispiel, so hoch man möchte.

Es gibt Gegenden die mich an Berlin erinnern; endlos viele Baustellen, Schlaglöcher, Gruben, Baukräne und Fassadenketten ohne Dächer und ohne Fenster. Und auch die immer noch sehr stark präsente, kommunistische Architektur und die großen Plätze erinnern mich an Ost-Berlin. Und gleichzeitig hat Teheran was von Innsbruck, wenn sich hinter jedem Fetzen Beton der Elburz zeigt. Und von San Franzisco, durch die schmalen Straßen, die steil bergauf und steil bergab führen, wie um den Niavaran Boulevard herum. Die Luft schmeckt heute süßlich und auch etwas bitter. Die Bitterkeit kommt vom Tränengas, das zurzeit immer in der Luft hängt. Und die Süße kommt von den Granatäpfeln, die jetzt in Ernte stehen und sich an jeder Ecke auf den weißen Pick-up Lastern türmen.

Meine Schwester hat mich mit dem SUV meines Schwagers abgeholt und Hussein Agha gebeten zu fahren. Wir sitzen zusammen hinten und halten uns an den Händen und glucksen und ich versuche die Moscheen zu zählen, aber es sind zu viele; mit türkisblauen Kuppeln oder silbernen Kuppeln, mit zwei Minaretten, vier Minaretten (die größte Moschee, mit ich weiß nicht bald zwölf Minaretten, ist noch nicht ganz fertig gebaut. Über zweihunderttausend Menschen sollen darin Platz haben, um am Freitagsgebet teilnehmen zu können). Wir fahren an der Teheraner Universität vorbei, die genauso gut auf der Ludwigstraße stehen und nicht weiter auffallen würde. Ich darf keine Fotos machen. Meine Schwester sagt, ich soll mich auf keinen Fall in der Nähe der Universität aufhalten. Meine Tante Iran war einmal mit einer Freundin nur so aus Neugierde an einem unaufgeregten Tag dort vorbei geschlendert und wurde verhaftet. Wir fahren an ein paar Schah Palästen vorbei, denen erstaunlicherweise über die Jahrhunderte kaum ein Giebel abgebrochen ist. Wir streifen die britische Botschaft und die deutsche Botschaft – Areale so groß wie das Palais Royal oder der Münchner Hofgarten. Wir biegen wieder auf eine der Schnellstraßen, welche die Stadtteile und die großen Boulevards miteinander verbinden – ähnlich wie der große und der kleine Ring in München und die überdachten Ringe in Paris. Es ist viel Verkehr; den Motorrädern fehlt alles, was Motorräder nach TÜV-Norm haben sollten und es gibt so viele davon, dass man das Gefühl nicht los wird, ihrem bedrohenden Lärm jemals entkommen zu können. Auch die Autos sind in Topform. Kaum eines ist jünger als fünfzehn Jahre oder oberflächlich gesehen vollständig ausgestattet. Am häufigsten sieht man französische Modelle – Renault, Peugeot. Die Mullahs leisten sich am liebsten deutsche Autos und wenn eines vorbei rauscht, erwecken sie misstrauen. Viele japanische Autos, Marken die mir nichts sagen. Aber am häufigsten sehe ich iranischen Eigenbau – Pekan der im Grunde so aussieht wie der Audi 81.

Ich kann noch kein Gefühl für Himmelsrichtungen oder Gegenden entwickeln. Und es gibt auch nicht viel, an dem ich mich orientieren kann. Es ist zu lange her, dass ich das letzte Mal hier war, als das ich mich gut erinnern könnte. Und Teheran implodiert. Ich schätze seit meinem letzten Besuch ist die Anzahl der Gebäude und der Einwohner um dreißig Prozent gestiegen, ohne dass die Stadt sich auch nur einen Quadratzentimeter breiter gemacht hat. Wir fahren ein endloses sich im Kreis drehendes bergauf und bergab vorbei an großen Parkanlagen, Waldrändern, Grünstreifen und massenhaft Beton, bemalter Beton. Fensterlose Fassaden, von denen die geistlichen Führer des Landes auf die Schnellstraße und in die Autos rein starren. Ich sehe Ahmadinedschad, Ganzkörper, aber im Profil und mit Engelsflügeln ausstaffiert, bereit zum abheben. Ich sehe ausgekratzte und teilweise übersprühte Khomeini und Khamenei Gesichter. Ich lese nieder mit der islamischen Republik, nieder mit Khamenei. Mal in roter, mal in schwarzer Farbe steht es auf Hauswänden und Mauern, auch auf Englisch. Dazwischen gibt es Werbung; George Clooney grinst weil er eine prächtige Omega am Handgelenk hat. Ich sehe Regierungswächter mit Pinseln und weißen Farbeimern und wie sie gequält versuchen die regierungsfeindlichen Parolen zu überpinseln. Und ein paar Meter weiter sehe ich die gleiche farblose Sorte dogmatisch-paranoider Staatsdiener Propaganda Parolen an die Hauswände schreiben. Es gibt viele, neue Hauswände und viele, neue Mauern. Manche so hoch, dass man sich von der Krone aus ein paar Wolken vom Himmel pflücken kann. Die Mauern, der Stacheldraht, die Wachtürme, die Soldaten und überall „No Photo“-Warnschilder; aber vor allem die Präsenz der Soldaten schüchtert mich ein. Wie selbstgefällig sie in den Türmen stehen, mit ihren Gewehren und sich dabei im Kreis drehen. Ich zweifle nicht, dass man jederzeit an jeder Stelle abgeschossen werden kann, denn sie sind überall; bewaffnete Soldaten, bewaffnete Polizisten, Bewaffnete in Zivil.

„Wenn man ständig in Angst lebt,“, sagt meine Schwester, „verliert Angst ihren Schrecken. Es ist wie Atmen. Tu atmest, aber du denkst nicht darüber nach, dass du atmest. Nur manchmal, da spürst du deinen Atem. Manchmal spüre ich die Angst, und dann bleibe ich zu Hause.“

Es ist lebenswichtig zu wissen, wen man vor sich hat. Meine Schwester erklärt mir, wer im Grunde harmlos ist, nämlich die, die als Polizisten gekennzeichnet sind und welche gefährlich und wie ich sie auseinander halten kann, die generell Gefährlichen von den Basijis, die man an ihren roten Motorrädern und den schwarz-weiß karierten Tüchern erkennt. Aber das aller Gefährlichste, sagt meine Schwester, ist, das die Gefährlichsten oft getarnt sind und man sich deshalb am besten vor jedem in Acht nehmen muss, auch vor der Nachbarin.

Die Schnellstraße macht eine Biegung, vorbei an einem Spielplatz wird sie zu einer prächtigen Allee, die uns durch das Viertel meiner Schwester führt. Ein Trendbauwerk-Viertel: mal Corbusier Style, mal Niemeyer Style. Häuser im fünfziger Jahre Baustil stehen neben Bauwerken aus den siebziger Jahren. Bungalows, Hochhauswohnungen und dazwischen Coffee-Shops, die Internet und Lavazza-Kaffee anbieten und Krämerläden. Kleine, schmale Holzhäuschen in pistaziengrün oder taubenblau in denen man alles bekommt, was keiner Kühlung bedarf.

Ich sehe niemanden auf einem Fahrrad fahren und niemand führt einen Hund an der Leine durch die Straßen spazieren. Wir fahren jetzt ganz dicht am Fuß des Elburz entlang und der Geschmack der Luft verändert sich. Ich kann den Schnee riechen und frisch gebackenes Fladenbrot. Aus dieser Nähe sieht der Elburz aus wie ein mit Zuckerguss überzogener, glitzernder Sandkuchen, angestrahlt von der Sonne, die sich benimmt als wäre es Frühling. Ich frage meine Schwester, ob sie schon Skifahren waren. Mein Schwager war einmal mit ein paar Freunden und Roya am Hang, aber es ist diesen Winter noch zu warm und nur eine Piste ist geöffnet. Sie sind letztes Wochenende lieber nach Shomal gefahren und waren im Kaspischen Meer baden. Und vielleicht fahren wir auch am Donnerstag nach Shomal. Und dann sehe ich wieder einen Schwarm Krähen, die aus einem Gebäude kommen. Vorhin, als wir am Basar vorbeigefahren sind hatte ich das Gefühl sie sind überall und ich frage meine Schwester ob sie sich vermehrt haben, die Tschadori’s. Sie sagt die meisten jungen Frauen haben keine Lust mehr sich groß zu erklären und werfen deshalb einfach einen Hijab über, um ihre Ruhe zu haben. Und auch, um sich zu tarnen. Seit der grünen Revolution ist der Hijab die Beste Tarnung; auch für bewaffnete Männer.

Das Leben in Teheran könnte nicht wahnsinniger sein. Es ist schwierig nach den Vorschriften der Machthaber zu leben. Das Selbstverständlichste ist verboten und die Versuchung, das Verbotene zu leben, ist groß. Und dann kommt noch hinzu, dass sich die Verbote permanent ändern ohne, dass es eine generelle Aktualisierungs-Verbotsstelle gibt.

Ein kleiner Auszug an Verboten, die zurzeit gelten: - unverheiratete, geschlechtsreife unterschiedlichen Geschlechtes dürfen sich zu keiner Zeit an keinem öffentlichen Ort treffen und auch nicht aus Versehen oder durch Zufall oder aus sonstigen Gründen miteinander Kontakt aufnehmen; es sein denn, sie sind miteinander verwandt
- westliche Musik, westliche Literatur, westliche Filme, westliche Kunst – mit Ausnahme von Stillleben und Casper David Friedrich
- Alkohol
- unverheiratete, geschlechtsreife unterschiedlichen Geschlechtes dürfen sich zu keiner Zeit an irgendeinem, geschlossenen Ort zusammen aufhalten; es sein denn, sie sind miteinander verwandt
- die Meinung frei öffentlich äußern; es sei denn, sie deckt sich mit den Ansichten der Machthaber
- die Farbe grün
- Allahu Akbar (Gott ist groß) sagen

Alltägliche Versuchungen: - eines der Versprechen, die Khomeini gegeben hat, um an die Macht zu kommen, und das er auch gehalten hat: Bildung für alle. Allein an den Universitäten besuchen überall im Iran Studenten und Studentinnen die Selben Vorlesungen (75 Prozent der gesamten, iranischen Bevölkerung – circa 72 Millionen – ist unter 30 Jahre alt und über 50 Prozent der Universitätsabschlüsse geht an Frauen)
- in den Teheraner Kinos mögen nur iranische Filme laufen, an der nächsten Ecke gibt es alles, was in Paris zur gleichen Zeit im Kino läuft auf DVD – von der Michael Jackson Dokumentation this is it bis zu Lars van Trier’s wahnsinnigem Film Antichrist; die Buchläden sind gut sortiert, westliche Literatur von Virginia Woolf bis Truman Capote, Thomas Mann, Hermann Hesse, Emily Bronté, Nabokov, Houellebecq, Paul Auster – auf englisch, französisch, italienisch, deutsch, russisch – mühelos zu finden
- circa 32 Millionen Iraner haben freien Zugriff aufs Internet; außer an den Tagen, an denen die Machthaber Parasiten rum schicken
- Grün ist die Farbe des Islam
- im alltäglichen Sprachgebrauch wird kein Wunsch ausgesprochen ohne ein abschließendes Allahu Akbar
- es gibt jeden erdenklichen Alkohol zu kaufen; der Perser bevorzugt Whiskey und Wodka; Wein, Bier, Liköre und Schnäpse werden in Eigenproduktion hergestellt

In München haben wir immer Witze gemacht, wenn die Politessen Strafzettel wie Sand am Meer verteilten und die Blitzanlagen auf dem Ring zuschlugen, dass die bayrische Staatskasse leer sei und der Staat eben Geld eintreiben würde. In Teheran fällt das Geldeintreiben um die Staatskassen zu füllen anders brutal aus: plötzlich klingelt es an der Haustür und man hat gar keine andere Möglichkeit als aufzumachen. Und dann stürmen sie ins Haus. Bewaffnet, alles inspizierend und wenn Männer und Frauen sich im selben Raum befinden und die Herrschaften nicht nach Machthabervorschrift gekleidet sind – verheiratet oder unverheiratet spielt dabei keine Rolle – oder ein Tropfen Alkohol gefunden wird, wird abgeführt. Die Abgeführten werden vor eine schöne Wahl gestellt: Peitschenhiebe oder Geld. Immer mehr Razzien finden vor allem in den besseren Wohngegenden statt, wo Geld ist, Peitschengeld. Und immer mehr inhaftierte lassen sich auspeitschen; um Furchtlosigkeit zu demonstrieren und um den Machthabern nicht noch mehr Geld zuzuspielen. Das spricht sich schnell herum in der Teheraner Bevölkerung. Auch wenn Teheran eine Millionenstadt ist – der Tratsch verbreitet sich durch das Sammeltaxi-System so schnell wie in einem zehn Seelen Dorf.

„Noch drei, vier Ampeln, dann sind wir da.“, sagt meine Schwester. Die Allee ist stark befahren und ich kann sehen, wie sich Jungen und Mädchen durch die offenen Wagenfenster Zettel zuwerfen.
„Das ist die Dating Straße. Wenn du ein Mädchen siehst, was dir gefällt, dann wirfst du ihr einen Zettel zu. Aber du lässt das lieber sein; Homosexuelle finden die hier gar nicht witzig.“
„Und wo lernen sich Frauen kennen? Oder Männer?“
„Keine Sorge, die organisieren sich schon.“

„Mashallah, Mashallah, Allahu Akbar“, sagt Tadj Bibi, als ich die Stufen in den Salon meiner Schwester runter komme. Sie klatscht die Hände zusammen, als hätte sie nie mit meiner Ankunft gerechnet und rauscht schnell in die Küche und kommt mit einem rauchenden Topf wieder zurück. Und dann lässt sie den kleinen Topf mit Espand über meinem Kopf kreisen, um mich willkommen zu heißen, damit mein Aufenthalt von „Allahs schützender Hand“ gesegnet ist und auch, damit Allah mir mein Gepäck schickt, das ungünstigerweise angeblich in Orly geblieben ist. Ich konnte ja nicht ahnen, dass kein Mensch nichts kontrolliert und so habe ich bis auf mein Laptop und mein Kopftuch alles in den Koffer gegeben: die Geschenke für die Nichten, die Süßigkeiten, die Twillight Folgen, die Foie Gras und den ganzen Käse für meinen Schwager, den ich noch kurz vor Abflug bei Jules besorgt hatte, meine Kleider – ich war lange nicht mehr hier und habe natürlich meine besten Kleider eingepackt. Für das Wassermelonenfest – Jalda, für Weihnachten, für Sylvester, für jeden Tag und natürlich auch um meiner Mutter und meiner Schwester die Ehre zu erweisen. Das gesellschaftliche Leben in Teheran spielt sich ausschließlich in den Häusern ab und verhält sich ähnlich wie bei den Buddenbrooks. Und wenn man nur zu Besuch im Land ist, muss man jeden Tag mit drei Einladungen rechnen: Mittag essen, Tee und Kuchen, Abendessen. Da braucht man eine gut sortierte Garderobe.

Tadj Bibi ist immer noch bei Allah. Sie und Hussein Agha sind neu in den Diensten meiner Schwester, aber meine Mutter kennen sie. Tadj Bibi hatte schon davon gehört, dass ich meiner Mutter sehr ähnlich sehe. Doch jetzt, wo mich Tadj Bibi mit eigenen Augen sehen kann, „Allahu Akbar“ sagt Tadj Bibi noch ein paar Mal schnell hintereinander und zieht den Knoten ihres Kopftuches unter ihrem schmalen Kinn fest. „Mashallah, mashallah, sie sehen aus wie ihre Mutter.“
Ein größeres Kompliment kann ein Mädchen im Iran kaum erwarten.

„Wo sind die Nichten?“, frage ich meine Schwester.
„Sie sind noch bis vier Uhr in der Schule, aber ich habe versprochen, dass wir sie zusammen abholen.“ Meine Nichten gehen Beide auf iranische Schulen. Die Ausbildung ist strenger, aber dafür besser, sagt meine Schwester. Und arabisch lernen und den Koran lernen kann nicht schaden. Die Silhouette müssen alle Schülerinnen im Iran bedecken. Ab dem zehnten Lebensjahr, auch wenn sie auf eine der internationalen Schule gehen, wie die deutsche Schule, oder die französische. Minou ist elf und in ihrer Schule ist Uniform Pflicht: eisgraue, weite, lange Hosen, eisgraue Kittelhemden, eisgraues Kopftuch und das ganze aus hundert Prozent Polyester. Leyla wurde letzten Sommer eingeschult, „sie legt jetzt schon einen Zynismus an den Tag, wenn sie ihren Schulalltag beschreibt und Koran Lieder vorsingt.“, sagt meine Schwester, die den Beiden ein straffes Programm vorgibt, wie ich finde. Jeden Tag bis vier Uhr nachmittags Schule; zwei Mal die Woche kommt eine Privatlehrerin nach Hause, um mit ihnen Hausaufgaben zu machen. Zwei andere Male die Woche hat Minou Englisch Unterricht und Leyla Französisch Unterricht. Und wenn die Schulwoche mehr als fünf Tage hätte, dann würde meiner Schwester bestimmt noch etwas für zwei-Mal-die-Woche einfallen. Freitags haben alle frei, denn im Iran ist Freitag Sonntag. Heute ist Dienstag und morgen ist Jalda.

Es ist erst zwölf. Ich höre einen Muezzin das Mittagsgebet singen und beobachte Tadj Bibi, wie sie den Tisch deckt, für das Mittag essen das Tante Iran vorgekocht und geschickt hat. Es gibt Ghorme Sabsi, aber zum essen komme ich leider kaum. Das Telefon klingelt ununterbrochen. Jeder Mensch, der meine Schwester und meinen Schwager kennt, weiß dass ich ankomme. Und jeder Mensch, der meine Schwester und meinen Schwager kennt ruft an, um sich zu erkundigen, ob ich auch gut angekommen bin. Natürlich ist auch Gesprächsthema das mein Gepäck nicht angekommen ist, was ich gerne esse und ob ich lieber zum Mittag essen, zum Tee und Kuchen essen oder zum Abendessen kommen möchte und meine Schwester nimmt ihr großes Kalenderbuch und blättert und notiert. Es gibt drei Haustelefone, und alle klingeln und manchmal klingelt das Handy meiner Schwester noch obendrauf und dann kommt Tadj Bibi aus der Küche und geht an einen der Apparate und sagt, „wir rufen zurück“ und dann klingelt es an der Tür und Hussein Agha kommt aus dem Garten und geht die zwei Stufen hinter dem Kamin hoch zur Freisprechanlage, um erst Mal zu hören, wer da was will. Roya hat essen geschickt und eine Karte dazu gelegt, ich könnte mir jederzeit von ihr Kleider ausborgen. Es klingelt weiter und es kommen Blumen und Kuchen und Fleischbällchen und Karten; Willkommen in Teheran.

Das Wassermelonenfest

Wir fahren die Dating Straße hinab. Minou beobachtet das Treiben mit aufgerissenen Augen und dann dreht sie sich zu mir und sagt,
„Schau mal Chin, der da sieht ganz süß aus, findest du nicht?“
„Wo ist dein Kopftuch?“, fragt meine Schwester sie.

Meine Schwester und ich sehen aus, als würden wir auf die Beerdigung unserer Großmutter gehen. Muharram hat gerade begonnen, der heiligste Monat im Iran. Während diesem Monat ist es verboten, kräftige Farben zu tragen und Kopftücher müssen schwarz sein. Es geht darum Respekt zu zollen und Trauer zu zeigen; Trauer um Imam Hussein, dem 680 in Kerbela der Kopf abgeschlagen wurde. Leyla kennt die Geschichte besser als ich und hat gerade in der Schule das Lied gelernt, dass auch die Selbstgeißler an Ashura singen, wenn sie durch die Straßen Teherans paradieren, um ihrem höchsten Heiligen zu gedenken und sich mit Ketten auf die Brust und über die Schulter schlagen.
„Was regnet es? Blut.
Wer? Die Augen.
Wie? Tag und Nacht.
Warum? Aus Trauer.
Trauer um wen?
Trauer um den König von Kerbela.“

Mit dem König von Kerbela ist Imam Hussein gemeint, einer der Beiden Enkel unseres Propheten Mohammed. Nach dem Tod seines älteren Bruders Imam Hassan musste Imam Hussein seinen Rang verteidigen, als Oberhaupt der islamischen Gemeinde. Er zog von Mekka nach Mesopotamien in die Schlacht gegen Yazid, den Sunnitenführer. Imam Hussein reiste mit einem kleinen Trupp. Er hatte einen Cousin voraus geschickt, der überliefern ließ, dass in Kerbela tausende Anhänger auf ihn warten. Yazid erreichte die Wüste als Erster, köpfte den Cousin und alle Schiiten. Als Imam Hussein mit seinem kleinen Trupp ankam sah er die Leere und den Hinterhalt in den Yazid und seine über zehntausend Mannen ihn jagten. Imam Hussein und sein kleiner Trupp dursteten, Tage, Nächte. Sie blieben zusammen und Imam Hussein beschloss, so aussichtslos es auch sein möge, Yazid und seinem sunnitischen Heer die Brust hinzuhalten. In der islamischen Kultur steht die Schlacht von Kerbela symbolisch für den Kampf zwischen Gut und Böse – David gegen Goliath – Goliath (Yazid) gewinnt und Hussein verliert seinen Kopf. Leyla singt wieder den Refrain
„Was regnet es? Blut.
Wer? Die Augen.
Wie? Tag und Nacht.
Warum? Aus Trauer.
Trauer um wen?
Trauer um den König von Kerbela.“

und ballt dabei ihre rechte Hand zur Faust; bei jeder Antwort schlägt sie sich mit der Faust todernst auf die linke Brust was meinen Schwager und meine Schwester zum lachen bringt.
„Minou, dein Kopftuch.“, ermahnt meine Schwester sie wieder. Seit der grünen Revolution sind die Sittenwächter erst recht überall.
„Und sie gehen noch härter vor als sonst.“, sagt mein Schwager und erzählt mir, als sich die Nachricht verbreitet hatte, dass Ayatollah Montazeri im Zuge der grünen Revolution gestorben ist, sind hunderttausende Teheraner zu Fuß nach Ghom gegangen. Seit der grünen Revolution schlagen die Machthaber jede Menschenansammlung willkürlich mit aller Gewalt auseinander. Unzählige Ghom-Pilger wurden mit Tränengas eingekesselt und verhaftet und jetzt wird sogar darüber debattiert den Ashura Festzug zu verbieten.
„Das wäre ein Witz.“, sagt mein Schwager. „Seit Jahrtausenden findet dieser Festzug statt. Sogar der Schah hat Ashura geehrt, aber diese Jungs hier, die sind noch skrupelloser.“
„Die sind saublöd Papa. Die haben die Farbe grün verboten. Grün – die Farbe Imam Husseins.“
„Bitte Minou, ich habe keine Lust jetzt wegen deinem blöden Kopftuch angehalten zu werden.“
„Und ich habe keine Lust das meine Haare scheiße aussehen.“, sagt Minou und zwinkert mir zu.

Wir biegen auf die Schnellstraße ab und fahren Richtung Süden. In einem Dorf bei Teheran haben Roya und Bijan ein Wochenendhaus. Ich frage meine Schwester, wer alles eingeladen ist und meine Schwester beginnt zu jonglieren, mit achtzehn, zwanzig Namen. Niemand aus dem Freundeskreis meiner Schwester und meines Schwagers ist alleinstehend; seine Freunde sind mit ihren Freundinnen verheiratet. Roya, Bijan, meine Schwester und mein Schwager kennen sich seit mehr als zwanzig Jahren. Mein Schwager und Bijan haben sich während des Studiums an der Sorbonne in Paris kennengelernt. Bijan hat damals noch viel fotografiert und es war in den Achtzigern in Mode, die Filme selbst in der Dunkelkammer zu entwickeln. Einmal holte mein Schwager Bijan ab, ich erzähle die Geschichte jetzt mal genau so, wie mein Schwager sie immer erzählt: Ich holte also Bijan in der Dunkelkammer ab und sehe an der Leine ein paar Portraitfotos von dem immer selben Mädchen hängen. Das war das Gesicht des hübschesten Mädchens mit den sanftesten Augen, das ich je gesehen hatte. Wenn du mir dieses Mädchen vorstellst Bijan, dann stelle ich dir auch ein Mädchen vor, aber verliere nicht so viel Zeit. Ich will sie jetzt kennenlernen. Heute, morgen, gut? Am nächsten Tag waren sie zum Frühstück im Café de Flore verabredet. Bijan brachte meine Schwester mit und mein Schwager kam mit Roya. Wann immer mein Schwager diese Geschichte im Beisein meiner Schwester erzählt, steht ihr das glücklichste Lächeln im Gesicht, das ich von ihr kenne.

„Mami, das sind nur eure Freunde, unsere sind auch da.“, sagt Leyla und zählt noch mal mehr als drei Hände voll Namen auf. Bei einem Namen zwinkert Minou mir wieder zu. Das muss der Name des Jungen sein, der ihr gefällt.

Die Landschaft verändert sich. Wir sind jeden Augenblick da. Der Elburz bleibt stark und schön und wird ockerfarben. Schafe weiden, wir fahren an Eseln vorbei und an Ziegen. Ich erinnere mich nicht, dass mir meine Großmutter ein persisches Märchen oder eine persische Fabel erzählt hat, in der nicht Ziege, Schaf oder Esel vorkamen. Und natürlich ging es auch immer um ein hübsches Mädchen und den zukünftigen König. Alles, was ich jetzt sehe, ähnelt den Zeichnungen aus meinem persischen Märchenbuch. Die Erde, die Häuser, es gibt drei Farben: Sand, Schokolade und Butter. Noch mehr Esel und Ziegen und Schafe. Ein paar Kinder auf Fahrrädern, ein großer Karren beladen mit getrockneten Limonen. Eine butterfarbene Backsteinmauer, höher als die des Élysée. Ein oval geformtes Holztor und der feine Sand, auf dem die SUV Räder ihre Spuren hinterlassen. Wir bleiben vor dem Tor stehen und mein Schwager steigt aus. Video-Fernsprechanlage; „Schau,“ sagt mein Schwager, „ist wie in Beverly Hills hier.“ Das Tor geht auf, wir fahren auf die Auffahrtsallee, die ummantelt ist mit Mandelbäumen und auch mit ein paar Walnussbäumen. Wir warten einen Moment, bis das Tor hinter uns wieder schließt, dann fahren wir vor.

Heute feiern wir den Winteranfang und werden zum Dessert, wie es die Tradition verlangt, die letzten Wassermelonen des Jahres essen. Bis gestern hatte ich noch nie von diesem Festakt gehört und manchmal kommt es mir vor als würden sich die Perser immer neue Dinge ausdenken, um einen noch besseren Grund zum feiern zu haben. Und auch das sieht mir leider ähnlich.

Es ist zu warm um den Kamin anzumachen, aber um draußen im Garten schwimmen zu gehen ist es zu kühl. Es ist ein schöner, großer Pool. Ich hätte Lust reinzuspringen. Die Kinder spielen alle zusammen im Poolhaus. Leyla ist die Jüngste, der Älteste, Cyrus, ist siebzehn, dazwischen fünfzehn Jungen und Mädchen, die sich kennen, seitdem sie Aleph sagen können. Das Haus gefällt mir. Es ist im Grunde wie eine große Wohnung mit Dach und erinnert mich ein bisschen an das Haus in dem Film Der Partyschreck. Bijan ist Architekt und hat alles selbst entworfen. Er ist ein gut aussehender Mann. Er sieht ein bisschen aus wie Jack Nicholson. So wie der Deutsche ständig übers Wetter redet, redet der Perser nämlich gerne übers Aussehen
„Siehst du gut aus.“
„Hast du abgenommen?“
„Dein Teint ist schön, aber deine Augen sehen müde aus.“
„Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Die sitzen heute viel besser als gestern.“
„Hast du etwas an deinen Augenbrauen verändert?“

und vergleicht sich und andere am liebsten mit Hollywoodstars. Es ist einfach und jeder weiß sofort wer gemeint ist. Schwierig ist es, wenn einem partout kein A-Klasse-Star einfällt; niemand will B- oder C-Klasse aussehen. Und natürlich wollen alle am liebsten genau so aussehen, wie ihr persönlicher Lieblingsstar. Roya sieht aus wie Meryl Streep in dem Film Die Brücken am Fluss. Es ist fast rührend, dass sie mir Angeboten hat, ich könne mir etwas von ihr zum Anziehen ausleihen. Ich glaube, ich passe nicht mal mit einem Bein in Royas Kleider. Ich trage wieder meine schwarze Hose und habe mir ein weißes Hemd von meinem Schwager geborgt und natürlich finden alle, dass ich sehr gut aussehe und wunderbar schlank geworden bin. Auf dem cremefarbenen Ledersofa sitzt die junge Ava Gardner. Al Pacino ist da, Susan Sarandon, mit braunen Haaren und mit noch etwas größeren Nasenlöchern, Dean Martin, Nana Mouskouri und mit sehr viel Phantasie ist auch Jean-Paul Belmondo da. Royas Mutter, finde ich, sieht so edel und schön aus wie Hildegard Knef. Aber Hildegard Knef kennt hier natürlich niemand und so sagen die anderen Royas Mutter sieht aus wie Gena Rowlands.

Es riecht nach Lorbeeren und Dill und Limetten und ich folge Ava und Nana in die Küche. Ich bin die Einzige, die Hosen an hat und ich bin auch die Einzige anwesende erwachsene Frau, die flache Schuhe trägt, aber ich habe ja auch keine Auswahl. Susan hat sich eine Schürze umgebunden, damit ihr champagnerfarbenes Seidenkleid keine Fettflecken bekommt. Mit einem Handgriff nimmt sie den Lammbraten aus dem Ofen und mit dem zweiten Handgriff dekoriert sie die kleinen Kartoffeln auf der Platte um den Braten herum. Wie eine einstudierte Abfolge von Geschehnissen überreicht sie mit dem dritten Handgriff meiner Schwester die Platte, die meine Schwester dann in den Speisesaal bringt und auf den Tisch stellt. Der Tisch ist nicht gedeckt, nur eine Tischdecke mit orientalischen Motiven in weiß und blau liegt darauf und dann sollen noch alle Speisen darauf gestellt werden. Neben dem ovalen Esstisch steht ein kleinerer, quadratischer Tisch auf dem Teller, Besteck, Servietten, Gläser, ein gefüllter Eiskübel, Whiskey, Cola und Wasser bereit stehen.

Susan ist wieder am Ofen und holt das goldfarbene Safran Huhn raus. Zwei große Reistöpfe stehen am Boden und Nana und Ava gehen in die Knie; es gibt Bogholi Polo und Safran Reis. Roya steht vor dem Herd zusammen mit meiner Schwester und sie richten Ghorme Sabsi und Choreshteh Bademdjun in Schüsseln an, die groß genug sind um eine Armee zu versorgen.

„Bijan-Joon, wenn die Kinder wollen gibt es auch Spaghetti Bolognese.“, ruft Roya ihrem Mann zu, „sagst du ihnen das bitte. Und Schnitzel und Pommes Frites.“ Roya dreht sich zu ihrer Küchenhilfe, die ihrer Statur und ihrem Dialekt nach zu urteilen wohl aus Afghanistan kommt, und bittet sie das Essen für die Kinder anzurichten, wenn es so weit ist. Mein Schwager kann Reis nicht ausstehen und mag auch generell persisches Essen nicht so gerne und so nimmt Roya noch eine Pfanne in die Hand und ein frisches Stück Entrecote aus dem Kühlschrank, das sie ihm gleich braten wird. Wie bei einer mathematischen Formel, bei der es nur eine Möglichkeit gibt habe ich auch noch nie ein persisches Essen erlebt, bei dem es sich anders abspielt. Die Frauen richten alle zusammen das Essen an und servieren, während die Männer den Tisch vorbereiten und sich um die Getränke kümmern. Als ich meinem französischen Freund Vincent einmal aufgezählt habe, welche persischen Wörter identisch sind mit französischen (danke heißt zum Beispiel Merci, Steckdose heißt prise) hat Vincent mich auf eine sehr wesentliche Gemeinsamkeit unserer Kulturen aufmerksam gemacht, als er mir erzählte, dass die Etikette der französischen Bourgeoisie sagt: Frauen dürfen bei Tisch nur Wasser und essen servieren. Niemals Wein, dass muss der Mann machen. Ich mag Etiketten und es macht mir nichts aus meinen Nichten den Teller anzurichten, oder meinem Schwager.

Die Kinder sitzen alle zusammen im Fernsehzimmer um den quadratischen Couchtisch herum. Als ich meinen Nichten ihre Teller bringe zwinkert mir Minou zu und führt mich mit ihren Augen an den französischen Fenstern entlang auf den Sessel, auf dem ein großer, schlanker Johnny Depp – aber mit ganz kurzen Haaren – sitzt. Das muss der Jungen sein, der ihr gefällt.

Als wir uns auf den Weg machen ist es fast Mitternacht. Die Kinder wollen unbedingt alle zusammen bleiben, bei Roya und Bijan. Und dafür müssen sie nicht mal lange flehen. Ich weiß nicht wie Roya siebzehn Kinder zudecken wird?

Jetzt, wo wir ohne Kinder sind, verspricht mir mein Schwager eine kleine Stadtrundfahrt. Um Tajrish herum ist so viel los, wie beim Karneval in Rio. Die ersten Ashura Festzüge sind unterwegs. Ich sehe Männer die riesige Eisengestelle auf ihren Schultern tragen und dabei singen, andere Trommeln vorweg, andere tanzen hinter her. Die Gestelle sind geschmückt, wie die Kutschen in den Sissi Filmen. Ich sehe Fackeln und dann brennen meine Augen.

„Kurbelt die Fenster hoch.“, sagt mein Schwager. Die ersten, schweren Tränengasattacken dieser Tage nehmen in dieser Nacht ihren Anfang. Und der Gesang wird immer lauter.
„Was regnet es? Blut.
Wer? Die Augen.
Wie? Tag und Nacht.
Warum? Aus Trauer.
Trauer um wen?
Trauer um den König von Kerbela.“

Hier gibt es keinen Gott

„Erst werden Sie uns ficken und dann werden Sie uns töten. Wenn wir Glück haben, werden Sie uns erst töten und dann ficken. Kommt, steigt ein, los geht’s.“, sagt Roya und lächelt. Es ist kein zynisches Lächeln. Sie knotet ihr Hermès-Tuch unter ihrem Kinn fest zu und öffnet die Fahrertür ihres weißen Landrovers.

Ich habe mir das gut überlegt. Seit dem zwölften Juni gehen Millionen Iraner auf die Straßen. Ich habe bisher nicht mehr getan, als in Paris alles im Internet zu verfolgen. Jetzt bin ich in Teheran. Es ist der siebenundzwanzigste Dezember; der siebte Todestag Ayatollah Montazeris und der Tag der Ashura. Ich könnte mir nicht mehr im Spiegel in die Augen schauen, wenn ich mir hier heute auch alles nur von Voices of America nacherzählen lassen würde. Oder von meinem Schwager.

Ich bin früh aufgestanden. Tadj Bibi hat mir einen süßen Limonensaft gepresst und mir einen Granatapfel geschält und ich muss zugeben, ich habe mich an diesen Komfort schon gewöhnt. Ich nehme meinen Presseausweis und lege ihn zusammen mit meinem deutschen und mit meinem iranischen Pass unter meine Matratze. Wenn man mich mit dem Presseausweis erwischt, komme ich direkt ins Evin. Die Bärte fragen nicht lang, über was ich berichte. Journalistin, das reicht um zu hängen. Die Deutsche Regierung wird mir nicht helfen können, wenn ich auf iranischem Boden verhaftet werde, das weiß ich. Durch meine Doppelstaatsbürgerschaft gelten für mich im Iran die selben Gesetze wie für alle anderen Iranerinnen. Und das diese Gesetze keine Gesetze sind, ist ja klar.

Ich muss noch ein Mal versuchen die E-Mail an Jenny Holzer abzuschicken. Seit Tagen geht das Internet nicht richtig. Es braucht Stunden, um eine stinknormale E-Mail ohne Anhang zu versenden; purplediary, das habe ich natürlich ausprobiert, auch um zu sehen, was meine Pariser Freunde so treiben, öffnet sich immer. Die Mail geht wieder nicht durch, was mich nervös macht. Denn, wenn ich aus Teheran zurückkomme, muss ich am nächsten Morgen von Paris weiter nach Berlin, um Jenny Holzer zu interviewen. Ich lösche das Wort Interview, die Mail geht durch. Die Bärte wissen doch überhaupt nicht wer Jenny Holzer ist. Das Beherzigen der Truisms könnte ihnen aber nicht schaden. Und den Butt-Jahreskalender würde ich ihnen auch gerne ins Büro hängen: Es gibt einen Stadtteil in Teheran der heißt Ghazvin und es wird erzählt, dass man sich in Ghazvin niemals bücken darf, sonst hat man gleich Einen hinten drin stecken. Analverkehr ist kein Tabu. Die Machthaber im Iran sind solche Hypokriten. Als wir bei Roya und Bijan waren, hat Nana (sie ist Frauenärztin) erzählt, dass Geschlechtsumwandlungsoperationen im Iran zu hundert Prozent vom Staat bezahlt werden. Nicht weil die Machthaber Transsexuellen gegenüber so aufgeschlossen sind. Die sorgen nur lieber dafür, dass beispielsweise aus einem Schwulen eine Frau wird, damit kein unnötiges Aufsehen erregt wird, wenn er mit einem Mann zusammen ist. Unbürokratisch und kostenfrei wird der Name geändert und ein neuer Pass mit passendem Geschlecht erstellt. Und dann glaube ich können er beziehungsweise sie und er auch heiraten.

Erst werden Sie uns ficken und dann werden Sie uns töten. Wenn wir Glück haben werden Sie uns erst töten und dann ficken.

Es klingt erst Mal lustig, so selbstverständlich wie Roya das so dahin sagt. Und es gehört hier zum Alltag. Ob Mädchen, Jungen, Frauen oder Männer – die neueste Foltermethode ist, sie zu vergewaltigen und dann ganz schnell wieder freilassen, damit es sich schnell herumspricht und die Leute aufhören, auf die Straßen zu gehen. Nana hat auch von den Verletzungen erzählt, die sie behandelt und das manche Mädchen so schlimm aufgerissen sind.

„Komm, steig, ein.“, sagt Nana. Außerdem sind noch Johnny, Royas Sohn, Roya natürlich, Ava, Susan und Al Pacino mit dabei. Meine Schwester wollte heute lieber zu Hause bleiben und mein Schwager geht mit ein paar anderen Männern zu Fuß. Nana öffnet die Kofferraumtür, Johnny geht vor und dann nimmt mich Nana bei der Hand. Mein Atem bleibt mir im Hals stecken. Mir ist natürlich klar, dass Roya Recht hat. Wenn wir gefangen genommen werden, dann könnte uns genau das blühen. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf umzudrehen. Niemand wird es mir Übel nehmen. Ich bin aus Paris, zu Besuch. Ich habe noch nie Krieg gesehen. Ich habe noch nie ein Gefängnis von innen gesehen, und wie schlimm Teheraner Gefängnisse sind, dass muss man sich gar nicht ausmalen. Ich habe zum Beispiel gehört, dass im Evin die weiße Folter angewandt wird und das muss effektiver sein als jede körperliche Gewalt. Die weiße Folter vertraut auf die Methodik, die Gefangenen innerlich zu brechen, ohne äußerliche Gewalt anzuwenden: weiße Flure, weiße Türen, weiße Zellen. Die Gefangenen tragen weiße Kleidung und wenn sie auf Toilette müssen, dann müssen sie einen weißen Zettel unter der weißen Tür hindurch schieben. Die Wärter – weiß gekleidet natürlich – führen die Gefangenen wortlos auf eine weiße Toilette und reichen ihnen weißes Toilettenpapier. Das Essen wird auf einem weißen Tablett in die weiße Zelle auf den weißen Tisch gestellt: weißer Reis, serviert auf einem weißen Teller. Niemand spricht mit den Gefangenen und auch die Gefangenen dürfen mit niemandem sprechen. So lange, bis sie die totale Leere in den Wahnsinn treibt und sie bereit sind zu gestehen. Alles, selbst, wenn es gar nichts zu gestehen gibt.

Soll ich nicht doch lieber umdrehen? Ich habe noch nie Lebensangst verspürt, oder mit eigenen Augen brutale Willkür gesehen. Nana schon und Roya natürlich auch. Jeder eigentlich, den ich in Teheran kenne. Seit der islamischen Revolution 1979 war jeder, den ich kenne, mindestens ein Mal im Gefängnis gewesen, ausgepeitscht worden oder mit einer Waffe bedroht worden. Und seit dem zwölften Juni 2009 war jeder, den ich kenne, auf den Straßen demonstrieren gewesen. Sogar meine Tante Iran; kurz nach den Wahlen und den ersten Unruhen ging sie an die Teheraner Universität. Nicht um zu demonstrieren, aber aus Neugierde. Tante Iran ist knapp siebzig, aber man sieht es ihr nicht an, dass sie Mossadegh und die Demokratie überlebt hat, und den Shah, die islamische Revolution, Khomeini. Und eigentlich interessiert sie sich für all das auch gar nicht. Nur Mossadegh, den mochte sie gerne, alle Anderen – „schlimme Verbrecher!“, sagt sie immer. Doch da, vor der Teheraner Universität, das wäre fast der letzte Spaziergang ihres Lebens gewesen. Als die Basijis Tante Iran festnahmen, fanden sie in ihrer Manteltasche einen prallen Geldumschlag. Das ist so Tante Irans Art. Sie mag Bargeld und sie mag es sehr viel davon bei sich zu tragen. Sie gehört zu der Sorte Teheraner, die ihre alten Scheine am Basar in frische Scheine umtauschen. Abgesehen davon kann man im Iran sowieso nur Bar zahlen. Da es keinen internationalen Bankverkehr gibt, gibt’s auch keine Kreditkarten. Die Basijis greifen also meine Tante Iran auf und beschuldigen sie sofort sie wolle mit dem Geld die Studenten unterstützen. Meine Tante Iran hat sich nie der islamischen Kleiderordnung untergeordnet und trägt seit ich sie kenne kunterbunte Kopftücher, immer dieselbe Rayban mit grün getönten Gläsern, immer den selben, beigefarbenen Trenchcoat – sie behauptet darin sehe sie aus „wie Catherine Deneuve, in Belle du Jour“ – und rosarot lackierte, spitze Fingernägel. Und Tante Iran behauptet natürlich auch, ihr Outfit hätte aus ihr eine Partisanin gemacht.

Die Basijis zwangen Tante Iran auf die Knie, knebelten ihr die Arme im Rücken zusammen, verbanden ihr die Augen und traten sie dann in einen Bus. Neun Tage war sie spurlos verschwunden, bis ihr Sohn einen Anruf bekam, er könne seine Mutter am Evin Gefängnis abholen. Evin war das Letzte von drei Gefängnissen, das meine Tante in diesen neun Tagen zu sehen bekam. Und im Vergleich zu den Beiden davor, sagte sie, „ist Evin wie das Ritz in Paris.“ Tante Iran hat mir von der weißen Folter erzählt, und sie sagt sie hätte sie durchgehalten. Und von Tante Iran weiß ich auch das im Evin Hof Walnussbäume wachsen und das über dem Evin Eingang Hier gibt es keinen Gott und über dem Ausgang Vergessen steht.
„Komm“, sagt Nana und dann reicht mir Johnny die Hand, der schon im Kofferraum sitzt. Ich steige ein.

Keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Auf der Dating Straße hat sich ein Stau gebildet. Aber ich sehe keine Liebesbotschaften durch die Luft fliegen. Wir fahren langsam Richtung Tajrish und ich sehe wie dutzende Lämmer zum ausbluten auf dem Bürgersteig zwischen den Bäumen an einem Seil hängen. Das Fell, fein säuberlich abgezogen, trocknet in der Sonne auf dem Trottoir.

„Die Lämmer werden später gebraten und dann verteilt, das ist Nasri.“, sagt Nana. Ich höre Imame das Mittagsgebet singen. Ein Mann steht mitten auf der Kreuzung und reicht Tee in die Autos. Noch mehr Männer stehen auf dem Boulevard und reichen Gebäck und Gurken.
„Was machen die?“, frage ich.
„Das ist alles Nasri.“, sagt Nana. Ich war noch nie zu dieser Jahreszeit im Iran und kenne diesen Brauch nicht und Nana erklärt mir: am Ashura Wochenende werden an alle Menschen Speisen und Getränke umsonst vergeben. „Das ist in etwa so, wie wenn in ganz Paris aus allen Fenstern und aus allen Türen jedem vorbei gehenden Essen und trinken gereicht wird.“, sagt Nana.

Ich beobachtete eine bunte Menschenschlange vor einer Haustür. Und wie sie sich langsam auflöst. Samoware stehen auf dem Trottoir und ich beobachte, wie ein kleiner Junge weiße Becher verteilt. Wir fahren über die Kreuzung und auf die Hafez Brücke hoch und es wird laut und unruhig. Frauen, Männer, Kinder laufen uns entgegen. Sie halten den Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand zum V geformt straff in die blaue Luft. Und mit der linken Hand pressen sie sich weiße Tücher vor Mund und Nase. Grüne Tücher sehe ich nicht viele. Mein Körper zittert. Ich fühle mich nackt und nass, als hätte mich jemand mit eiskaltem Wasser übergossen. Und als ich die Gesänge höre schießen mir die Tränen in die Augen.

„Moh nemitarsim, moh bahamdigeim – Azadi, Azadi“ (Wir haben keine Angst, wir sind zusammen – Freiheit, Freiheit),
die Frauen, Männer und Kinder singen im Chor und singen weiter,
„Tod dem Diktator, Tod Khamenei – Freiheit, Freiheit. Sie singen als wäre es ein Festlied; fröhlich, laut und stark und dann höre ich Ahmadi bye bye, Ahmadi bye bye, Ahmadi bye bye, Ahmadi bye bye

„Kurbelt die Fenster hoch, schnell.“, sagt Roya.
„Schau, da hinten brennt es. Wenn du Tonnen brennen siehst, dann weißt du, dass wieder Tränengas gesprüht wurde. Feuer nimmt dem Gas die Schärfe, verstehst du?“, erklärt mir Nana, die jetzt noch dichter neben mich und Roya’s Sohn aufrückt.

Wir stecken fest, am höchsten Punkt der Hafez Brücke. Die Hafez Brücke ist nicht besonders breit, aber es haben sich fünf nicht geradlinig verlaufende Spuren gebildet, die still stehen. Kein Mensch kommt uns mehr entgegen. Der Chor verstummt. Hafez, wenn der wüsste, was sich hier abspielt. Zusammen mit Rumi und Khayyam ist Hafez der bedeutendste Dichter der Perser. In Paris kennen Khayyam nur wenige, aber Hafez und Rumi sind sehr in Mode. Letzten Monat war ich auf einer Parfumpräsentation; ich war nur dort, weil ich einer Freundin, die dafür Tilda Swinton fotografiert hat, versprochen habe zu kommen. Heutzutage wird ja alles aufgeblasen und so fand die Parfumpräsentation in einem Seitenflügel vom Louvre statt. Der Parfumverpackung war ein Gedicht von Rumi beigelegt. Und dann fand ich heraus, dass Tilda Swinton , die Parfumbotschafterin – so heißt das heute Irrwitzigerweise – ein Fan von Rumi ist und das mit dem Gedicht beilegen ihre Idee war. Ich erzähle Nana davon. Nana verehrt Rumi und besucht drei Mal die Woche die Rumi Klasse, in der Rumi Gedichte gelesen werden und seine Moral auf heutige Gültigkeit überprüft wird. Nana sagt, „ohne meine Rumi Klasse hätte ich Teheran vielleicht schon verlassen.“ Und zum ersten Mal sehe ich Sehnsucht in Nanas Augen.

„Die Basijis kommen! Da! Rechts! Bleibt ruhig, lasst die Fenster oben. Versteckt Eure Handys, lasst eines draußen, ein olles. Türknöpfe runter.“ Royas Anweisungen kommen schnell, aber ruhig. Sie hat eine für Perserinnen typische Stimme, die so klingt wie ein guter Whiskey schmecken sollte.

Jetzt sehe ich sie auch, die Basijis. Sie kommen auf roten Motorrädern angerauscht, auf dem Kopf schwarze Helme und in jeder Hand ein Schlagstock. Sie sitzen zu zweit, dritt, teilweise zu viert auf einem Motorrad. Sie sind klein, wie Zwerge. Sie fegen zwischen den Autos hin und her und schlagen wahllos mit den Schlagstöcken auf die Autos ein, und auch auf alles Andere was sich dazwischen bewegt. Sie fahren an uns vorbei und nicht sehr viel weiter reißen sie einen Mann aus seinem Auto. Einen jungen Mann. Eine junge Frau steigt aus einem anderen Auto aus. Sie will dem jungen Mann helfen und rennt den Basijis hinter her. Einen erwischt sie am Ärmel. Zwei Basjis knüppeln den jungen Mann vor sich her, der mit dem Ärmel verpasst der jungen Frau eine. Sie bleibt nicht stehen. Dem Peugeot neben uns zerschmettern paramilitärische in Zivil gekleidete die Heckscheibe. Sie haben auch Motorräder. Ein Auto hupt. Ein schlammbrauner Pekan. Ich sehe zwei Finger aus dem Fenster ragen, die zu einer Frau im Hijab gehören. Zeige- und Mittelfinger sind mit der iranischen Flagge umwickelt. Ein A ohne Querstrich.

„Was bedeutet das?“
„Das sind Ahmadineschads gekaufte Anhänger.“, sagt Roya. „Diese Heuchler. Sie kassieren ein, zweihundert Dollar dafür, dass sie sich dieses Kackband um die Finger wickeln. Die trauen sich was. Warte nur, bis die Basijis weg sind. Dann hören die auf zu hupen und kurbeln aber ganz schnell ihr Fenster wieder hoch.“

Plötzlich Stille. Kein Motorradwummern, keine Schlagstockschläge. Sie kamen aus dem Nichts und verschwinden ins Nichts. Obwohl ich versucht habe jede Sekunde alles genau zu beobachten, habe ich sie weder kommen sehen noch habe ich gesehen in welche Richtung sie sich aufgelöst haben. Nur die junge Frau läuft noch zwischen den Autos die Brücke hoch. Sie schließt die offene Fahrertür des jungen Mannes, den die Basijis geschnappt haben und steigt in ihr Auto ein. Ich kann rote Flecken auf ihrem beigefarbenen Mantel sehen.

Durch die Ruhe löst sich der Stau und wir fahren langsam die Hafez Brücke hinab, die auf die Chiabune Hafez führt. Eine breite Allee, auf der jetzt Autos brennen und Menschen aufgebracht im Zickzack umher rennen. Schüsse kann ich keine hören. Ein Bus liegt ausgebrannt auf der rechten Fahrbahn. Ich sehe Helme auf dem Trottoir. Ein Mann bückt sich, hebt einen Helm auf und hält ihn wie eine Trophäe mit ausgestrecktem Arm in die vom Rauch gelblich gefärbte Luft. Roya beschließt links herum abzubiegen. Raus aus dem Tumult.
„Allahu Akbar, wir haben Glück gehabt.“

Die vierspurige Straße, die wir jetzt hinunter fahren ist menschenleer. Ich drehe mich nach hinten um und sehe Tonnen brennen. Und Menschen, die scheinbar ziellos umher rennen. Unsere Straße ist Tod. Niemand, außer uns; wie in einem Western: die ganze Stadt ist ausgestorben. Nur eine Gang hat überlebt. Diese Gang sind wir. Zumindest fühle ich mich gerade so, hier in dem Kofferraum des weißen Landrovers, der nicht gerade unauffällig ist. Das Adrenalin lässt etwas nach und Nana lacht schon wieder ihr fröhliches Nana Mouskouri lachen. Roya kurbelt das Fenster eine halbe Hand breit herunter. Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch aus dem Spalt. Meine Hände sind nass, als hätte ich sie gerade gewaschen, so nass. Wir fahren langsam. In den Seitenstraßen sehe ich noch mehr Menschen rennen.

„Das ist das Schlimmste,“ sagt Roya, „wenn du gefangen bist, in einer dieser Seitenstraßen. Das sind nämlich fast alles Sackgassen. Und dann schlagen die dich einfach tot.“
Und da sind sie auch schon wieder. Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Basijis. Sie stehen auf der Fahrbahn behäbig neben ihren Motorrädern. Wir fahren langsam an ihnen vorbei. Ich höre auf zu atmen. Sie kommen. Und sie kommen schnell.

„Nicht umdrehen, nicht hin schauen.“, sagt Roya. Ihre Whiskeystimme bleibt ruhig. Die Basijis kommen und kesseln uns ein. Sie kreisen um uns herum, wie Geier um ihr Aas. Roya steigt ohne unnötige Hast auf die Bremse bis wir stehen und stellt den Motor ab. Alles geht so schnell, ich weiß nicht mal, wie und wo die Basijis ihre Motorräder abgestellt haben. Plötzlich stehen die Basijis um den weißen Landrover herum.
„Mach die Türe auf“!“, schreit einer.
„Los, aussteigen!“, schreit ein Anderer.
„Aussteigen, alle, los!“

Roya hat vergessen ihr Fenster hochzukurbeln, nachdem sie die Zigarette raus geworfen hat. Ein Basiji springt zur Fahrertür vor und versucht seine Hand durch den Spalt zu drücken um an den Türknopf ran zu kommen. Er ist zu klein. Obwohl er sich auf die Zehenspitzen stellt, kommt er nicht rum. Seine Kalaschnikow knallt gegen die Fahrertür. Roya unbeeindruckt. Sie zieht den Zündschlüssel raus und legt ihn in ihre rechte Hand, die sie mit der Handfläche nach oben zeigend über der Kupplung schweben lässt. Ich kann niemanden von uns hören. Nana nicht und Johnny nicht. Und Ava, Al und Susan auch nicht. Als wären sie nicht da.

Ein Basiji geht vor der Kofferraumtür auf und ab und versucht mich zu fixieren. Ich habe meine Sonnenbrille auf. Wir alle haben unsere Sonnenbrillen auf. Nur Roya nicht, sie zieht ihre bewusst ab.
Er starrt mich an, dieser Basiji, mit unheimlich schwarz unterlaufenen Augen.

Er starrt mich an und lässt dabei eine Eisengliederkette, so breit wie meine Oberschenkel, zwischen seinen Händen hin- und her gleiten, so leichtfertig, als hantiere er mit einer Feder. Ich höre jedes einzelne Glied aneinander schlagen. Ich werde nicht einen Schlag aushalten, das ist klar. Ein brutaler, scharfgemachter Hund ist das, dem sie jeden Morgen eine Unze Opium unter die Zunge legen. Und dann setzten die ihn wieder auf Entzug, damit er unkontrollierbar und aggressiv auf alles einschlägt.

„Habt ihr Handys, Kameras? Habt ihr Fotos gemacht?“ Ein relativ großer Basiji hat jetzt das Wort ergriffen und ich kann hören, dass er sehr schlechtes Farsi spricht. Alle anderen Basijis haben eine Kalaschnikow umhängen, dieser hier hat zwei. Der Kleine, der vergeblich versucht Royas Tür aufzumachen, hat sogar noch einen Elektroschockstab. Ich habe noch nie solche Waffen in Aktion gesehen und ich kann das Gefühl nicht empfehlen, dass sich bei ihrem Anblick breit macht. Es ist nicht Angst, sondern Übelkeit, und man ist schnell bereit seinen rechten Arm herzugeben, nur damit sie aufhört – diese schlimmste Übelkeit, die ich je gespürt habe.

Der Tod ist für den, der sterben muss nicht so grausam, wie für die Hinterbliebenen und wenn man ständig mit dem eigenen Tod rechnet, dann nimmt man sich weniger wichtig.

Ich muss an meine Mutter denken, die Ärmste. Und an Siddhartha. Nanas Worte fallen mir wieder ein; als sie sagte, sie hält es im Iran nur aus weil sie drei Mal die Woche in die Rumi Klasse geht. Ich muss an die Begrüßung meiner Nichte Leyla denken, als ich sie vor neun Tagen zum ersten Mal von der Schule abgeholt habe: „Ich will das du bleibst bis wir tot sind.“

Der Tod, ich hoffe, dass er nicht früher kommt, als erwartet. Der Basiji hört nicht auf die Eisenkette vor meinen Augen durch seine Hände gleiten zu lassen.
„Los. Aussteigen habe ich gesagt. Habt ihr Fotos gemacht? Handys her. Los!“

„Agha, ich bitte Sie, schreien Sie nicht so.“, Roya spricht noch ruhiger als sie zuvor zu uns gesprochen hatte und lehnt sich leicht über den Beifahrersitz nach rechts, von wo aus der Wortführende Basiji durch das geschlossene Fenster auf uns einschreit. Roya beugt sich vor um dem Basiji besser in die Augen schauen zu können und dann öffnet Roya einen Fingerbreit das Beifahrerfenster und sagt,

„Agha, heute ist der Jahrestag meines Vaters, Gott habe ihn selig. Wir sind auf dem Weg zum Behesht-h Zahra.“

„Chanum, das ist kein guter Tag um auf den Friedhof zu fahren. Los! Kehren sie um! Fahren sie nach Hause!“

Nach Sonnenuntergang fahren wir noch Einmal los. Nana besteht darauf dass wir zum Pol-e Rumi fahren. Abgesehen von Nasri gibt es noch einen Brauch an Ashura: Schame Digaran, das bedeutet Abendbrot der Anderen: nach Sonnenuntergang werden zum Abschluss von Ashura Kerzen angezündet; für jede erloschene Seele Eine. „Das ist in etwa so, wie wenn in ganz Paris auf allen Bürgersteigen, Brücken und Straßen Kerzen brennen würden.“, sagt Nana.

Der Verkehr hat sich beruhigt. Niemand reicht mehr Essen oder Getränke, kein einziger Festzug ist zu sehen. Überall brennen Kerzen. Wir fahren an der Rumi Brücke rechts ran und gehen zu Fuß weiter. Nana holt vier Kerzen aus ihrer Tasche. Von mehr Ermordeten ist offiziell in den Nachrichten noch nicht die Rede. Aber es sind mehr. Und wen es heute nicht erwischt hat, der kann morgen sterben.