Als Hollywood noch Cojones hatte
Los Angeles, Zentrum, hinterer Teil. Kaputter Teil. Hier liegen nur noch dustere Parking Lots - und das Belsaco-Filmtheater. Kein Hollywood-Zeichen in Sicht. Ein guter Ort für die ganz spezielle Familienfeier, die heute ansteht: „Scarface“ wird endlich im Bluray-Format erscheinen - in der harten, ungeschnittenen Fassung. Und hier ums Eck würde Tony Montana, die Gangsterfigur, die Al Pacino damals geschaffen hat, heute leben. Illegal, versteht sich.
„Scarface“ aus dem Jahr 1983, Regie Brian De Palma, Drehbuch: der junge, völlig zugekokste Oliver Stone. Lose basierend auf dem Howard-Hawks-Klassiker über Al Capone, aber doch vor allem: das erste große Narco-Drama der Neuzeit. Pacino spielt einen Exil-Kubaner, der 1980 nach Miami rüber macht, und die Stadt ist ihm eine Pussy, die nur genommen werden will, und zwar hart. So avanciert er zum gefürchteten Drogenboss, stirbt dann aber in Jesus-Pose am eigenen Größenwahn. In der zweiten Hauptrolle: das Kokain. Oder „Yeyo“, wie es im Kubanischen heißt.
Ein paar Jungs aus der Nachbarschaft lungern am roten Teppich herum, soweit es der Security-Mann erlaubt. Dann kommt Tony, ihr Idol. Pacino hat heute Abend Spitzenlaune, er präsentiert seinen neuen Look: Schwarze Hose, schwarzes Jackett, lockeres Satinhemdchen, Kette, Ringe, ein schwarzes Stirnband: irgendwo zwischen Keith Richards und Johnny Depp im Piratenlook, dreißig Jahre später. Pacinos Teint ist schon nahe am Belmondo-Leder, seine Fingernägel sind ein bischen gelb, Nagellack ist es nicht. Sein Bauch blitzt ab und zu raus, wenn er die Hände zum Winken hebt. Für 71 Jahre ist der Bauch völlig in Ordnung.
Pacino ist der Filmstar, den man sich wünscht. Keine Alterspanik, keine Wand zwischen sich und den Rollen, die gespielt werden, keine Antworten, die davon handeln, wie es dem Hund zu Hause geht. Und: Alle Fragen werden gefälligst beantwortet. Das mexikanische Fernsehen hat am roten Teppich die dringendsten. Bitte, Herr Pacino, wie finden Sie denn den ganzen Narco-Krieg in Mexiko? Pacino antwortet zu leise, als das man mithören könnte, aber sein Gesicht ist das von Tony Montana: Aufgeregt, offen, hysterisch, Die beringten Hände fuchteln. Vom kühlen Michael Corleone aus „Der Pate“ ist nichts zu sehen. Pacino ist stolz auf seine alte Kokain-Oper. „Scarface“ hat ihn für immer an die härteste Gangster-Front geschickt.
Zum Klassentreffen ist Pacino natürlich nicht allein erschienen. Seine Kollegen und er laden zum Mini-Panel über ihr altes Meisterwerk. Auf der Bühne vier alte Männer, die noch aus den Zeiten des irrationalen Hollywood stammen. So ein Anblick ist heute selten. Die meisten amtierenden Stargesichter stehen momentan für Furzkomödien oder für Romantic Comedies, in einer Drogen-Sause spielt heute kaum jemand mit. Da ist der Agent erstmal dagegen.
Neben Pacino, der auf einem eigens gezimmerten Tony-Montana-Thron sitzt, hat Steven Bauer Platz genommen. Er war Pacinos rechte, kubanische Hand. Auch Martin Bregman, der Produzent, ist anwesend, Robert Loggia, Tonys Gegenspieler und Boss, und sein Drogen-Adjutant F. Murray Abraham, der Mann mit dem übelsten Gesicht der Welt. „Scarface“, da ist man sich einig, war damals zu viel für den guten Geschmack. „Hollywood mochte den Film nicht“, erinnert sich Abrahams. Selbst De Palma-Verfechterin Pauline Kael schrieb, der Film sei eine „Allegorie auf Impotenz“. Die Koks-Berge waren wohl zu hoch, die Gewaltszenen zu drastisch. Steven Bauer erzählt von Agenten in Hollywood, die unangenehm wurden, sobald der Film draußen war. Pacino kann sich an ähnliche Lästereien auf Parties erinnern. Doch der Film hat überlebt.
Pacino bedankt sich heute Abend bei denjenigen, die „Scarface“ dreißig Jahre am Leben erhielten. „Die HipHop-Gemeinde hat Scarface gerettet. Und ich glaube, jeder kann sich mit Tony Montana identifizieren„, sagt er. In der Tat: Tony genießt unter Rappern bis heute die tiefste Verehrung. Snoop Dog schaut sich „Scarface“ mindestens einmal im Monat an, Sean „Diddy“ Combs hat den Film nach eigenen Angaben 63-mal gesehen, Shaquille O’Neil feierte seinen 34. Geburtstag mit einer „Scarface“-Sause, Kanye West bekennt sich zum Montana-Tum. Und später auf der Party tritt dann Ludacris auf, mit seiner eigenen „Scarface“-Hommage.
Die Beliebtheit in der Hip-Hop-Welt ist nicht erstaunlich. Der Film erzählt heute noch davon, dass man als Immigrant oder als Lehman Brother im Prinzip dieselbe Gier besitzen muss, um in Amerika zu überleben. Mit dieser sehr persönlichen Angelegenheit Gier muss man zurechtkommen. Und wenn die Gier alle Grenzen überschreitet, ist das ein ebenso persönliches Problem. Davon handelt „Scarface“.
Einflussreich war der Film noch auf andere Art. Bis heute hält er den „Fuck“-Rekord. Das Wort wird alle 1,32 Minuten benutzt, insgesamt 226-mal. Ein ähnlich schönes, vulgäres Narco-Märchen hat es seitdem einfach nicht mehr gegeben. Das Film-Kokain, so heißt es, bestand übrigens nur zum Teil aus getrocknetem Milchpulver.
Draußen vor der Tür des Belsaco-Theaters warten noch immer die nächsten Tony Montanas, die Jungs aus der Nachbarschaft. Man weiß ja nie. „Vielleicht kommt er raus, zu uns.“ Einer trägt ein Armband mit der Aufschrift „The world is yours“ - Tony Montanas Motto, verewigt auf einer unfassbar kitschigen Skulptur im Film. Die Jungs vor der Tür wissen es genau: Wenn ihnen eines Tages die Welt gehören soll, ist Tony Montanas Weg der einzige, der ihnen offensteht.
[Bildunterschrift I: Selige Erinnerungen: Al Pacino in LA auf dem Tony-Montana-Thron, neben ihm Steven Bauer]
[Bildunterschrift II :Als Al Pacino 1983 zum kubanischen Gangsterkönig Tony Montana mutierte in „Scarface“, war das noch zu viel für den guten Geschmack. Heute lässt sich das Team von damals für seinen wiederveröffentlichten Klassiker feiern, und Pacino sagt: „Die Hip-Hop- Gemeinde hat uns gerettet.“]