Lindsay Lolita Lohan

Portrait
zuerst erschienen am 25. Juli 2010 in Welt am Sonntag, S. 16
Die Schauspielerin lebt den Mythos Hollywood: paparazziverfolgt, exzessiv, wild. Sie hat Berge von Klamotten und 1000 Jungs. Trotzdem ist Lindsay Lohan unglücklich und süchtig. Unsere Autorin hat sie getroffen. Am Pool und im Klub. Wo sonst

Vergessen wir die Knastbilder einen Moment. Denken wir an das Mädchen in Wildlederwestchen und Bikini. So sah ich Lindsay Lohan im April. Wir lagen zufällig nebeneinander am Pool eines Partyhotels in Palm Springs. Lindsay hatte unfassbar schlechte Laune. Der verdammte Helikopter zum Coachella Festival ließ auf sich warten. Also lag Lindsay beim Partypromoter, der schon den ganzen Nachmittag versuchte, seine hähnchenbraune Hand auf ihr Knie zulegen. Lindsay (noch ohne Alkoholfessel) beachtete den Typ nicht. Sie tötete ein paar Teenager am Poolrand mit Blicken. „Guck mal, das ist doch die Lindsay …“ Irgendwann sprang sie auf, ihre Fäuste geballt, ihr Wildlederwestchen flatterte zusammen mit den ellenlangen roten Haaren, die Beine staksten Richtung Mädchentruppe. Lindsay sah aus wie eine gefährlich schöne Hippie-Barbie-Puppe. Die Girls rauschten ab. Das war eine der Lindsays, die ich sah.

Die andere hatte ich ein paar Wochen vorher getroffen, in einem Klub in West-Hollywood. Ich kam mit Lindsay über ihr Kleid ins Gespräch. Soweit man mit Lindsay Lohan in ein Gespräch über ihr Kleid kommen kann. „Gefällt es dir - ja?“, fragte Lindsay schüchtern, die rechte Hand am Blackberry Bold, textend, ADHS-mäßig abgelenkt, wahrscheinlich auf TWITTER die ganze Zeit. Ich sagte „Ja, es gefällt mir.“ „Wirklich? Und wie findest du mich?“ - „Toll.“ - „Ja, echt?“ Lindsay hätte den ganzen Abend nichts anderes von mir verlangt, als zu sagen, wie toll ich sie finde. Sie hat eine Gier nach solchen Ansagen. Die hält selbstverständlich niemand lange aus. Dann sprang Lohan, ähnlich wie am Pool, plötzlich auf, um sehr eng und aussagekräftig ihren dünnen Arm um einen coolen Hollywood-Typen zu wickeln, der gerade reingeschneit war. Er flüsterte ihr was ins Ohr. Wahrscheinlich, dass sie toll sei. Lindsay warf ihren Kopf nach hinten, ihre gerade schwarzen Haare fielen ihr über die dürren Schultern, so als ob ein Glas umgekippt wäre. Sie lachte völlig übertrieben. Der ganze Klub konnte die Augen nicht von ihr lassen.

Was bedeutet es, wenn man sie liebt? Ist man Voyeur? Oder wünscht man sich heimlich ein exzessiveres Leben?

Wo auch immer Lindsay gerade ist, was auch immer sie macht, selbst im Gefängnis mit blassem Gesicht und orangefarbenem Anzug, Lindsay Lohan starren alle an. Im Internet, im Klub, auf der Straße. Warum das? Eine Möglichkeit: Sie ist die derzeit größte Projektionsfläche für alles, was besser nicht sein soll: Absturz, Sucht, Kontrollverlust, Drama, Ziellosigkeit. Lohan bedient wie kaum jemand den modernen Hollywoodmythos: paparazziverfolgt, jeden Abend auf Partys, Berge von Chanel-Klamotten, 1000 Jungs im Telefonbuch, trotzdem unglücklich. Und süchtig.

Die andere Möglichkeit: Lindsay fällt unter all den jungen Superstars auf, weil die gerade so easy und normal sind. „Twilight“-Vampir Robert Pattinson wäscht sich nicht die Haare, und seine Vampirin Kristen Stewart mag nicht so gern Abendkleider anziehen. Na dann.

Merkwürdigerweise wirkt Lohan neben diesen Nachrichten aus dem Nagelstudio wie die sublime Rebellin. Als sie wegen der Nichterfüllung der Auflagen nach Trunkenheit am Steuer Anfang Juli vom Gericht verurteilt wird, hält Lindsay so geschickt ihren Fingernagel mit der kleinen „Fuck You“-Aufschrift in alle erdenklichen Kameras, dass man sie für die Raffinesse bewundern muss. Sie ist frei, sie macht, was sie will.

Wie die Liebe für sie, so ist auch der Hass auf Lindsay Lohan enorm. Was bedeutet es, wenn man sie hasst? Hat man dann generell Freu­de am Nachtreten, so wie die „Los Angeles Times“? Lindsay sei letztendlich eine dieser Millionen ar­men Hollywoodkreaturen, die das Unterhaltungssystem der Stadt nun mal hervorbringt, die am Sunset Boulevard nachts herumwanken und wirres Zeug labern. Lindsay sä­he aus wie eine „Jazztänzerin, die in ihrem Auto lebt“ schrieb eine ihrer Kritikerinnen. In Filmen würde man sie ohnehin nicht mehr sehen.

Das wäre allerdings völlig egal. Lindsays Leben ist der Film. Eine perfekte Hollywood-Soap-Opera, deren Drehbuch sich niemand so ir­re ausdenken kann. Außerdem tauglich fürs Internet, jeden Tag gibt es einen neuen Lindsay-Film, nur ein paar Minütchen lang, auf TMZ oder so. Wer kann heute schon noch Spielfilmlänge aushalten? Der Cast: perfekt besetzt, er nennt sich Familie und ist dysfunk-tionaler, als jeder Arzt erlaubt. Da ist Vater Michael Lohan, ehemals kokainsüchtig, partyerprobt in Hollywood, gleichzeitig top-religiös und neidisch auf Lindsays Rampenlicht. Da ist Lindsays Mutter: Sie „managt“ ihre Tochter, versucht immer noch jünger als ihr Kind auszusehen und trägt dieselben Outfits wie die Tochter: möglich, dass Lindsay ihre Mutter daher mit einer großen Schwester verwechselt. Und dann ist da noch die kleine, hübsche und sehr traurige Schwester Ali, verlassen von allen, im ewigen Schlepptau gefangen.

In Lindsay Lohans Leben, davon erzählt die Soap, gibt es keine Grenzen. Und auch keine Konsequenzen (höchstens gesundheitliche). Dem zuzusehen ist faszinie­rend, eventuell abstoßend, aber faszinierend. Schuld, was soll das sein? Einsicht? In was?

Schon Lindsays Einmarsch in Lynwood Jail nahe Downtown Los Angeles vor ein paar Tagen zeigte: Es ging um die Fortsetzung der Se­rie. Lindsay hatte noch mal alles in Form gebracht: neue Blondtönung und neue Lippenaufspritzung. Ihre Fans: zur Stelle. Die „Lindsay, we love you!“-Schreie wollten nicht en­den, goldene Konfetti flogen ihr hinterher, wie einem Gladiator, der in die Arena steigt. Nach gefühlten Sekunden wussten wir alles, was in dieser Zelle passiert: Lindsay wür­de heute Spaghetti mit Broccoli es­sen und KitKat-Riegel bestellen können, „Der alte Mann und das Meer“ von Hemingway lesen, nicht twittern (weil Handys verboten sind), den von 90 auf 14 Tage ge­schrumpften Knastaufenthalt komplett auf „Adderall“ (ein Amphetamin für ihre Aufmerksamkeitsstö-rung AD HS) und „Ambien“ (ein Schlafmittel) verbringen. „Ich glaube, sie hat Panikattacken. Sie kam rein, lächelte uns an und heulte dann“, ließ eine Mitgefangene ausrichten. Ganz spurlos geht die Sache an Lindsay nicht vorbei.

Doch als Trost: Lohan weiß bereits, dass es doch eine Konsequenz ihres 14-tägigen Ausflugs gibt. Und zwar einen siebenstelligen Betrag, wie die „New York Post“ berichtete.

Gezahlt wird für ein großes TV-Interview NACH dem Gefängnis, und Gerüchten zufolge hat Lohan vor dem 20. Juli noch schnell ein „Vanity Fair“-Cover-Shoot plus Interview reingeschoben.

Das ist die Entertainmentindustrie: Je tiefer man fällt und je mehr Auskunft man über die Tiefe des Falls später geben will, desto reicher geht man aus der Sache raus. Die Verlockung, im Prinzip ständig zu „fallen“, ist höher denn je. Doch die Kunst und vor allem Lindsays Kunst ist es, die exakte Tiefe so auszuloten, dass man immer wieder hochkommt. Oder zumindest irgendwo hinkommt, rumsteht oder -liegt. Hauptsache, das Internet kann die Bilder gebrauchen.

Ein kurzer Blick auf Lindsays bisherige Karriere zeigt, dass die Auslotung dieser Tiefen immer fester Bestandteil der Marke Lohan war – mal abgesehen von Lindsays real existierender, starker Filmstar-Aura. Ich traf sie 2008 bei einer Party von Dolce & Gabbana in Cannes. Sie tauchte mit ihrer damaligen Freundin Samantha Ronson auf, die an diesem Abend Platten auflegte. Lindsay trug etwas Grünes, sehr Kurzes. Für andere eher ein T-Shirt. Nicht an Lindsay. Ihre Augen leuchteten grün durch die Partydunkelheit, die roten Haare gaben den Rest. Lindsay verhexte den Raum, ihre Verführungskraft lag auf der Skala etwa da, wo Elizabeth Taylor einst rangierte. Oder Marilyn Monroe.

Exfreund Stavros Niarchos, griechischer Reedereierbe, lungerte auf einem Sofa herum, es dauerte fünf Minuten, bis Lindsay auf Stavros Schoß saß und die anderen Anwesenden (Puff Daddy Naomi Campbell, Valentino…) aufmerksamkeitsmäßig ausstach. Lindsay hatte ganz nebenbei in Sekunden ein filmreifes Drama kreiert: Ihre Freundin Samantha musste die ganze Nacht oben von der DJ-Kanzel mit ansehen, wie ihre Freundin sich über ihre Präferenzen nicht mehr so sicher schien. Besser könnte ein Skript gar nicht anfangen.

Zu diesem Zeitpunkt existierte der Kinderstar Lindsay schon lange nicht mehr. Mit „Parent Trap“, „Freaky Friday“ und „Mean Girls“ hatte die kleine Rothaarige so ziemlich alle Kritiker zum Schwärmen gebracht. 2005, als die Komödie „Herbie Fully Loaded“ anstand, schwänzte Lohan Pressetermine, wegen „undisneymäßigem“ Verhaltenreagierten die Studios bockig.

Lindsay hatte eine andere Passion gefunden. Sie feierte sich durch Hollywood, lebte zwei Jahre im „Chateau Marmont“, bald entstand das erste ikonische Lindsay-Foto: ohnmächtig von sonst was, im Kapuzenpullover, fotografiert durch die Heckscheibe des in LA üblichen SUV Escalade. Daraus ergab sich in klassischer Hollywood-Abfolge: fünf Monate Aufenthalt in den völlig wirkungslosen Rehab-Kliniken „Promises“ und „Cirque Lodge“.

Doch es war auch der Moment, in dem aus dem stürzenden Teenie-Star eine andere Person zu sprechen begann: die einer jungen angstlosen Wilden, die sich andere Mädchen in den Provinzen weit weg vom Sunset Boulevard anschauen konnten, wenn sie nicht weiterwussten.

Als Lindsay begann, Samantha Ronson zu daten, wurde ihr die Lesbenfrage mehr als einmal gestellt. Lindsay antwortete, wie eine weise Königin: „Ich will mich noch nicht festlegen, du weißt doch nie was passiert - morgen, in einem Monat, in einem Jahr.“ Für diese Art der Einsicht, dass man eben im verdammten Jetzt leben muss, um glücklich zu sein, brauchen andere ein paar Millionen und einen Guru.

Lindsay wusste das mit 22. Und wenn man sie so sieht, auf Tanzflächen, Plüschsesseln oder Pool-Liegen dieser Welt, muss man gelegentlich an Andy Warhols wunderschöne und prägende Muse Edie Sedgwick denken. Und dieser Satz von Edie würde Lindsay sicher gefallen. „Ich rebelliere ja gar nicht. Ich versuche nur, einen anderen Weg zu finden.“