10249 Berlin

Essay
zuerst erschienen am 21. Juli 1997 in jetzt-Magazin der Süddeutschen Zeitung

In keiner Millionenstadt der Welt sind die Mieten so billig wie in Berlin. Nach drei Wochen Wohnungssuche habe ich letztes Jahr über Inserat meine 100 Quadratmeter Wohnung in gutbürgerlicher Umgebung gefunden, mit Balkon, Parkett und Zentralheizung für 1000 Mark. Für sowas kann man in Kalkutta lange suchen. Ja, es gibt sie immer noch, die 164-Mark-Wohnungen mit Ofenheizung und Toilette indisch (jenseits des Ganges).

Billige Mieten haben aber auch schlimme Folgen für die Stadt: Die schrecklichen Berliner Künstler, die seit Jahrzenten rostige Eisenplatten zusammenschweißen und es irre lustig finden, als schräge Dilletanten-Combo ihre Gitarren nicht spielen zu können, oder einen experimentellen Super-8-Film nach dem andern zu verwackeln, oder Recycling-Mode aus Müllsäcken zu basteln. Zu Recht landen diese Künstler dann bei Arabella Kiesbauer als „Schrilli der Woche“. Und das ist wohl die niedrigste Lebensform, in der man auf dieser Erde existieren kann. Diese Berliner Künstler können nur dank des billigen Wohnraums immer weitermachen. Denn von dem Schmarrn kann man natürlich keine teure Wohnung bezahlen.

Wer kaum Miete zahlt, muß auch keine Kompromisse machen. Hartnäckig kann er dem Traum nachhängen, sein Leben als Künstler zu verbringen, unberührt von anhaltender Erfolglosigkeit.

Ja, billige Mieten sind gefährlich. Aber interessant ist sie auch, diese Parallelwelt der Karriere-Verweigerung. Immer mal wieder steige ich in einen dieser Keller ohne Namen, wo Dichter mit Bierflaschen in der Hand eigenartige Sex-Lyrik vortragen. Zum Glück ist es dunkel, in Berlin ist es immer dunkel, so sieht man nicht, wie der Dichter dabei rot wird. Dann muß ich lächeln und bin glücklich, daß sich bestimmte Sachen nie ändern. Zum Beispiel Englischlehrer, die Beatles hören, das Plop meines alten Toaströsters und verklemmte, zittrige Dichter, die, man glaubt es kaum, irre hübsche Freundinnen haben, die alle Jasmin oder Yvonne heißen.

Da es furchtbar viele von diesen Kellern, Gallerien [sic] und umfunktionierten Wohnungen in Berlin gibt, ist man als Konsument allerdings der Depp. Jeden Tag gibt es allein vier offizielle Dichterlesungen, dazu unzählige Underground-Veranstaltungen. Neunzig Prozent davon sind naturgemäß Schrott. Und da sich dann auch alles verläuft, taugt eine langweilige Vernissage noch nicht mal als gesellschaftliches Ereignis, wo man wenigstens alle treffen würde. Ein kleiner eisiger Wind der Marktwirtschaft würde da für ein wenig Ordnung sorgen.

Aber andererseits ist dieses Überangebot auch großartig. In welcher Stadt gibt es mindestens zwei Schwimmbäder im obersten Stockwerk, die bis Mitternacht offen haben, einen Laden für Büffelfelle und einen für Pumps bis Größe 45? Wo sonst gibt es Clubs, bei denen man zu Drum&Bass auf den Fluß schauen kann, der silbern glänzend vor sich hinfließt? Und dann die S-Bahngleise, mit ihren Biotopen rechts und links, wo die Füchse aus Brandenburg in die Stadt schleichen, um den Flamingos im Zoo die Beine abzubeißen. In Städten, wo Grund und Boden teuer ist, hätte man die Wildnis an den Schienensträngen längst bebaut, und im Laden mit den Büffelfellen wäre eine Videothek. Vielleicht ist es doch nicht so schlecht mit den billigen Mieten.