Peking per Pedal
Vermutlich haben die Chinesen die Statistik erfunden, ihre schiere Zahl gibt ihnen immer recht: Millionen Rad-Fahrer können sich nicht irren. Jetzt bin ich auch einer von ihnen. Ich trete in die Pedale, und die Welt macht plop. Da ist sie, die Straße, die man, obwohl eigentlich ein fester Zustand, ja nur in Bewegung wahrnimmt. Vor mir plaudern zwei Lastenradler miteinander, auf ihren Ladeflächen stapeln sich runde Steinkohleblöcke. Der gesamte Brennstoff Pekings wird mit dem Dreirad ausgeliefert, ebenso die lebenden Schweine und Hühnr. Und nachts, wenn keiner zusieht, kommen so auch die Särge in die Häuser der Verstorbenen.
Die Kohlelieferanten, zwei alte, zähe, staubige Arbeiter, halten den ganzen Verkehr auf. Die Verkäuferin mit weißer Strumpfhose und Hot pants neben mir überholt. Auch der Beamte mit den Schwitzflecken in den Achseln seines weißen Hemdes wird ungeduldig. Mit Tausenden anderen treibe ich an der großen weißen Pagode im Beihai Park vorbei - eine der wenigen grünen Nischen in der Stadt, in der man sich ausruhen kann. Gleich dahinter taucht ein Kanal auf, links der Jingshan-Park, rechts der Hinterausgang der Verbotenen Stadt.
Zuerst bin ich viel zu schnell gefahren und habe auf der Fahrradspur der Boulevards alle überholt, aber jetzt reihe ich mich ein in die Arbeitermassen und zuckele wie die anderen gemütlich mit 15 km/h dahin - der richtigen Geschwindigkeit, um die Welt zu sehen.
Im Zentrum weichen die Geschäfte für Schlagbohrer, Nähmaschinen und Kreissägen den Boutiquen und Friseurläden. Ein Vater mit Kind auf dem Rücksitz radelt quer in den fast [54] stockenden Verkehr und wird von einem Auto angefahren. Zum Glück ist nichts passiert. Offensichtlich haben beide schuld. Der Vater schimpft, die anderen Radfahrer sind auf seiner Seite, der Autofahrer steigt gar nicht erst aus und bleibt hinter den getönten Scheiben unsichtbar. Ein perfektes Bild der chinesischen Gesellschaft: Chaos, das Recht des Stärkeren, die Solidarität der kleinen Leute.
Immer wieder ziehe ich verschiedene Karten zu Rate, denn die Orientierung ist nicht einfach. Straßenschilder sind selten, auf meinem einen Plan steht Avenue, auf dem anderen Dajie - beides bedeutet dasselbe. Aber es gibt immer mehrere Dajies: östlich (Dong), westlich (Xi), nördlich (Bei) und südlich (Nan). Jenen, die aus der Altstadt zu den Stellen führen, wo früher die Stadttore standen, hängt man gern noch ein -men an. Namen, die jenseits der einstigen Stadtgrenze liegende Straßen bezeichnen, enden auf -wai.
Drei Tage brauch ich, umTian’anmec Oianmen, Di’anmcn und Xi’anmen aus-[55]einanderzuhalten, die gemeinerweise ziemlich eng beieinander liegen - weshalb viele Besucher nicht verstehen, daß der Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen Guangchang), das Tor des Himmlischen Friedens (Tian’anmen), an dem das Mao-Porträt hängt, und das große Eingangslor (Qianmen) nicht dasselbe sind. Für Fortgeschrittene gibt es dann noch ein Tiantan.
Bald orientiere ich mich nur noch an den prominentesten Gebäuden, wie dem Palace Hotel oder dem Beijing Department Store gegenüber dem Foreign Language Bookstore in der Wangfujing Dajie, der Haupteinkaufsstraße. Hier decken sich die Gewinner der Marktreform mit Rolex-Uhren ein, und Frauen in Pelzmänteln drücken ihre Einkaufstaschen dem Chauffeur in die Hand. In den großen Hotels dieser Straße, dem Palace-, Peace- oder Taiwan-Hotel, kann man sich gut in der Lobby treffen, sich Stadtpläne schenken lassen, und die schweren schwarzen Einheits-Fahrräder mieten, die Flying Pigeons. Auf der nahen Dongdanbei Dajie kommen abends lauter Essensstände angeradelt. Uiguren braten Shish-Kebab, es gibt Tintenfische, Flußkrebse und leckere Heuschrecken. Dazu kühles Bier, mit dem man die Reste der Heuschreckenflügel aus den Zähnen spülen kann.
Weiter geht’s entlang der Mauer um die Verbotene Stadt, wo im Morgengrauen rheumatische Frühsportler ihre Arme zum „Sprung des Tigers“ ausbreiten, als würden sie extrem schlaftrunkene Fliegen fangen wollen.
Links von der kaiserlichen Palastanlage liegt die neue Verbotene Stadt, Zhongnanhai. hier wohnen die mächtigsten Politiker Chinas. Zutritt natürlich nicht erlaubt. Gegenüber erstreckt sich der riesige Platz des Himmlischen Friedens, in der Mitte Maos Grab, das Maosoleum, in dem die einbalsamierte Leiche des Gründers der Volksrepublik aufgebahrt liegt. Auf purpurnem Samt leuchtet da ein bleicher Kopf, als wäre eine 40-Watt-Birne drin. Bevor ich noch erkennen kann, ob er irgendwo bröckelt, werde ich schon abgedrängt von den wallfahrenden Bauern aus Hunan, die auch mal gucken wollen.
Auf dem Tian’anmen, dem Platz mit Chinas höchster Dichte an Geheimpolizisten, darf man nicht mal sein Rad schieben, deshalb fahre ich auf der rechten Straßenseite, am Parlament vorbei, zum großen Stadttor, dem Qianmen. Wie in einem riesigen Fischschwarm lasse ich mich die Qianmen Dajie hinuntertreiben zum Tempel des Himmels. Ein verliebtes Pärchen radelt händchenhaltend vorbei, eine Frau schützt ihre blaugetönten Haare miteinem Gazesehleier, und Studenten verteilen Werbeprospekte vom Rücksitz. „Ha-Rrrrh“ gurgelt es plötzlich neben mir - eine Warnung, wohin man jetzt besser nicht schauen soll, denn es folgt das unvermeidliche „Pffft“ - als würde jemand einen Teil seiner Lunge auf den Boden spucken.
Der Tempel des Himmels liegt inmitten einer riesigen Grünanlage. An deren nordöstlicher Ecke, an der Kreuzung Tiantan Lu und Chongwenmenwai Dajie, verlasse ich die großen [58] Straßen. Ich habe Zeit für eine Abkürzung durch die Hutongs, die alten Viertel, gegenüber. Natürlich verirre ich mich sofort in den engen, in keiner Karte verzeichneten Gassen, das war ja auch der Sinn der Sache. Ein betrunkener Barbier singt bei geöffneter Tür Karaoke. An einer Ecke hängt ein Fahrradschlauch, ein Signet für die Dienstleistungsgesellschaft auf dem Bürgersteig: hier flickt ein Rentner Räder.
In kleinen Tante-Emma-Läden steht exzellenter Joghurt in Kermamikbechern auf den Fliegenschiß-Regalen,niedliche Kinder schreien „Hello“, und alte Herren in kurzen Hosen führen ihren Vogel aus. In die einzige Toilette der Gasse müssen die Bewohner morgens ihre Bett-Töpfe tragen, mit der „Ernte der Nacht“, wie es so schön im Chinesischen heißt. Es ist ein bißchen wie in einer mittelalterlichen Stadt – schön im Vorbeifahren anzusehen, aber dort wohnen?
Das erstaunlichste ist, daß aus den staubigen, teilweise eingefallen Häusern so saubere Chinesen hervorkommen, die trotz ihrer Kleider aus 100 Prozent Polyester nicht zu schwitzen scheinen. Rätselhafter Orient.
Am dritten Tag, dem Tag, an dem man übermütig wird und laut Statistik die meisten Unfälle im Urlaub passieren, habe ich den Fehler gemacht, zum Sommerpalast zu radeln. Da merkt man, wie groß Peking wirklich ist: die Elf-Millionen-Stadt ist, wenn man die Landkreise mitrechnet fast so groß wie Sachsen. Das paßt natürlich auf keinen Stadtplan. Was laut Karte im Zentrum ein paar hundert Metern waren, entpuppt sich in der Peripherie rasch als Kilometer. Und nicht nur als einer.
Am Straßenrand stehen Obstkarren mit angespannten Mulis und dahinter Toyota-Vertretungen und traurig graue Wohnkomplexe. Das geht ewig so. Eine zenhafte Langeweile der Welt am Straßenrand. Schließlich steht da auf einer Baulücke, irgendwo im Nirgendwo, ein kleines Zirkuszelt. Drinnen ist es staubig, ein Windzug treibt Papierfetzen vor sich her, und ein paar seltsame Artisten produzieren jämmerliche Tricks vor sechs Zuschauern. Eine junge Frau stopft sich eine Schlange durch ein Nasenloch und zieht sie aus dem Mund wieder heraus.
Danach geht es wieder weiter. Die Sonne brennt, Staub knirscht zwischen den Zähnen, und eine leichte Kohlenmonoxid-Vergiftung benebelt angenehm den Kopf. Die Welt wird zur Straße, die nie aufhört.
Gute zwei Stunden dauert die Fahrt zum Sommerpalast. Zurück lade ich das Rad in einen gelben Taxi-Minibus. Was, das alles bin ich geradelt?