Marc Wohlrabe – Ideen wollen nie ins Bet

Portrait
zuerst erschienen am 23. Oktober 1996 in Süddeutsche Zeitung, S. 8

Das erste Tageslicht erleuchtet die Häuserfassaden, in denen man noch Einschußlöcher von 1945 sieht. Aus dem Hinterhof pocht ein House-Rhythmus, derangierte Mädchen stolpern auf ihren Plateausohlen nach draußen. Es ist nicht ganz klar, ob sie bemerkt haben, daß es schon sieben Uhr morgens ist. Wo gehen wir jetzt hin? Ins Suicide, Delicious Doughnuts oder in den Toaster? Nirgendwo auf der Welt ist die Ausgehgegend so konzentriert wie in Berlin-Mitte. Im Prenzlauer Berg kann man hocken und Bier trinken, aber in Mitte wird getanzt.

Ach und Kreuzberg … Da ist seit der Maueröffnung wirklich die Luft raus. Schon bevor David Bowie und Iggy Pop in den siebziger Jahren nach Berlin zogen, weil sie sich in London und New York langweilten, war das Nachtleben der größte Freizeitwert der Stadt. Zumindest für erfolglose Künstler, Bummelstudenten, Hedonisten und drogensüchtige Saxophonisten, also 80 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahren. Die Partyindustrie, die das Dauerereignis Berliner Nachtleben seit Jahrzehnten zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor gemacht hat, braucht natürlich auch ihre Unternehmer, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Die einflußreichsten sind die Clubbetreiber vom E-Werk, deren Kollege Dimitri vom Tresor, DJ Dick und Westbam vom Low Spirit-Label, Jürgen Laarmann vom Techno-Magazin Frontpage.

Und Marc Wohlrabe. Er ist Herausgeber des DIN-A-6 großen Flyers, benannt nach den bunten Flugblättern, die in Clubs verteilt werden, um auf die nächste Party hinzuweisen. Das Veranstaltungsmagazin erscheint alle zwei Wochen in Berlin, einmal im Monat in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Frankfurt und München; Leipzig, Wien und Kopenhagen folgen demnächst. Dort liegt es kostenlos in Clubwearläden, Musikgeschäften und bei Szenefriseuren aus und zeigt den Weg zu Acid-Jazz, Techno, Drum & Bass und HipHop. Ganz zu schweigen von Trance, Low-Fi, Easy Listening, Jungle und deren Unterarten und Vermengungen wie Trip Hop, Ambiente, Gabber …

Passion als Pflicht

Marc Wohlrabe ist ein umtriebiger Macher. Wer ihm gegenübersitzt, in seine ruhigen braunen Augen blickt, fühlt sich bald in sein Netz der Verbindungen miteinbezogen. Es gibt niemanden in der gesamten deutschen Partyindustrie, der nicht schon mal mit dem großen Kommunikator zu tun hatte. Eine seiner Mitarbeiterinnen klopft mit der Faust in die Luft: „Das ist die typische Handbewegung von Marc.“ Ist es ein Türklopfer oder sein Tanzstil?

Nachts sieht man ihn bei allen wichtigen Kino-Premieren, Eröffnungen und Parties. „Ich bin schon mit 15 Jahren intensiv ausgegangen, bis sieben Uhr früh, und ich gehe immer noch gerne aus. Während die andern sich betrinken, sitz ich vielleicht nur da und denke nach. In unserer Branche arbeitet man mit Ideen, und Ideen gehen nicht um acht Uhr ins Bett.“ Seine Agentur Brainbox ist ein luftiges, loftiges Großraumbüro. Über ein internes Mailsystem sind die Computer aller Flyer-Redaktionen in Deutschland verbunden. Von dort werden alle Informationen und Termine nach Berlin übermittelt, wo die regionalen Ausgaben gelayoutet und gedruckt werden, wie beim Stadtzeitungskonzern Prinz. Glas- und Schiebetüren trennen Graphik, Redaktion, Buchhaltung, Photostudio und ein extrem umfangreiches und seltsam ordentliches Archiv von Szenemagazinen und Flugblättern. Eine wahre Fundgrube für jeden, der sich für das Design der letzten zehn Jahre interessiert. „Hier, das ist die erste Ausgabe von Frontpage. Nicht mal deren Redaktion hat die.“

Mit einem winzigen Büro und 20-Stunden-Schichten fing es vor ein paar Jahren an, jetzt verdienen hier 24 Menschen ihren Lebensunterhalt, zwei werden zum Verlagskaufmann ausgebildet. „Die meisten, die hier arbeiten, machen auch noch andere Sachen, sind DJs, Musiker oder Veranstalter. Ich erwarte Passion und Professionalität. Und Freundlichkeit. Wer hier mit so einer Flappe auftaucht, den kann ich nicht brauchen“, meint der 24jährige Arbeitgeber. Er sieht den Flyer als Nachfolger der Stadtzeitungen, die mit ihren Machern gealtert sein. „Der Flyer ist ein urban magazine. Wir vertreten die Generation der 18- bis 25-Jährigen. Monatlich erreichen wir 170.000 Leser in ganz Deutschland.“ Der Titelschriftzug des Flyers ist bei jeder Ausgabe anders gestaltet, mal im Design von Melitta, Alete, Osram oder der Falk-Pläne. „Für die war das ganz schlimm, Anarchie. Andere Firmen buchen bei uns, daß wir deren Schriftzug als Titel verwenden.“ 30.000 Mark kostet das.

Als hätte der gelernte Verlaufskaufmann mit Werbeagentur, Verlag, Partyveranstaltungen und Label-Aktivitäten nicht genug zu tun, hat er nach dem Tod seines Vaters auch die Geschäftsleitung des Familienunternehmens übernommen. Schon sein Großonkel, Zahnarzt und Chef der Quäker in Deutschland, war Filmverleiher. „Jugendfilm ist der älteste deutsche Filmverleih, der größte unter den Idependents. Wenn ich Scheiße baue, hänge ich drin, da steht keine Gesellschaft dahinter, die dann eine Million nachschiebt.“ Mit zwölf half er seinem Vater bei der Arbeit im Filmverleih: „Klar, Papa, Ronja Räubertochter ist toll.“ Nächste Woche läuft David Cronenbergs „Crash“ an. „Das ist der letzte Film, den mein Papa gekauft hat. Es geht um sexuelle Erregung bei selbstverursachten Autounfällen.“ Marc grinst. „Wir haben ihn gemeinsam ausgesucht. Jetzt wird die Firma umgebaut. Jugendfilm war ein Wal, auf einen Patriarchen zugeschnitten. Ich bin für Teamwork. Als erstes habe ich überall Glastüren reingebaut.“

Politik im Konjunktiv

Nach einem Wasserschaden steht seine kleine Eigentumswohnung leer, und so wohnt er seit zwei Jahren bei seiner Freundin und deren zwei Kindern in Schöneberg mit Kohleofen und ohne Dusche. Aus Zeitmangel bleibt die Wohnungssuche im Konjunktiv stecken. „Nach Sachwerten bin ich sicher Millionär, aber wie alle reichen Leute habe ich wegen permanenter Investition Schulden.“ Sein Vater war Bundestagsabgeordneter der CDU und Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Wäre Politik nicht auch was für ihn? Er lächelt, zögert, als wolle er einen Kindheitstraum oder ein Geheimprojekt nicht vorzeitig verraten. Er lächelt noch mal, als würde er gerade was Leckeres essen und schaut zur Decke: „Ja, hm. Ich habe schon darüber nachgedacht. Aber nicht die Ochsentour. Hm. Ja, hm …“