Reiseführer

Essay
zuerst erschienen am 5. Januar 1997 in Süddeutsche Zeitung, S. 8

Massiv, wie eine geziegelte Mauer, stehen die Berlin-Führer im Buchhandel. Neben Zilles Milieu und Preußens Glorie eine Reihe von Ratgebern, Einkaufstips, Restaurant-Führer für Schwule. Geschäftsreisende Radfahrer und die Jugend kann sich im „Überliner“ von Linda Kurzweil durch die Szene führen lassen. (Muß es nicht Karin Kurzweil heißen oder Linda Langweil?)

Und dann gibt es da noch das riesige, knallgelbe „Stattbuch Berlin“, das letzte seines Genres in Deutschland. Die anderen alternativen Branchenführer aus Hamburg und München, die im Zuge Stadtzeitungen in den 70er Jahren erschienen, haben sich still und leise verabschiedet. Nur der „Wegweiser durch das andere Berlin“ hilft auf 360 Altpapierseiten alten Menschen, Arbeitslosen, Ausländern, Drogenabhängigen, Frauen und Kindern bei Krankheit, Knast und Kultur. Fast alle Adressen haben so einen Sozialarbeitergeruch: „Anti-Kummer e.V.“ oder die Schülerfreizeitberatung „No Way, Alta!“ Es ist dieser eindeutige, aber unbestimmbare alternative Sound, der da brummt, Kellerkinos ohne Heizung, Astrologen, aber keine Astronomen, ein Dutzend asiatischer Sportarten, aber kein Fußball.

Nichts ist nur praktisch, sondern immer schmeckt man den pelzigen Nachgeschmack von beleidigter Gesellschaftskritik. Wenn man das Stattbuch liest, wird man gleich deprimiert, fühlt sich irgendwie krank und kriegt Geldsorgen und Angst vor Schwermetallen im Leitungswasser. Als ob man nach Berlin gezogen wäre, um Kohlen zu schleppen und sich zu beschweren. Auch wenn Berlin die niedrigsten Mieten aller Millionenstädte der Welt hat, muß man über Mietwucher klagen, schon aus folkloristischen Gründen. In dem Stattbuch und der dazugehörigen Szene macht nichts richtig Spaß. Wo ist der genußvolle, smarte Service-Ratgeber für den Neuankömmling und den neugierigen Einheimischen? Wo ist der Friseur nach 18 Uhr (im Europacenter)? Wo kauf ich Büffelfelle (in der Senefelderstraße)? Wo Damenpumps für Herren der Größe 45 (in der Schloßstraße)? Das sind doch die wichtigsten Fragen, oder?