Shanghai-Boom

Reportage
zuerst erschienen am 29. April 1996 in Focus 18, S. 104-112
Geld, Luxus, schnelle Geschäfte: Der Mythos von grenzenlosen Markt lockt westliche Investoren in Chinas heimlich Hauptstadt

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Shanghai - Paris des Ostens, Hure Chinas, Königin des Orients. Shanghai, das klingt nach Hochstaplern, betrunkenen Matrosen, Glücksspiel, nach tätowierten Rikscha-Kulis und schnellem Geld - sehr viel Geld.

Seit Jahren verzeichnet Shanghai zweistellige Wachstumsraten, als ob es alle Lehren der Ökonomie verspotten wolle, die ein dauerhaftes starkes Wirtschaftswachstum ausschließen. Es ist der Mythos Shanghai, der 31 der 100 größten Unternehmen der Welt in die Stadt zieht, wo sie für Büros höhere Quadratmetermieten zahlen als in New York oder Frankfurt.

Keine andere Metropole der Welt ist einer so rasanten Wandlung unterworfen wie die größte Stadt Chinas. Wie Einschüsse eines Maschinengewehrs verteilen sich 20 000 Baustellen über die Stadt - eine Zahl, die allen Zementherstellern, Architekten und Bauunternehmern den Kopf verdrehen würde.

Ein Fünftel aller Kräne der Welt steht in Shanghai. In keiner Stadt der Erde wird soviel gebaut. Oder besser gesagt, auf keiner Baustelle leben und arbeiten so viele Menschen.

In den engen Altstadtgassen zwischen den Holzhäusern hängen glasierte Enten an der Leine zwischen frischgewaschenen Hemden. Am Sonntag werden die schweren Bettdecken zum Lüften in die Sonne gelegt, und alte Damen waschen sich die Haare in den Hinterhöfen. Aber überall ertönt schon die Sinfonie der Großstadt: das tiefe Rattern eines Preßlufthammers im Asphalt, eine Dampframme gibt den Takt dazu.

Alt-Shanghai verschwindet, Boom-town wächst nach. Hongkong und Singapur benötigten zwei Jahrzehnte, um sich in ein chromblitzendes Wolkenkratzer-Gebirge zu verwandeln, in Shanghai geht es dreimal so schnell.

Das Geld und das Know-how stammen meist aus Hongkong. Die dort arbeitende amerikanische Architektin Hillary Campbell erzählt gerne von ihren Verhandlungen mit der chinesischen Bauleitung: „Wir wurden gefragt, ob wir Beton mit Rissen oder ohne Risse wollten. Wir wollten natürlich welchen ohne Risse. Dann wird es aber teurer, hieß es. Macht nichts, haben wir gesagt. Gut, der Beton kam, aber er hatte doch Risse. Denn, so hieß es, Beton ganz ohne Risse gibt es nicht. Nur mit weniger Rissen.“

1,5 Millionen Bauarbeiter gibt es in Shanghai, fast alle sind aus anderen, ärmeren Provinzen zugewandert -legal oder illegal. Im Morgengrauen ziehen sie von Baustelle zu Baustelle, um sich als Tagelöhner für zehn Yuan (knapp zwei Mark) zu verdingen. Abends, wenn sie nicht zu müde sind, drücken sie sich die Nasen an den Schaufenstern der Huaihai Lu und der Nanjing Lu platt, den prächtigsten und teuersten Einkaufsstraßen Chinas -50 000 Yuan Umsatz pro Minute. Juweliere, Rolex, Designer-Kleider in Boutiquen, und über allem blinkt die Neonwerbung, eine riesige Kampagne, [108] die den Shanghaiern den Unterschied zwischen Sony und Sharp einzubläuen versucht.

Die Einheimischen schwimmen ziel­sicher im Strom, das Handy in der Jackentasche. Woher kommt das viele Geld, denn 1993 betrug der offizielle Durchschnittslohn in Shanghai 281 Yuan (56 Mark) im Monat? Chinesen müssen nur 13 Prozent ihres Einkom­mens für Miete, Sozialleistungen, Schule und Transportkosten ausgeben. Meistens essen sie auch im Betrieb, und so bleibt ein großer Teil des Ein­kommens für Einkäufe übrig. „Born to shop“, wie es auf dem aus Hongkong importierten T-Shirt des kleinen Knirp­ses steht, der kreischend die Treppe der Privatschule „Kindertraum“ herunter­rennt. Er trägt das rote Halstuch der kommunistischen Kinderorganisation, wie alle hier.

Stolz empfangen seine Eltern ihr ein­ziges Kind, ein kleines Pummelchen. Oft sieht man eine ganze Großfamilie bei McDonald’s sitzen, Großeltern, Mama und Papa, die freudig zuschau­en, wie der pausbäckige Junior sich als einziger das Big Mac Meal (Pommes, Big Mac, große Cola) für 16,80 Yuan reinzieht.

„Chinesische Eltern sind bereit, sehr viel für ihr einziges Kind auszu­geben. Und da sie sich nichts sehnli­cher wünschen, als daß es in der Ge­sellschaft aufsteigt, geben sie auch viel Geld für die Erziehung aus.“ Eckehard Rathgeber Manager bei Bertelsmann oder Ba Ta Se Man, wie die Firma auf chinesisch heißt, zeigt auf die Kinderbuchserie, die er mit ei­nigem Erfolg in Shanghai vertreibt. Eine Art Lexikon im Stil von „Was ist was?“. 4000 Stück der aufwendig pro­duzierten zwölfbändigen Ausgabe hat er in einem halben Jahr für je 100 Mark an spendenfreudige Großeltern und ehrgeizige Eltern verkauft.

Der 30jährige General Manager spricht fließend Chinesisch. Eine Aus­nahme unter den ausländischen Ma­nagern, die meistens von einem Ring von Übersetzern umgeben sind und nie so recht wissen, was gerade gere­det wird oder warum der Chauffeur nicht da ist und wo zum Teufel Frau Wang wieder steckt und warum um Herrgottswillen der Bezirksrat das Dokument nicht schickt und warum wieder alles so lange dauert. Wie Korken inmitten einer aufgewühlten See werden diese sprachunkundigen Manager hin- und hergewirbelt und wissen nicht so recht, wie ihnen ge­schieht.

Das mögen Manager gar nicht so gern, und dann werden sie oft wütend
und wollen irgendwie Ordnung in das ganze Durcheinander bringen, was aber nicht so ganz einfach ist. Viele entwickeln dann „Herrenmenschen-Manieren“, wie sich ein Kenner der deutschen Kolonie in Shanghai aus­drückt. In der Regel muß so ein Mana­ger nach drei Jahren zurück in die Hei­mat, sonst wird er seltsam und ist zu Hause nicht mehr integrierbar.

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Aber wer nur drei Jahre bleibt, kann nicht genügend „guanxi“ (Beziehungen) aufbauen, und die sind das A und O in China. „Guanxi“ gedeiht am besten in plüschigen Karaokebars, wo man viel Bier trinkt und lauthals „Under a mango tree“ und „I wanna be your teddybaer“ in den Fernseher singt. Dann kommt es vielleicht zum Geschäftsabschluß. „Ein Vertrag“, erklärt Stefanie Hildmann, „ist in China erst die Ausgangsbasis, nicht das Ende.“ Ihr „China Business Development“ ist eins der ganz wenigen, wenn nicht gar das einzige selbständige ausländische Unternehmen in Shanghai, hinter dem kein großer Konzern steht. Die resolute 31jährige betreut Projekte auch nach der Gründung, sie fängt dort an, wo die meisten Untemehmensberater aufhören.

Stefanie Hildmann vermißt das Engagement der deutschen Konsumgüterindustrie: „Mit Lebensmitteln kann man hier riesige Geschäfte machen. Und mit Mode.“ Wo bleiben die Iglu-Fischstäbchen? Wo ist Metro? Warum schlafen Quelle oder Bauer, die mit ihren Katalogen in Japan so erfolgreich sind?

Das letzte Auto-Joint-venture dieses Jahrhunderts wird wohl an Daimler-Benz gehen: Die Schwaben sollen Autos in Shanghai bauen. Peking findet, damit seien jetzt genügend ausländische Autokonzerne im Land, der Rest müsse leider draußen bleiben. Das freut den kleinen und feinen Club der Autohersteller, vor allem Volkswagen, den größten deutschen Investor in China und mit einem Marktanteil von über 50 Prozent aller neuzugelassenen Pkws der unbestrittene King of the Road.

Peter Loew, einer der vier geschäftsführenden Direktoren von Shanghai Volkswagen - zwei Chinesen, zwei Deutsche -, ist sichtlich stolz auf die Pionierleistung von Shanghai Volkswagen. Seit 1994 führt das deutsch-chinesische Unternehmen Gewinne nach Deutschland ab. Über die Höhe wird geschwiegen, doch es ist ein beachtlicher Betrag, sieht man sich die Steigerung des Kapitalvermögens der chinesischen VW-Tochter (160 000 Autos im vergangenen Jahr) an: von 62 Millionen Dollar Investition 1985 auf 737 Millionen Dollar heute.

400 000 Autos und sieben Millionen Fahrräder rollen in Shanghai. Jeden Tag habe ich einen Unfall auf den Straßen gesehen, am gefährlichsten ist der Übergang zwischen Stau, dem Normalzustand, und freier Fahrt, wenn Autos und Fahrräder ungeduldig um jeden Zentimeter kämpfen. Ununterbrochenes Hupen, Abgasschwaden -apathisch regeln die Polizisten den Verkehr.

In China gibt es 914 Kilometer Straße pro eine Million Einwohner (USA: 25 326 Kilometer, Indien 1784). Dennoch soll China in 20 oder 30 Jahren der größte Automarkt der Welt sein. Für das Jahr 2000 sagt die Regierung 270 Millionen potentielle Autokäufer voraus (heute: 1,9 Millionen Autos). Würde dieselbe Autodichte wie in Deutschland erreicht, wären es doppelt so viele. Genügend Fahrzeuge, um eine siebenspurige Autobahn zum Mond vollzustellen.

Es sind diese unrealistischen Zahlen, die Kritiker am Mythos Shanghai zweifeln lassen. „In den nächsten Jahrzehnten wird sich die normale chinesische Familie kein eigenes Auto leisten können“, meint ein Finanzberater. Zwar ist China ein Land mit 1,2 Milliarden Einwohnern, aber 72 Prozent aller Chinesen verdienen nicht mehr als 1000 Yuan im Jahr, das sind knapp [112] 200 Mark. Noch sind bitterarme Dörfer im staubigen Nirgendwo mit stundenlangem Fußmarsch zur Bushaltestelle die Regel. Wer in China von „Marktdurchdringung“ spricht, macht sich lächerlich. Aber die chinesische Regierung wird einen Teufel tun, den Mythos vom unbegrenzten Markt zu zerstören. Peter Loew lobt die zentrale Industriepolitik Pekings, nur über Probleme will er nicht reden. Korruption gäbe es nicht. Und woran sein chinesischer Co-Direktor im vergangenen Jahr so plötzlich gestorben ist, will er auch nicht wissen. Und das, obwohl mir in wenigen Tagen Shanghaier Insider dreimal vertraulich beim Abendessen zugeflüstert haben, daß der chinesische VW-Direktor aus dem Fenster gesprungen sei - wegen Korruption. Irgendwoher muß das Geld ja kommen, um die Platten mit haariger Winterkrabbe (das Stück zu 60 Mark) im Wanbaohe-Restaurant zu bezahlen. Da sitzen die Neureichen und bezahlen die horrende Rechnung, ohne mit der Wimper zu zucken, mit ihrer Great-Wall-Karte. 200 000 Kreditkarten gibt es bereits in Shanghai.

Christina Lin besitzt zwei Stretch-Limousinen, eine weiße und eine schwarze. Für eine Extrasumme hat sie ein Blaulicht erworben, um schneller durch den Verkehr zu kommen. „Einzelhandel  ist  ein  Riesengeschäft“, schwärmt die erfolgreiche Boutiquenbesitzerin. Ihr im Loft-Stil eingerichteter Laden „Chris & Chris“ würde auch in New York, Paris oder München die gleichen miniberockten Mädchen vor den Spiegel ziehen.

Im Unterschied zu Christina Lin geben sich die meisten der chinesischen Millionäre lieber unauffällig, schließlich ist China offiziell ein sozialistischer Staat. Man will keinen Neid erwecken, lieber nicht irgendwelche schlafenden Hunde in den Behörden aufschrecken, die an dem lukrativen Geschäft teilhaben wollen. Reich, richtig reich wird man in China nur mit nicht ganz sauberen Methoden.

Am schnellsten verdient man sein Geld mit Karaoke-Bars, Diskotheken und Puffs, wobei der Übergang oft fließend ist. Im „Casablanca“, im „New York“ oder im „JurassicPub“ scratched der DJ gekonnt an seinen japanischen Plattenspielern. Zum Techno-Gewummer öffnet sich um Mitternacht das Dach der „Times“-Disco, und über den Tanzenden in ihren Overknee-Strümpfen und beigen Pullis wölbt sich der Nachthimmel.

Das Amüsiergeschäft ist vergeben: Halbweltler aus Hongkong investieren, die Polizei sorgt für den ungestörten Ablauf, ganz nach dem chinesischen Sprichwort, daß Kriminelle und Polizisten vom selben Stamm sind. Ungestört lungern Zuhälter in Lederjacken vor dem „Dedo“-Nightclub, der von der örtlichen Polizei betrieben wird. Und auch im ehrwürdigen „Peace“-Hotel wird man gefragt, ob man eine „Tanzpartnerin“ haben will, um zur weltberühmten alten Jazzkapelle Schieber zu tanzen. Dem Shanghaier Mythos zufolge spielen da tattrige Greise, die schon in den 30er Jahren ihren Benny Goodman gejammt haben, während um sie herum Damen im geschlitzten Cheongsam an Zigarettenspitzen saugten und Opiumraucher finstere Pläne schmiedeten.

In Wahrheit spielt jeden Tag eine an­dere Band mittelalterlicher Herren Jazz-Standards für Touristen. Nur die Kerle hinter der Bar sind echt Shang­hai: Mit dem richtig coolen Barkeeper-Blick verkaufen sie den „lao wei“, den Ausländern, das, was sie haben wollen: den Mythos Shanghai.