Die Dunkle

Rezension
zuerst erschienen am 26. April 2008 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. Z5
Den Schleier der alten Suhrkamp-Kultur zerreißen: Ulla Berkéwicz beerdigt ihren Mann Siegfried Unseld ein zweites Mal und macht damit Platz für eine dritte Wissenskultur - ein Buch voller Mitleid, Wut, Sarkasmus, Hoffnung, greller Schwärmerei

Weil die Trauer eher stumm macht, gab es in südlichen Regionen Klageweiber. Sie verliehen dem Schmerz der Hinterbliebenen theatralisch eine Form. Weil aber die Witwe des vor sechs Jahren verstorbenen Suhrkamp-Chefs Siegfried Unseld selbst eine Bühnenkünstlerin ist, hat sie die vielstimmige Partie nicht anderen überlassen wollen. Und doch heult in ihrem Buch „Überlebnis“ die ganze Suhrkamp-Kultur mit. Durch den hohen Ton, den Ulla Berkéwicz auf hundertneununddreißig Seiten durchhält, geistern die experimentellen Manierismen von Beckett, Gertrude Stein und Peter Weiss, von Heiner Müller, Celan, Kafka, Handke, Bachmann, Brecht und Jelinek. Mit sicherem Gefühl für Rhythmus und Wortfall tankt sie bei Hölderlins seherischen Wenn-Perioden, bei Georges elegischen Dativkonstruktionen und Rilkes allegorischer Süße auf.

Ihr Stil ist delirierend, insistierend, gestelzt, eine barocke Litanei der Vergeblichkeit, der erhabene Monolog einer Tragödin aus dem Holze Sarah Bernhardts. Was den Pastiche der Stimmen zusammenhält, ist der auf dem deutschen Theater in zahllosen modernen Klassikerinszenierungen kultivierte Habitus anrührender weiblicher Kunstlosigkeit, die doch poetische Texte höchster Dosierung im Mund führt: eine pythische Naivität, deren Wurzeln direkt in die idealistische Genieästhetik führen. Die Gründerin eines Verlags der Weltreligionen ist sich der Priesterposition ihres literarischen Alter Egos bewusst. Leitmotivisch ist von einem „Spalt“ die Rede, Spalt der Körper, Spalt des Diesseits, um den ihre Sentenzen kreisen. Die Monotonie der Wiederholungen, hypnotische Wortverdichtungen und eine ins Numinose strebende Begrifflichkeit erzeugen eine Atmosphäre der Beschwörung, der kultischen Präsenz.
Beschworen werden das Leiden und die persönliche Größe des nie beim Namen genannten Mannes, aber auch eine literarische Moderne, die spröde und voller Misstrauen gegenüber der Sprache ihr Material unermüdlich auf seinen Wirklichkeitsgehalt hin befragte. Ulla Berkéwiczs polyphoner Alleingang deckt auf, wie viel weiße Magie in diesen Strategien steckte. Liest man „Überlebnis“, so glaubt man dem Hausgeist der Frankfurter Lindenstraße zu lauschen, der sich in schweren Träumen wälzt. Wie sehr die Autorin dem Genius Loci gerecht wird, zeigen Einsprengsel jenes Sponti-Jargons, der in den Siebzigern die Hochsprache des Frankfurter Westends unterwanderte. Nicht nur ist der grobschlächtige Pfleger auf der Intensivstation für ihre Heldin ein „Fascho“ - ihr Buch, das auf jede Genrebezeichnung verzichtet, kokettiert auch mit entsprechenden Ideen. Fasziniert lauscht die Erzählerin einem befreundeten Autor, der „über die Grenzen des Erzählbaren“ in einen Verwertungsboykott „hinausgeritten“ ist: „,Du sprichst nichts aus, du schreibst nichts auf‘, flüstert er mir, ,du lässt das Lassen tun und reitest durch die Räume, die Romane. Eine Art Gegenkapitalismus.‘“
Tatsächlich liegt Berkéwiczs Buch eine subversive Theorie der Verschwendung zugrunde, in diesem Fall der Verschwendung des Zorns, von der auch Peter Sloterdijk neuerdings handelt. Die Erzählerin trägt eine Wut im Bauch über Ärzte, die den Patienten entmündigen, im „Sturmschritt“ zur Visite aufmarschieren und vor lauter „Herrenmenschentheater“ mehr Leid als Linderung bewirken: „Wer ahndet solche Klinikarbeit? Wer zahlt sie heim, wer rächt ein Totgestorbenwordensein?“
Das Herzstück des Buchs ist ein atemraubendes Krankenhauskapitel, eine Tour de force im Geiste der Gottfried Bennschen „Krebsbaracke“ mit fulminant orchestriertem Slapstickfinale. Hin und wieder wird die unbotmäßige Gattin des Schwerkranken mit Stößen und Flüchen auf den Balkon verbannt. Dort liegen Kippen, Fuselflaschen, Pornohefte auf angekohlten Plastikstühlen: „Besorgen die sich’s hier im Angesicht des Fleisches, das unberührt von ihrer Hand hier strotzt und klafft? Wichsen die an hier draußen gegen alles, was drinnen stinkt und blutet und krepiert?“
Der Zorn gilt auch dem passiven Sadismus des Publikums, das mit Feldstechern in den Nachbarfenstern liegt, als der Kranke heimkehrt. Obwohl der Sommer unerträglich schwül ist, werden die Läden vorgelegt, „gegen den Blick auf das, was metzgert und jeden absticht, der nicht um seinen sechsten, siebten Sinn ringt“. Die para- und metaphysischen Sinne sind Früchte der Trauer. Ulla Berkéwicz greift tief in Nietzsches „Geburt der Tragödie“, um den Faden zwischen Verschwendung, Theater und Übersinnlichkeit zu spinnen. Die Zeit hält an für ihre Heldin, als sie nach dem Tod des Mannes vom Ehebett aufsteht. Sie behält seine erstarrte Rolex zurück, er nimmt ihre ablaufende Swatch mit ins Grab wie ein Versprechen. Von nun an ist alles für sie Illusion. Sie wird zum apollinischen Spieler einer neuen, auf dem Rausch, der Qual und dem Chaos des dionysischen Abgrunds gegründeten Möglichkeitswelt, so, wie ihre Autorin zum „Spielspieler“ einer neuen Suhrkamp-Kultur geworden ist: „Jetzt fürchten sie mich“, heißt es in einem der vielen kursiv gesetzten Einschübe, „weil ich die Mächte des Theaters kenne, seine Rituale, sein Sakrament. Weil ich weiß, mit den Mitteln des Theaters, unter Einhaltung seiner alten strengen Gesetze, kann die Wirklichkeit korrigiert werden, abstrahiert, eliminiert.“
Die Vorstellung, „dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei“, nannte Nietzsche den „Wahn“ der Wissenschaft. Doch bei Berkéwicz geht es um eine Gegenkorrektur, um das Opfer des tragischen Helden, durch das die Einbildungskraft von der Fixierung aufs Vorhandene befreit wird. Man kann „Überlebnis“ als mythologische Überhöhung eines Trauerfalls lesen, dessen Nachbeben den Schleier der alten Suhrkamp-Kultur zerreißen lässt, der die Lücke zwischen Literatur und Wissenschaft verdeckte. Er macht Platz für die Einsichten einer „dritten Wissenskultur“, die von der Verlagschefin im Gespräch mit dieser Zeitung umrissen wurde (F.A.Z. vom 19. April).
In Kybernetik und Teilchenphysik erhofft sie sich Antworten auf jene existentiellen Fragen, die der Tod aufwirft und die eine diesseitige „Angst- und Spaßgesellschaft“ nicht länger diskutiert. Es geht um den kühnen Brückenschlag zwischen einer belanglos gewordenen Literatur und einer abstrakt gewordenen Wissenschaft, deren Trennung dazu führt, dass Menschen auf der Intensivstation in ihrer höchsten Not wie Vieh behandelt werden. Es geht um ein mythisch-religiöses Potential, das als Funke in der dualistischen Suhrkamp-Kultur schlummern mag.
Zum Zwecke seiner Befreiung opfert Ulla Berkéwicz nicht nur die Intimsphäre ihres verstorbenen Mannes und schildert sein Siechtum in allen peinvollen Einzelheiten; sie wirft sich mit dem Instinkt, das Richtige zu tun, in ihrer ganzen Tragödinnenhaftigkeit in die Bresche: als Zeichen und Platzhalter für etwas noch ungeformtes Neues, das in der Krise aus dem Unbewussten der Suhrkamp-Archive hervorgehen soll. Was bei Nietzsche dionysische Weisheit hieß, ist in „Überlebnis“ eine zwischen Pathos und Bathos navigierende Flammenrede, versetzt mit Lutherischer Kontrastschärfe, kabbalistischen Paradoxen, vedischen Ursprungsmythen, animistischen Spekulationen, jüdischem Witz und Ansätzen zu einem postmodernen Energie-Evangelium.
Wenn an dieser Selbstentäußerung der neuen Verwalterin des deutschen Geistes etwas Obszönes ist, dann ist es die Schamlosigkeit der Baubo, die im griechischen Mythos durch ihre „Mätzchen“, wie Berkéwiczs Heldin sagt, Demeters Trauerstarre aufbricht. Ulla Berkéwicz erweist Siegfried Unseld die Ehre, seinen Tod öffentlich wie den der Könige zu machen. Mit literarischen Kriterien ist das Ergebnis nicht zu fassen. Gegenüber dem Tod ist alles erlaubt und Geschmack ohne Bedeutung. Insofern steht das Buch in der Tradition von Tolstois „Tod des Iwan Iljitsch“ und Camus‘ „Der Fall“.
Doch Ulla Berkéwicz hat begriffen, dass der Sterbende für alle anderen nichts als ein Spieler ist, der den Tod gibt. Ihr Alter ego übt sich in Mitleid, Wut, Sarkasmus, Hoffnung, greller Schwärmerei. Aber das Ich dieser Witwe bleibt heil. Es behält die „Ferngläser, Büschehocker, Beileidsbesucher“, die „Blitzlichter und Beuteblicke“ immer im Blick. Es hat keine Zeit für das schleichende Gift der eigenen Vergänglichkeit. Die Titanenkraft des Unseldschen Hausheiligen steht ihr zur Seite. Wie Goethes Faust beim Klang der Osterglocken wird auch sie von der Emotion erlöst: „Mein Widerstand weicht auf, der Hals schwillt zu, die Tränen brechen durch, die Klage staut sich, der Schrei ist stumm, die Maske der Mänade sitzt, die Bühnenphantasie ist grenzenlos.“
Nicht nur Faust ist zu Beginn des zweiten Teils der Tragödie verjüngt, auch Ulla Berkéwiczs Heldin taucht anfangs tief in Kindheitserinnerungen ein. Dazu gehört ihre jüdische Großmutter, die mit krummem Finger durch die Gitter des Kinderbetts fährt, um der Enkelin großväterliche Rabbinerweisheit anzuvertrauen. Das ist ein kluger, offensiver Schachzug, um den Gerüchten um die mutmaßliche Hexerei der Suhrkamp-Chefin ein Ende zu machen; er immunisiert auch gegen den ihr gegenüber gern erhobenen Vorwurf der Naivität: Wie das Gitterbett ist das Naive offen für das heute leicht verschmähte älteste Wissen der Mythen. Erinnerte Nietzsche nicht daran, dass bei „Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“?