Jil Sander – „Es gibt ein Jenseits der Mode“

Interview
zuerst erschienen am 26. Februar 2012 in Franfurter Allgemeine Sonntagszeitung, S. 27
Jil Sander kehrt zu Jil Sander zurück: Die deutsche Designerin wird wieder die Firma leiten, die sie einst gegründet hat. Ein Interview, aus gegebenem Anlass

Als das Gerücht von Ihrer Rückkehr die Runde machte, wurde in der deutschen Presse gleich auf Ihr Alter hingewiesen. Bei Karl Lagerfeld, der ein Jahrzehnt älter als Sie ist, würde man das kaum wagen. Empfinden Sie so etwas als sexistisch?

Absolut. Aber in meiner Generation haben wir früh angefangen. Ich hatte mit vierzig erreicht, was man bis dahin vielleicht mit fünfundfünfzig geschafft hatte. Heute geht es auch nicht mehr so sehr ums Alter; was die Menschen interessiert, ist, was einer tut. Und ich stehe in einem Lebensabschnitt, in dem Politiker erst für höhere Aufgaben reifen.

Sie sind schon mit zwanzig als Mitarbeiterin der Modezeitschrift „Constanze“ durch Ihren Eigensinn aufgefallen und haben mit der Erklärung verblüfft: „Ich will etwas bewegen.“

Ich wusste natürlich nicht, ob ich recht behalten würde. Aber ich erinnere mich an die Intensität, mit der ich meinen Weg gehen wollte. Wenn ich andere von meiner Vision überzeugen musste, konnte ich schon sehr radikal sein.

Fürchten Sie nicht in stillen Momenten, dass die Aufgabe zu groß sein könnte? Sie haben die Firma vor acht Jahren verlassen.

Es gibt schon eine Nüchternheit, denn die Herausforderung ist riesengroß. Aber ich habe der Mode ja nicht den Rücken gekehrt, ich habe für die japanische Firma Uniqlo die Linie +J entworfen.

Im letzten Jahr erhielten Sie dafür den Preis des British Design Museum, und in Japan hat man Sie zum „Designer of the Year“ gewählt. Wenn die +J-Kollektion in New York und London in die Läden kam, standen die Leute rund um den Block.

Na, sehen Sie. Ich fühle mich jedenfalls mittendrin.

Werden Sie stilistisch an dem Punkt anknüpfen, an dem Sie Jil Sander verlassen haben? Was Sie als Designerin ausmacht, ist ja, wenn man so sagen darf, die „Mission Moderne“. Aber die ist im letzten Jahrzehnt weitgehend in den Retro-Trends verschwunden. Besteht noch eine Aussicht, dass die Menschheit sich zur modischen Avantgarde bekennt?

Modern ist für mich eine Mode, in der das Individuum zu seinen Stärken findet. Und das ist eine Frage der Qualität im Design. Man braucht Schnitte, die kreativ und dynamisch genug sind, um dem lebendigen Körper eine Form zu geben, ohne ihn zu behindern. Ich meine Kleider, die den Zeitgeist als Energie in sich tragen. Wenn wir uns die Geschichte ansehen, dann war Mode vor allem durch Zwänge charakterisiert. Man muss gar nicht vom Vatermörder sprechen. Es gab für alle Bereiche des Lebens Uniformen, Arten, wie man sich zu kleiden hatte. Und für die Frau war die Verkleidung oft besonders schmerzhaft und diffamierend.

Hat man sich inzwischen nicht daran gewöhnt, dass die Menschen es nicht bequem wollen? Sie wollen beim jüngsten Trend dabei sein.

Das stimmt vielleicht für Events, wenn man sich einen Auftritt ausrechnet. Aber im Alltag ist man doch eher casual, weil das, was an Mode angeboten wird, oft zu kompliziert ist. Ich bin sicher, dass sich jeder von einer Mode überzeugen lässt, die ihm neben einem dynamischen Körpergefühl auch Ausstrahlung und Attraktivität verleiht. Wirklich moderne Eleganz wirkt sofort und erzeugt Achtung.

Man hat Sie immer mit Avantgarde, mit dem Bauhaus-Stil und dem Minimalismus verbunden. Sie waren die Designerin, die sich auf zeitgenössische Phänomene in der Kunst berief. Woran orientieren Sie sich heute?

Wir hatten nie zuvor so eine Unsicherheit in der Frage, was Kunst ist. Es ist nicht leicht, hier eine Position zu finden. Mode, Kunst, Fotografie und Film, das fließt alles ineinander. Wenn ich mich auf Kunstmessen bewege, versuche ich immer, die Dinge zu verstehen. Aber Andy Warhol hat man damals mit seinen Brillo-Kartons auch nicht verstanden, und heute weiß man, dass es absoluter Zeitgeist war.

Traditionell zählte in Deutschland das Innere mehr als das Außen. Sind Sie auch in diesem Sinne eine deutsche Designerin?

Ich glaube, dass gerade die Frauen immer gespürt haben, dass in meiner Mode so etwas wie eine Seele steckt. Mein Denken und mein Körpergefühl haben sich darin übertragen. Es ist ja bekannt, dass ich früher sehr schüchtern war. Ich musste alles erst lernen und brauchte einen Halt, eine Stärkung, wenn ich in Meetings ging. Ich habe Mode für mich entworfen, und dann tat sie auch anderen gut. Früher kam es nur auf Kopf und Geist an, heute ist alles viel äußerlicher geworden, aber das hat auch eine therapeutische Seite. Ich finde, man sollte sein Bewusstsein sichtbar machen, statt sich zu verkleiden.

Um auf die Mode von heute zurückzukommen: Sie beschleunigt sich immer mehr, man erkennt kaum noch Trends, sondern hört nur noch die Recycling-Geräusche. Hat der Jil-Sander-Stil, der auf zeitübergreifende Werte setzt, noch eine Chance?

Dieser Stil ist ja nicht zeitlos, er reizt nur nicht zum Wegwerfen. Gerade wenn man nicht einfach von Saison zu Saison das Dekor wechselt, sondern das Neue in vielen Fittings aus der Kleiderskulptur herausarbeitet, wenn die Schnitte stimmen und handwerklich präzise umgesetzt sind, dann kann ein Kleidungsstück über Jahre seine Energie behalten.

Wir sprechen hier vom feinen Grad des Minimalismus, aber für viele heißt Mode auch Extravaganz.

Extravaganz kann vieles sein. Extravaganz gab es in der Mode auch zu Beginn des 18. oder 20. Jahrhunderts. Aber erst heute ist Extravaganz zum Synonym für schlechten Geschmack geworden. Was man so nennt, ist in Wirklichkeit eine heillose Mischung der Stile.

Gibt es denn überhaupt noch modische Kreativität, oder ist nicht alles schon hundertmal durchgespielt? Für mich ist jemand kreativ, der ein Gespür für Veränderung hat.

Ein kreativer Mensch ist immer ein Seismograph. Und wenn sich heute so viel wiederholt, dann liegt das auch daran, dass wir Angst vor der Zukunft haben. Das modische Recycling ist wie ein Nebel, der uns einlullt und die Sicht nimmt. Aber man darf nicht vergessen, dass es eine riesige Ungleichzeitigkeit gibt. Russland, China, Indien, ganz Asien fast machen zum ersten Mal Bekanntschaft mit Luxus und Mode. Für diese gigantischen Käufergruppen wird das modische Theater des 20. Jahrhunderts im Schnelldurchgang noch einmal aufgeführt. Letztlich kommt es aber gerade für all die neuen Käuferschichten darauf an, eine gute Figur zu machen. Wenn man sich auf dem globalen Markt und in globalen Positionen behaupten muss, dann will man nicht exotisch aussehen, sondern sich auf Augenhöhe selbstbewusst begegnen. Was sich aus dem Wirrwarr langsam herauskristallisiert, ist das Bedürfnis nach einer gemeinsamen, weltweiten Sprache der selbstverständlichen, modernen Eleganz. Vielleicht war es noch nie so wichtig wie jetzt, souverän gekleidet zu sein und sich nicht in lächerlichen Monturen zu verstecken.

Das klingt fast nach einer neuen Mission: einer Uniform für die Menschheit. Sie haben als +J-Designerin auch von „demokratischer Mode für das neue Jahrhundert“ gesprochen.

Das habe ich ja von Anfang an gewollt: die ganze Welt neu anziehen. Aber damals war die Welt viel kleiner, und die Frauen, die meine Mode verstanden, konnten sie sich oft nicht leisten. Das hat sich zum Glück gründlich geändert.

Angefangen haben Sie 1973 mit dem Slogan „Gutes Design für wenig Geld“. Damals haben Sie noch Mode für die Apo machen wollen. Sie sagten in einem „Spiegel“-Interview: „Meine erste Idee passte genau in die damalige Stimmung, ich wollte preiswerte Mode machen, einfache, weiche Sachen, die sich gegen den modischen Firlefanz abhoben.“

Aber dann waren die ungefütterten Jacketts, die ich in Indien hatte schneidern lassen, eine Katastrophe. Qualität ist eben nicht umsonst zu haben.

Und doch haben Sie bei Uniqlo im Preis-Leistungs-Verhältnis die Schallgrenze durchbrochen. Niemand hätte vorher für möglich gehalten, dass Jil Sander einmal Billigmode machen würde.

Es war auch keine Billigmode! Wir haben in den gegebenen Grenzen das absolute Optimum herausgeholt. +J hatte class und Qualität.

Und jetzt schließt sich der Kreis, und Sie sind wieder in der Couture angekommen. Hinterlässt die Erfahrung bei Uniqlo Spuren?

Schon, aber nicht im schlechten Sinne. Dass ich so sorgfältig und ökonomisch mit meinen Möglichkeiten umgehen und gleichzeitig in großen Stückzahlen planen musste, hat mich noch konzentrierter gemacht. Außerdem habe ich viel von dieser Mass Market Company gelernt. Tokio mit seinen vielen Menschen hat auch meinen Horizont erweitert.

Wird es Ihnen schwerfallen, in Ihrer eigenen Firma unter fremder Leitung zu agieren?

Gott sei Dank verfüge ich über eine natürliche Autorität, die ich nicht unbedingt als Unternehmenseigner unter Beweis stellen muss.

Es gibt Stimmen, die sagen, dass die Mode selbst ein vergangenes Phänomen ist. Hubert de Givenchy beklagte jüngst, dass alle Aufmerksamkeit den Accessoires gilt, die Kleider einfallslos sind und niemand mehr daran denkt, Frauen durch Kleidung schöner zu machen. Stimmen Sie zu?

Die großen corporated labels machen heute 65 bis 75 Prozent ihres Gewinns mit Taschen. Aber natürlich wird es eine wichtige Aufgabe sein, authentische Jil-Sander-Accessoires zu entwerfen, die zu unserem individuellen Denken passen.

Eine Rückkehr wie die Ihre zur eigenen Marke ist etwas Neues in der Mode. Worin sehen Sie die Gefahren?

Ich sehe keine Gefahren. Denken Sie an Steve Jobs - als er zu Apple zurückkam, fing es mit Apple erst richtig an.

Aber er hat sich für seine Vision und seine Standards auch völlig aufgerieben …

Die Gefahr ist immer dabei, wenn man etwas richtig macht. Anders hätte er es wohl nicht hingekriegt. Aber Steve Jobs hat nie eine wirkliche Auszeit gehabt, er hat Pixar gegründet und einen Cube-Computer entwickelt. Er hatte immer Stress. Ich bin vor Uniqlo für zwei Jahre wirklich draußen gewesen und habe gelernt, dass es ein Jenseits der Mode gibt, aus dem man Kraft schöpfen muss.

Und was ist dieses Jenseits heute?

Die Natur, zum Beispiel. Und als ich in Paris auf der Stoffmesse war, habe ich auf dem Weg zum Flughafen noch einen russischen Gottesdienst besucht. Die Kirche war absolut rund und hatte diesen goldenen Schnitt, und die Menschen haben vor einer speziellen Madonnen-Ikone inbrünstig gebetet. Die Atmosphäre hat mich tief in sich hineingezogen. Das war ein sehr beglückendes Erlebnis.