Wie agieren Frauen hinter der Kamera, Frau Newton?

Interview
zuerst erschienen am 4. September 2010 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. Z6
Bekannt ist die Ehefrau von Helmut Newton unter einem anderen Namen: Alice Springs. An ihrem Wohnsitz in Monte Carlo lässt sich die Fotografin zu einem Werk befragen, das von Yves Saint Laurent bis zu den Hells Angels reicht. Sie antwortet knapp und präzise. Von

Sie sind als Fotografin von Anfang an nicht als die Frau Helmut Newtons, sondern unter dem Künstlernamen Alice Springs aufgetreten. War er für Sie befreiend oder gar beflügelnd?

Weder befreiend noch beflügelnd, aber es gefiel Helmut so. Jean Seberg war mit ihrem Freund zum Abendessen bei uns, und ich hatte gerade vom Art Director des nicht mehr existierenden Männermagazins „Adam“  gehört, dass sie Fotos publizieren wollten, die ich auf einer Kopenhagener Werft von tätowierten Matrosen geschossen hatte. Helmut wollte wissen, welchen Namen ich für den Bildnachweis zu benutzen plante. Ich wusste es nicht, bis Jeans spanischer Freund Riccardo mich um einen Atlas bat. Er schlug die Landkarte Australiens auf, verlangte nach einer Nadel und bat mich, sie mit geschlossenen Augen fallen zu lassen. Sie fiel auf Alice Springs.

In Ihrer Autobiographie „Mrs Newton“ erzählen Sie, dass eine Freundin der Familie Ihnen als Kind die Zukunft aus dem Tee las: Sie würden ein Leben lang von Kameras umringt sein, aber nie davor stehen. Hat diese Prognose Sie beeinflusst, oder war sie vergessen, als Sie Helmut Newtons Melbourner Studio zum ersten Mal betraten?

Die Prognose hat sich nicht bewahrheitet, denn als Schauspielerin war ich in den fünfziger Jahren zur Zeit der Live-Aufzeichnungen ständig vor der Kamera. Einmal habe ich Shakespeares Hekate, die Königin der Hexen, im australischen Fernsehen gespielt, mit falschen Wimpern, Fingernägeln und so weiter. Als ich nach Hause kam, saß Helmut mit Freunden noch vor der „Macbeth“-Übertragung. Seine ersten Worte waren: „June, wer hat Hekate gespielt?“

Sie schildern viele, zum Teil auch gefährliche Situationen, in denen Sie schnell handeln mussten, an nächtlichen Bushaltestellen zum Beispiel. Konnten Sie sich immer auf Ihre Intuition verlassen?

Ich weiß nicht, warum, aber ich habe meinen Instinkten immer vertraut, und sie haben mich nie enttäuscht.

Gab es Momente in Ihrem Leben, in denen Sie einen ganz anderen Weg hätten nehmen können? Und wenn ja, denken Sie manchmal über die Möglichkeiten nach, die sich Ihnen geboten hätten?

Ich habe im Leben viele Wege verfolgt. Aber wirklich entbehrt habe ich meine Schauspielarbeit, nachdem ich mit Helmut nach Paris gezogen war. Ich bin einige Male nach London gefahren, um dort im Fernsehen aufzutreten, aber schließlich habe ich beschlossen, diese Karriere völlig aufzugeben. Als Helmut begriff, wie unglücklich mich die Entscheidung machte, hat er mir zu Weihnachten Leinwände und einen Farbkasten geschenkt mit allem, was sonst noch zum Malen gehört. Ich bin ins nächste Kaufhaus gegangen und habe mir Bücher zum Thema gekauft, Anleitungen darüber, wie man Tiere malt und Farben mischt. Und dann habe ich bis zu dem Tag gemalt, an dem ich Helmut bei einem Termin für die Zigarettenmarke „Gitanes“ vertreten musste und mein erstes Männermodel fotografierte.

Erinnern Sie sich an die Gefühle dieses Tages in Paris, als Sie für Ihren erkälteten Ehemann einsprangen? Wie war es, als Ersatz akzeptiert zu werden und sich beweisen zu können?

Zunächst einmal hätte ich es sehr gut verstanden, wenn das Model es vorgezogen hätte, den Termin zu verschieben. Außerdem war ich nicht da, um mein Talent zu zeigen, ich sollte nur Helmut vertreten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass es der Anfang einer zweiten Karriere war.

Die faszinierende Natürlichkeit der Porträts, die Sie von weiblichen Models, aber auch von prominenten Frauen wie Charlotte Rampling, Niki de Saint Phalle oder Grace Jones gemacht haben, wurde oft bemerkt. Was geht zwischen zwei Frauen vor, wenn eine Kamera ins Spiel kommt?

Nichts anderes als zwischen Mann und Frau. Wirklich fasziniert hat mich, was zwischen den Müttern und Babys vorging, die ich fotografiert habe. Diese Fotoserie aus den Siebzigern war sehr ungewöhnlich für ihre Zeit. Sie haben dabei alle Madonna-Klischees elegant vermieden, Mutter und Kind erscheinen als selbständige, voneinander unabhängige Charaktere. Ich habe es geliebt, Mütter und Väter mit ihren Babys zu fotografieren. Man wusste nie, was als Nächstes passiert, jeder Augenblick war unberechenbar.

Vor allem in Ihrer Werbefotografie haben Sie mit viel Humor gearbeitet. Beruhte diese Stimmung auf Vorgaben, oder hatte sie mit Ihrer generellen Lebenseinstellung zu tun?

Humor entspricht meiner allgemeinen Haltung zum Leben.

Sie haben über die Zeit Ihrer Zusammenarbeit mit dem nicht länger existierenden Modemagazin „Depeche Mode“ geschrieben: „Ein neuer Wind hat geweht, und ich gehörte dazu.“ Können Sie das noch genauer beschreiben?

Ich hatte damit gemeint, dass in den siebziger Jahren unter Fotografen ein Ausbruch von Energie und Freiheit zu bemerken war, der leider nicht lange anhielt.

Ihr Porträt des Modemachers Hubert de Ginvenchy im weißen Couturierkittel ist ikonisch geworden. Wie kam es dazu?

Er hat sich einfach in dieser Position auf den Stuhl gesetzt. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als die Kamera zu bedienen.

War es Ihre Idee, Designer gemeinsam mit ihren Müttern zu fotografieren?

Nein, das war ein Auftrag des „Sterns“.

Ihre Porträtfotografie besitzt eine klassische Anmutung, die diesseits der fünfziger Jahre selten zu finden ist. Wie sind Sie die Sitzungen angegangen?

Ich habe mich jeweils bemüht, nichts an meinem Gegenüber zu verändern und seine Gedanken von der Tatsache abzulenken, dass es sich vor einer Kamera befand.

Hat Ihre Schauspielkarriere dabei in irgendeiner Weise geholfen? Haben Sie zum Beispiel Ihre mimischen Talente gebraucht, um eventuelle Befangenheiten zu lösen?

Ich habe meine Bühnenerfahrung genutzt, wenn es nötig war. Vielleicht habe ich den Porträtierten sogar etwas vorgespielt. Graham Greene brachte ich Tee und einen kleinen Teetopf mit. Ich werde nie erfahren, ob es dem Termin genützt hat, aber geschadet hat es jedenfalls nicht. Er gab mir alle Zeit, die ich brauchte, ich hätte diesen wunderbaren Mann ewig weiter fotografieren können. Aber ich habe immer darauf geachtet, das mir gezeigte Entgegenkommen nicht überzustrapazieren. Ich bin nie vor die Tür gesetzt worden. Vielleicht gehört ein Sinn für richtiges Timing dazu, ein Gefühl dafür, wann die Party vorbei ist. Es ist wie im Theater: Die Tür geht auf, der Vorhang hat sich gehoben. Und dann musst du deine Arbeit so gut wie möglich machen, bevor er wieder fällt.

Im fotografischen Werk Helmut Newtons gibt es eine stark narrative, dramatische Tendenz. Halten Sie es für denkbar, dass er künstlerisch von der Schauspielerin in Ihnen beeinflusst wurde?

Nein. Helmut war eine Sache für sich und ziemlich einzigartig.

Waren Sie sich bei den Porträts der Egostärke der Menschen vor Ihrer Linse bewusst? Und hat so eine Kraft für oder gegen Sie gearbeitet?

Ich hatte schon ein Gefühl für ein starkes Ego oder sein Fehlen. Beides ergab Resultate. Echte Egos wie das von Hans Hartung oder dem Schriftsteller Bernard Lamarche-Vadel sind ein Bonus. Immer wenn ich mit jemandem konfrontiert bin, der oder die genau weiß, was er oder sie tut, dann warte ich darauf, dass etwas mehr passiert.

Von wem wurden die Kulissen ausgewählt, wer bestimmte die Kleider?

Das hing von den Umständen ab. Bei Modeaufträgen waren die Redakteure für die Kleider zuständig. Bei Porträts habe ich meist eine Umgebung gewählt, mit der die Porträtierten vertraut waren; sie trugen ihre eigenen Kleider. Im Übrigen habe ich bei jedem Shooting die beste vorhandene Lichtquelle ausfindig gemacht und mir einen guten Hintergrund gesucht. Eine bekannte Persönlichkeit fragte mich einmal mitten in der Sitzung, ob mir nicht klar sei, dass ich die falsche Seite ihres Gesichts fotografiere. Doch, habe ich geantwortet, aber das Licht darauf ist phantastisch.

Männer treten vor Ihrer Kamera sehr selbstbewusst und maskulin auf. Sogar an einem Orang-Utan lässt sich das notieren. Wie haben Sie ihnen diese Lizenz zum Spielerischen vermittelt?

Wenn Sie meine Männerakte meinen: Mir kam es völlig natürlich vor, dass sie keine Hemmungen hatten, sonst hätten sie sich nicht vor mein Objektiv begeben. Meistens habe ich bei einem von Helmuts Shootings die Gelegenheit genutzt und die Models gefragt, ob sie anschließend noch ein bisschen Zeit für mich hätten. Und die hatten sie immer. Der britische Maler William S. Hayter hat darum gebeten, den Akt, den ich mit ihm gemacht habe, erst nach seinem Tod zu veröffentlichen. Vor der jetzt laufenden Berliner Ausstellung habe ich seine Witwe angerufen, und sie war so reizend, es mir zu erlauben. Auch der Künstler mit dem Namen Ben legte alle Hüllen ab, aber mir gefiel das Foto besser, auf dem er von Blättern bedeckt ist.

Wie haben Sie sich auf Ihre Aktfotografie eingestimmt?

Auf dieselbe Weise, auf die ich mich für das Fotografieren von Babys, Blumen und Landschaften vorbereite.

Sie waren mit vielen der Porträtierten befreundet. Haben sich diese Freundschaften aus den Fotositzungen ergeben, oder bewegten Sie sich ohnehin in denselben Kreisen?

Viele hatte ich schon vor dem Fototermin getroffen. Aber es war mir lieber, Menschen zu fotografieren, die ich noch nicht kannte.

Was macht in Ihren Augen das Wesen eines Künstlers aus?

Künstler haben meist nicht die Absicht, Künstler zu werden. Die meisten der Künstler, die ich kenne, begannen mit einer bestimmten Begabung. Alles andere war harte Arbeit und manchmal ein wenig Glück.

Sie waren bei den Fototerminen Ihres Mannes oft dabei und haben sie mit der Kamera begleitet. War das für Sie eine Art visuelles Tagebuch, oder hatten Sie mehr im Sinn?

Wenn ich Helmut dabei fotografiert habe, wie er ein Model fotografierte, dann kam es mir auf nichts anderes an als auf Helmut, der ein Model fotografierte.

Wie war es, so ein nomadisches Leben miteinander zu führen?
Helmuts Leben war nomadischer als meines. Ich bin ihm einfach überallhin gefolgt, wohin er ging.

Es gibt noch immer sehr wenige Frauen in der kommerziellen Fotografie. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ja, es gab und gibt ziemlich wenig Frauen in diesem Geschäft. Aber die meisten sind verdammt gut gewesen.

Ist das Zeitalter der Fotografie in Ihren Augen mit dem zwanzigsten Jahrhundert zu Ende gegangen, oder ist noch Neues zu erwarten?

Die Tage der Fotografie, wie ich sie kenne, sind gezählt. Aber für die neue Generation hat die Ära der neuen Technologien und der Digitalfotografie gerade erst begonnen.

Und wie fühlen sich die vielen intensiven Momente an, die Sie über lange Zeit hinweg festgehalten haben?

Sie bewegen sich wie in einem Kaleidoskop. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Das hängt aber von den Wunden ab. Die Zeit hat meine geöffnet, und nichts kann sie heilen.

Zur Person

June Browne kommt am 3. Juni 1923 im australischen Melbourne zur Welt. Nach einer Schauspielausbildung ist sie unter dem Künstlernamen June Brunell in zahlreichen Stücken auf der Bühne und im Fernsehen zu sehen.
1947 lernt sie in Melbourne den Fotografen Helmut Newton kennen und heiratet ihn im Jahr darauf. Nach einem gemeinsamen Arbeitsaufenthalt in Europa 1956 ziehen beide 1961 nach Paris.
1970 vertritt June Newton ihren Mann bei einem Werbeauftrag. Der Notfall wird zum Beginn ihrer fotografischen Karriere unter dem Pseudonym Alice Springs. 1983 publiziert sie einen Porträtband. 1998 erscheint der Fotoband „Us and Them“, der das fotografische Werk des Paars gegenüberstellt.
2004 eröffnet sie wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes die Helmut Newton Stiftung in Berlin. Seither hat sie dort eine Reihe von Ausstellungen kuratiert.