Nicht so penibel mit dem tausend Euro teuren Kaviar

Portrait
zuerst erschienen am 30. März 2005 in Frankfurter Allgemeine Zeitung
Drachentöter mit der Kamera: Ein Besuch bei dem Fotografen Juergen Teller

Nichts wird so fieberhaft recycelt wie die Motive der Werbefotografie. Die Lücke für das ungesehene Bild, den überraschenden Ausblick, die mesmerisierende Stimmung wird immer enger, so daß Kampagnen seit einiger Zeit den Befreiungsschlag im bewußt Unansehnlichen, Taktlosen und Obszönen suchen.

Dies gilt nicht zuletzt für die Modefotografie, ein heikles Terrain, da der Konsument sich gerade auf diesem Markt ins Foto hineinträumen und mit dem Gebotenen identifizieren soll. In der Wette auf die Wahrnehmungsökonomie scheint auch hier das Skandalon über eine Ästhetik der Makellosigkeit zu siegen. Das Model und sein Aufzug - sonst das A und O jedes kommerziellen Shootings - treten in den Hintergrund zugunsten von szenischen Valeurs, pseudofilmischen Handlungen, zu denen sich das Bild wie ein Standfoto verhält, und - immer häufiger - einer Selbsterkundung des Fotografen, der sein Milieu, seine Vorlieben und seine intime Existenz ausstellt oder für die Kamera simuliert. Bruce Weber filmt konfessionelle Videos und holt seine Hunde ins Foto, Terry Richardson suggeriert Orgien und lichtet seinen nackten Körper prosaisch ab: eine autoreflexive Fleischbeschau.
Dabei macht ihm nun das fränkische Kleinstadtkind Juergen Teller heftig Konkurrenz. Richtig berühmt wurde sein greller Dokumentarstil durch das Model Kristen McMenamy, die Teller mit blauen Flecken und Lippenstiftherz auf der bloßen Brust und in hündischer Pose unbekleidet vor einer Heizsonne aufs Bild bannte. Solche voyeuristischen Tendenzen haben ihre Wurzeln im stilisierten Drogen-Chic der neunziger Jahre, in den provokanten Punk-Attitüden der frühen Achtziger, aber auch in Andy Warhols schmuddeligen Realzeit-Filmen und den Freak-Porträts einer Diane Arbus. In dem Maße, in dem die Modefotografie Tabus und Grenzzonen erkundet, steigt auch der Anspruch auf ihren Kunstcharakter. So wuchs sich eine Werbefotoserie, die Juergen Teller für den New Yorker Designer Marc Jacobs im Pariser Hotel „Crillon“ produzierte, zu einem provokanten Kunstbuch aus, das der Fotograf unter dem Titel „Louis XV“ publizierte.
Auf den Bildern sehen wir ihn und die Schauspielerin Charlotte Rampling im „Königszimmer“ des Luxushotels freizügig posieren. Der Leinwandstar ist in diverse Negligés gehüllt, Teller in wohlige Blöße, für deren bacchantische Valeurs er sich gezielt einen Bauch anfutterte. Kritische Stimmen wollten in seiner ungeschönten Selbstdarstellung Echos einer protofaschistischen Nacktkörperkultur erkennen. Teller „germanisiere“ seine Objekte, erwecke in Charlotte Rampling ihre Domina-Figur aus dem „Nachtportier“ zum Leben, jenem Film, in dem sie eine auf Sadomasospiele spezialisierte Holocaust-Überlebende gab. Tatsächlich fällt es eher schwer, die „Louis XV„-Serie auf einen solchen plakativen Kern zu münzen, ist der Aufnahmemodus doch betont unprofessionell, zehrt von irritierenden Perspektiven und tragikomischen, alle bildästhetischen Konventionen über den Haufen werfenden Zwischenmomenten.
Er habe sich mit Charlotte Rampling auf eine sechs Monate währende Reise begeben, erklärte der Fotograf, bei der es mehr auf die Offenheit der Seele als des Körpers ankam: Anläßlich ihres sechzigsten und seines vierzigsten Geburtstags hatten sie eine Geschichte zu erzählen, die sich nach und nach bei der Sicht der Fotos und weiteren Sessionen herausschälte. Daß es dabei auch um die Erkundung einer diffusen, fetischistischen Erotik ging, ist angesichts der Requisiten unübersehbar: „Das war einfach erdrückend und faszinierend, was da alles angeschleppt worden ist.“ Teller ließ massenweise Blumenarrangements, Fruchtetageren und Petits-fours-Tabletts kommen, er stellte die ohnehin schon von verschnörkelten Reizen überbordende Rokokosuite mit Silberkännchen, Champagnerkübeln, Aschenbechern, Make-up-Utensilien und modischen Accessoires voll. Zur Vanitas-Symbolik gesellt sich neben der barocken Erschlaffung beider Akteure auf Ramplings Seite eine melancholische Verhaltenheit, die von Teller durch regressives Rüpeltum pariert wird. Er pinkelt in eine Mokkatasse, schmiert sich das Maul mit Kaviar voll und streckt dem Betrachter seinen Hintern entgegen. Kurz, er benimmt sich wie ein Landsknecht, der einen Palast samt Schloßherrin  in seine seelische Gewalt bekommen hat.
Aufregend wird dieser Bildroman erst dadurch, daß das Machtverhältnis in der Schwebe bleibt. Wir haben es auf keinem Foto mit einer Herr-und-Knecht-Konstellation zu tun, sondern mit den Ambivalenzen einer so mutwilligen wie unbeholfenen Zärtlichkeit, die Ohnmacht und Lächerlichkeit von Anfang an riskiert.
Risiko ist ein Lieblingswort Tellers, er möchte es nicht nur auf seine Arbeit, sondern auch auf das Leben angewendet wissen. Wenn ihn etwas zum Künstler macht, dann diese Bereitschaft, die eigene Existenz wie eine Wunde zu exponieren. Die „Louis XV„-Serie muß in Zusammenhang mit seinen „Ich bin vierzig“-Fotos gesehen werden, die er daheim in Bubenreuth knipste. Höhepunkt dieser Arbeit ist das „Märchenstüberl“, jener mit Intarsienbildern, Kuhglocken, Lochstickereien, Partykerzen, Bierseideln, Geweihen und Girlanden überquellende Kellerraum, in dem ein zipfelmütziger Juergen Teller auf dem Sofa herumkaspert. Ihn habe fast der Schlag getroffen, behauptet er, als er dieses verwunschene Zimmer fast zwanzig Jahre nach seinem London-Umzug wiederentdeckte. Mit dem Keller verbindet er einen märchenerzählenden Großvater, die positive Figur in einer von einem haltlosen Vater traumatisierten Kindheit: „Mein Großvater hatte viel Phantasie und Kraft, die er mir gegeben hat. Er hat eigentlich komische Phantasiemärchen erzählt, die nicht nur von den Gebrüdern Grimm waren, sondern irgend etwas aus dem Kopf heraus, dem du dann zugehört hast.“ Im endlosen Variantenreichtum meditativer „Hms“, auf die sich Teller gerne im Gespräch zurückzieht, meint man die Trance des lauschenden Buben auch heute noch zu erkennen.
Die unpolierte, kleinbürgerliche Intimität seiner Aufnahmen von Starmodels wie Kate Moss und Kristen McMenamy waren der erste Coup, mit dem er die zeitgenössische Ästhetik ins fränkische Milieu verwickelte. Doch der Rampling-Strip wurde in dieser Hinsicht zu seinem Meisterstück: „Dieses Hotel Crillon: das ist das Märchenstüberl, hab‘ ich mir gedacht. Das ist genau dasselbe in Grün. Da gibt es überhaupt keinen Unterschied.“ Der gemeinsam mit seinen Eltern, Großeltern und der Familie des Onkels aufgewachsene Teller hat die verkeilte Enge seiner Kindertage auf das Pariser Königszimmer projiziert und damit zugleich jenen Wunsch verwirklicht, der auf dem Grunde aller Märchen ruht. Daß er als ungehobelter Tor und Hans im Glück die Prinzessin - ob Kate, Kristen oder Charlotte - erobern und mit seiner naiven Schlammgabe die Kreativität im Schloß Crillon einführen würde, ist ein infantiler Traum, den sich der Fotograf mit ganzem Herzen erfüllte.
Hier liegt der Schlüssel zum Erfolg des deutschen Provinzlers, der seiner Vorstellung von Gemütlichkeit treu blieb und sich selbst ermuntern mußte, mit dem tausend Euro teuren Kaviar nicht allzu penibel umzugehen. Juergen Tellers Geschichte ist kein goethischer Bildungsroman, in dem der grobe Klotz zu einem feinsinnigen Kavalier wird, sondern die schwüle und rührende Stammtischphantasie eines Menschen, der nie einen Schritt unternommen hat, um einen Prinzen aus sich zu formen. Daß Teller diese Diskrepanz adäquat abbildet, macht die Künstlichkeit seines Verfahrens aus. Seine Crillon-Suite erinnert an die vandalisierten Paläste von Havanna, Versailles und Sankt Petersburg, an den Einzug einer kuscheligen, agoraphobischen Höhlenmentalität in die Fluchten des Imperialismus. Damit hat Teller viel über unsere Ansprüche auf einen Luxus verraten, mit dem wir längst nicht mehr umgehen können. Die Talente der Dosierung, der Askese und des anerkennenden Genusses sind uns längst abhanden gekommen. Wir benehmen uns eben wirklich wie Ludwig XV., der an seinen Exzessen zugrunde ging.
Vom Großvater übernahm Teller eine Art der Verschwendung, die ohne Kopfschmerzen auskommt. Wie jener hat er sich in die Möglichkeit geflüchtet, seine Träume in Fiktionen auszuagieren. Deshalb sind die Märchenversionen des Fotografen genauso „komisch“ wie die seines Ahnen, denn er zeigt, wie das weniger geleistete als ertrotzte Happy-End in der prosaischen Wirklichkeit aussieht: „Der Punkt ist, daß man ehrlich gegenüber sich selber sein muß, dann kann alles gehen.“ Dank seines ironisch zelebrierten Kleinbürgertums vertritt Teller nicht nur das planierende, destruktive Prinzip der Geschichte, sondern als kugelbäuchiger Faun zugleich das regenerierende der Natur. Weil er sich zuviel zumutet und Hals über Kopf in seine Wünsche abtaucht, gelangt er nicht nur zu den Prinzessinnen des Trendmilieus, sondern auch zu den Müttern. Selten hat ein Künstler so furchtlos das ödipale Tabu attackiert, das dem Sohn die Rückkehr zu seiner Erzeugerin verstellt. Die Crillon-Fotos muten wie Szenen eines Kampfes an, in dem sich ein Drachentöter in den umwucherten Venusberg vordrischt.
Daß es ihm mit Charlotte Rampling möglich wurde, das glamouröse Bild der begehrenswerten Mutter wiederaufzurichten, hat allerdings seinen Preis. Auf den Auslöser drückte Tellers Gattin, die Galeristin Sadie Cole. An die Stelle des Vaters im familiären Dreieck tritt die Schwiegertochter, die das Ausmaß der ozeanischen Verschmelzung kontrolliert. So bleibt die Rückkehr ins Ureine eine zivile Phantasie, an deren äußerstem Punkt der Fotograf Charlotte Rampling seinen Körper leiht, so daß ihr Kopf mit seinem nackten Leib zu verwachsen scheint - als phallische, unkastrierte Mutter.
Gerade in dieser Hinsicht tritt Teller tatsächlich das Erbe Helmut Newtons an, jenes anderen Fotografen, der die Grenze von Kunst und Mode verwischte. Was der gebürtige Berliner Newton mit mondänen Posen der Kaltblütigkeit berichtete, erzählt der unter Tropfsteinhöhlen aufgewachsene Franke mit der Schrulligkeit eines Trolls. Pubertäre Züge haben beide Künstler, ihre ewige Adoleszenz ist die Nebelkappe, unter der sie den Verblendungen der Konvention entkommen. Grausam nennt Teller den Berliner Meister und gibt zugleich zu, daß auch er mit seiner „Go-sees“-Fotomappe junger Aspirantinnen des Model-Berufs die Grausamkeit erlernte. Die Wahrheit hinter den Masken, mit denen wir unsere Träume zu Markte tragen, mag brutal sein, doch in ihrer Ausgeliefertheit ist sie auch bewegend: „Ja, man schützt sich“, sagt Juergen Teller am Morgen beim völlig kaviarfreien Frühstück in seinem Berliner Hyatt-Hotel, das er dessen coolen Minimalismus wegen verachtet: „Wenn jetzt das Zimmermädchen kommt, das hat auch eine Maske, das ist auch Show, wie beim George Cloony. Eine Maske hat jeder.“
In der Schule habe er „immer alles irgendwie falsch gemacht“. Indem er damit fortfuhr, machte der fränkische Senkrechtstarter plötzlich alles richtig. Camouflage nennt das die Mode. Die Natur ist eben die beste Verkleidung.