Im Ladenlabyrinth schöner Verpackung

Feuilleton
zuerst erschienen am 28. Oktober 2005 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 48
Wenn alles offenliegt, bleibt nur die Leere: Louis Vuitton eröffnet seine neue Flaggschiff-Niederlassung in Paris

Allen Gegenthesen zum Trotz hat der Mensch ein tiefes Bedürfnis nach Ordnung und wünscht, daß sich die Dinge selber ähnlich sehen mögen. Daher sein Vergnügen an Running Gags und berechenbaren Charakteren, die durch die Wiederkehr ihrer Ticks und Marotten entzücken. Jede Soap Opera lebt von der untergründigen Struktur, die das Tohuwabohu bändigt und jeden genau so agieren läßt, wie wir es von ihm erwarten. Deshalb sind klassische Komödiengestalten oft nicht so sehr durch ihren Namen als vielmehr durch den Beruf bezeichnet, der sie zu dem macht, was sie sind. Man findet sie heute weniger auf dem Theater als in den Shopping-Bezirken, dort, wo alteingesessene Marken Purzelbäume schlagen.

Doch alle Unternehmer, die ihrem Publikum allein durch das Unerhörte und modisch Neue begegnen, haben die Lustspiellektion nicht gelernt. Was der Kunde im Kaufrausch sucht, ist die plötzliche Rückkehr des längst Vertrauten in Dingen, die ihn nur auf den ersten Blick als fremd brüskieren. Hier liegt der Grund, warum Traditionsfirmen einen strukturellen Vorsprung genießen, denn die Jahre ihrer Marktbehauptung haben sie von selbst zu Komödianten gemacht.
Der Verpackungsspezialist Louis Vuitton hat sich seit den neunziger Jahren aus einem Taschen- und Reisegepäckproduzenten in ein immens erfolgreiches Lifestyle-Unternehmen verwandelt, weil er sich auf diese Kunst versteht. Geradezu kindisch muteten die vom amerikanischen Graffiti-Künstler Stephen Sprouse mit dem Vuitton-Namenszug besprühten Beutel und die bunten Monogrammtaschen des japanischen Künstlers Takashi Murakami an, doch das wirklich Kindische daran, das, was den kindlichen Konservatismus in den schlangestehenden Fans ansprach, waren die traditionellen Vuitton-Parameter, die darunter sichtbar blieben.
Das Spiel mit den Marken-Genen hat sich zur ersten Marketing-Disziplin entwickelt. Kompetent geführte Markenauftritte lassen sich heute wie literarische Texte analysieren. Und da die Kreativität zusehends in die Wirtschaft geht, dürfte auch die Philologie in die Shopping Malls abwandern. Das Wachstum einer Marke wie Louis Vuitton wird sorgsam überwacht und gestaltet sich in ebenso sensibler Tuchfühlung mit der Umgebung wie nach Darwin das Wachstum der Arten. Ob in Tokio, Schanghai oder Düsseldorf, das Ladenkonzept wird der Nachfrage entsprechend laufend modifiziert und bereichert; man baut um, kauft hinzu und trumpft in regelmäßigen Intervallen durch eine in Mode gekommene Wiedereröffnung eines bereits bestehenden Standorts auf. „Alles ist in Bewegung“, erklärt der von Konzernchef Bernard Arnault bei McKinsey abgeworbene Serge Brunswick in Frankfurt am Main, wohin er als zweiter Mann an der Vuitton-Spitze zur Geschäftserweiterung anreiste. „Sehen Sie sich zum Beispiel die Gepäckregale an, die sind neu. Das Holz ist das alte und erinnert daran, daß man bei Vuitton ist, aber wir haben ein wenig Asymmetrie eingeführt, was uns mehr Platz für größere Objekte gibt. Unser genetischer Code hat sich entwickelt. Die Symmetrie unseres Schachbrettmusters ist sehr Vuitton. Aber heute nutzen wir die Extreme und spielen mit ihnen. Wir sind sehr symmetrisch oder sehr asymmetrisch, sonst wird es langweilig. Dasselbe gilt für die Farben, sehr streng in Braun und Beige oder sehr lebhaft in allen Popfarben. Aus solchen Spannungen besteht der Reichtum der Marke.“
Daß der Lederspezialist die Gegensätze wie eine Haut aufspannt, läßt sich jetzt im wiedereröffneten Flagship Store an den Pariser Champs-Élysées studieren. Als „skin“ bezeichnet Serge Brunswick das metallische Vuitton-Monogramm-Gitter, mit dem Wände und Fenster im Innern überzogen wurden und das den Besucher mitten in einen gigantischen Koffer des Hauses versetzt. Große Warenfächer und vorspringende Regale verleihen dem Raum einen überdimensionalen Setzkastencharakter nach Art alter Reisetruhen, die im Innern für Parfümflakons, Puderdosen und Spazierstöcke parzelliert sind. Man spielt mit dem Zoom-Effekt des kindlichen Blicks, der sich in sein Spielzeug hineindenkt: „Humor ist wichtig; wir sind zugleich monumental und verspielt.“ Kein Wunder, daß neben aufgeklappten Schrankkoffern, die vom Teeservice über ein Schachspiel bis zur Reisebibliothek alles Erdenkliche enthalten können, auch altes Spielzeug aus der Produktion des Hauses zu bewundern ist: Flugzeuge, Autos und Schiffe en miniature, die das Reise-Gen der Marke bedienen.
Peter Marinos und Eric Carlsons dynamische Raumgestaltung mit über ihr Etagenniveau hinausragenden Plateaus und Loggien läßt an Steinquader eines frisch geöffneten Pharaonengrabs denken. Der Besucher fühlt  sich als Entdecker eines Ali-Baba-Schatzes, und alles, was er braucht, um die gut ausgeleuchteten Kleinodien zusammenzuraffen, ist ein großer, natürlich vorhandener Koffer. Denn der zweite Blick erkennt, daß es weniger Steinquader als die hoch an den Wänden aufgehängten Louis-Vuitton-Reisetruhen sind, deren babylonische Aufeinandertürmung das verschachtelte Interieur zitiert. Ist die Leichtigkeit des Schweren doch ein weiteres Paradox, mit dem der Taschen- und Kofferhändler für sich wirbt. Hierzu passen die siebzig Tonnen schweren Stahlstalaktiten, die im Atrium von der Decke hängen, als läge Lascaux mitten in Paris.
Louis Vuitton ist ein Verpackungsmagier, vor dem Christo erbleicht. Das Pariser Markenerlebnis hat etwas von einer russischen Puppe: Jedes Teil ist nur Hülle für ein anderes, und zum Schluß bleibt als Statement immer wieder ein Behälter übrig. Dekonstruktivisten würden vom unendlichen Rückzug der Metapher sprechen, denn wenn man alle vielversprechenden Kisten und Kasten geöffnet hat, ist der Laden leer.
Es paßt in die harmonische Entwicklung der Firma, daß Herr Arnault 1997 den amerikanischen Designer Marc Jacobs zur Entwicklung der Damenmode an Bord holte. Spielt auch er mit der DNS der Firma? Ununterbrochen, behauptet Serge Brunswick: „Marc Jacobs hat verstanden, daß ein Vuitton-Kleidungsstück aus reichem, schwerem Material konstruiert werden muß. Es besitzt viele handwerkliche Details, hat eine Aura von Unterfütterung, Struktur und materieller Raffinesse.“ Ganz wie ein luxuriöser Schrankkoffer eben.
Zur Feier der Pariser Wiedereröffnung hat Louis Vuitton in mehreren Sprachen eine opulente Firmengeschichte herausgegeben. Darin finden sich so lustige Geschichten wie die von der vor einem Jahrhundert aufgekommenen Mode der Kofferaufkleber. Namhafte Hotels nahmen es sich heraus, das Gepäck ihrer Gäste bei der Abreise mit Reklamestickern zu pflastern. „Einige mucken auf, bocken oder drohen sogar bisweilen mit Streichung des Trinkgelds, wenn man ihr Gepäck nicht in Frieden lasse. Sie sind allerdings eine verschwindend kleine Minderheit. Die gleichgültige Mehrheit läßt sich dies gefallen.“
Die Hoteliers hatten vom Kofferhersteller gelernt, wie sie ihre Kunden in wohlfeile Werbeträger verwandeln konnten: Immer wieder sah sich das von Plagiatoren geplagte Haus Vuitton genötigt, seine Artikeloberflächen neu zu gestalten. So wurde aus dem trianongrauen Leinenstoff 1872 ein in Rot-Beige senkrecht gestreifter, der sich vier Jahre später in das vertraute Braun-Beige-Duo verwandelte. 1896 ist es dann soweit: Louis Vuittons Sohn Georges entwickelt das aus den väterlichen Initialen, heraldischen und floralen, an die Bourbonen-Lilien erinnernden Motiven bestehende Monogramm: „Am Anfang war die Kundschaft zurückhaltend, forderte das Schachbrett oder sogar das Streifenmuster“, erinnert sich Gaston-Louis Vuitton, „aber mein Vater ließ nicht locker.“ Flächendeckend wird das Monogramm von nun an auf alle das Haus verlassenden Gepäckstücke geprägt, die Kundschaft gibt sich geschlagen, und die Logomanie nimmt ihren Lauf.
Jüngst hat Louis Vuitton einen waghalsigen Schritt über die Verpackung hinaus in Richtung Inhalt gemacht und Schmuck ins Sortiment aufgenommen. Es begann mit Bettelarmbändern, deren Eiffelturm- und Bowling-Bag-Anhänger noch in die Rubrik Spielzeug fallen mochten. Inzwischen gehören auch edelsteinbesetzte Ringe und Uhren mit Preisen im fünfstelligen Bereich dazu. Doch auch in den diamantengespickten Dog Collar schmuggelt sich eine Monogrammblüte oder ein goldenes Kofferschloß ein, und der mit einem Kubus verzierte Ring wird von vornherein „Mini-Koffer-Ring“ getauft. Da der Rundgang durch das Geschäft im Hause auch als „Kollier“ bezeichnet wird - mit einzelnen Verkaufsstationen als „Kronjuwelen“ -, verwandelt sich der angebotene Schmuck in ein Gleichnis für das Vuitton-Angebot. So hat man es in der Hauptstadt des Strukturalismus verstanden, auch das gewinnbringende Geschmeide in den genetischen Code einzubinden.
Das Arsenal der Träume und Illusionen wird souverän orchestriert. Das „Haus“, wie Arnault sein jüngstes Imperium gern genannt wissen möchte, enthält eine im Retro-Stil gebaute, lange „Bag-Bar“, eine Made-to-measure-Station im Stil alter Sattlerläden, eine endlose Rolltreppe aus solidem Holz, die den Passagier um hundert Jahre in die alte Kaufhauskultur zurückversetzt, boudoirartige Nebenschauplätze, eine Bibliothek mit Reiseliteratur und viel Video- und Lichtkunst, die den Museumsbesuch erübrigen will. Eine Promenade, heißt es, wolle man dem Besucher bieten, der sich treppauf, treppab durch das Ladenlabyrinth bewegt. Doch das Interieur des neuen Louis-Vuitton-Hauses spricht gerade in seiner eklektischen Mischung der Räume und Zeiten den Promeneur des einundzwanzigsten Jahrhunderts an, den World Tourist und City-Hopper, der ein Highlight an das andere reiht und von einer Ambiance in die nächste jettet.
Die Paradoxie, die am Ende übrig- bleibt, ist die von Stillstand und Bewegung. Das Louis-Vuitton-Haus geriert sich als dynamisches Multiversum, durch das die Besucher auf mannigfaltigen Pfaden wie Neutronen um ihre Atomkerne schwirren. Zugleich ist alles verstaut, gesetzt, verpackt, ineinander verschachtelt.
Als die Hoteliers Kofferaufkleber erfanden, erdachten die Zimmerkellner eine Methode, um vom Werbeauftritt ihrer Bosse auf eigene Art zu profitieren. Mit Kreidemarkierungen, die sie an diversen Stellen der Koffer anbrachten, schufen sie einen internationalen Kellnercode, der auf die Usancen der Gäste hinwies. Künstler wie James Turrell, Vanessa Beecroft und Olafur Eliasson, die Werke für das neue Vuitton-Haus konzipiert haben, nutzen die Welt der Koffer nach Kellnermanier. Es wird sich zeigen, ob ihnen die Kunstkritik des neuen Jahrhunderts treu bleibt oder ob sie für die daraus entstehende Markenkritik auf Dauer nichts als eine Klette sind.