Treppauf, treppab ins Wunderland
Kennen Sie das? Sie haben drei Verabredungen und können sich nicht entscheiden. Sie rufen die erste Verabredung an und teilen mit, daß es etwas später wird. Danach treten Sie mit der dritten Verabredung in Kontakt und fragen, ob Sie die zweite mitbringen dürfen. Jetzt ruft die erste Verabredung an und sagt, daß sie erst von acht Uhr abends an wieder Zeit hat. Verabredung zwei hat inzwischen eine SMS mit der Anfrage geschickt, ob Sie Lust auf eine Vernissage hätten, statt sich in einer Bar zu treffen. Verabredung drei klagt, daß fast alle Gäste kurzfristig abgesagt hätten und man jetzt um die Ecke zum Italiener gehen wolle. Sie fragen, ob Verabredung drei Lust hätte, vorher auf einer Vernissage einen Drink zu nehmen. Verabredung eins schickt eine Mail mit der lakonischen Mitteilung, daß sie von einundzwanzig Uhr an in einem Restaurant auf Sie warte. Sie erhalten einen Rückruf von Verabredung drei, dahingehend, daß es so aussieht, als würden die verbleibenden Gäste mit zur Vernissage kommen. Sie schicken Verabredung zwei eine SMS des Inhalts, daß Sie von zwanzig Uhr an bei der und der Vernissage seien und nicht wüßten, wie lange es dauere, bis Sie es zum Restaurant schafften. Verabredung zwei textet zurück, daß das ohnehin nicht mehr aktuell sei und sie versuchen werde, bei der Vernissage vorbeizuschauen. Zum Schluß finden wie durch magische Kräfte alle Verabredungen zur gleichen Zeit und am gleichen Ort statt. Sie sprechen mit niemandem richtig, Ihre Freunde haben sich nichts zu sagen, aber Sie lernen ein paar andere nette Leute kennen.
Genauso ist es in der Mode. In Berlin sieht man auf Schritt und Tritt junge Frauen, die, sagen wir, ein besticktes Kleid über einer Jeans tragen, dazu eine Safarijacke, Springerstiefel und eine Baseballkappe auf dem Kopf. Die Mütter und Großmütter stecken in Aerobic-Leggins, Leopardentop, Pumps und Denimjäckchen. Bei den Männern jedes Alters ist es nicht anders: Jeanshemd, Lederhose, buntgemusterter Strickpullover und Leinenjackett oder Lederweste, Logo-T-Shirt, Pepitahose und Strandsandalen: vier Verabredungen, ein schlechter Kompromiß. Auf der Berliner Premium-Messe (F.A.Z. vom 25. Juli) waren in der letzten Woche Schuhe zu sehen, die ein Hybrid zwischen Pantoffel, Sneaker und Gucci-Loafer darstellen und damit auf drei Parties zugleich tanzen wollen, die räumlich und zeitlich auseinanderliegen.
Seit dem Ende der neunziger Jahre recycelt die Mode nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern ganz selbstbewußt frühere Epochen. Diese Selbstbedienungsmentalität hat enorm an Tempo zugenommen. Einhellig nebeneinander sieht man an den Ständen gebatikte Hippie-Klamotten, flatternde St-Tropez-Fähnchen, Sportswear aller Art, griechische Falten, Gehröcke und schwere Faltenroben des vorletzten Jahrhunderts. Die Modeberichterstattung ruft in wirrer Kakophonie das Revival der sechziger, vierziger, dreißiger, achtziger und fünfziger Jahre aus. Wenn bei alldem noch von einem Trend gesprochen werden kann, so ist es die Simulation einer Abkehr von ichfremden Moden.
Mit generalstabsmäßiger Wucht wird das Verspielte, Dekorierte, Handgemachte auf den Markt geworfen. So wie lange Zeit die Jeans von Rissen werden jetzt die Stoffe von Klöppelspitze, kleinen Souvenirs und Stickereien vandalisiert. Das Signal ist das gleiche. Es besagt, daß der Träger anders ist, doch das Bettelarmband, das an seinem Gelenk klimpert, wurde in China im Akkord mit den Anhängseln bestückt. Was Ausdruck persönlicher Geschichte sein soll, ist nur eine Phrase. Niemand hat Zeit, tatsächlich mit Nadel und Faden Kreuzstiche auf seine Bluse zu zaubern, denn eine meditative Einlassung dieser Art würde die Person nicht nur aus dem Feld ihrer mobilen Mitstreiter schlagen, die endlich fertige Bluse käme für ihre Antimode-Aussage auch zu spät.
Die statische Gesellschaft ist in rastlose Bewegung geraten, jeder hält alle Optionen offen, läßt die Dinge an sich herankommen, verschiebt, verhandelt und schlägt blitzschnell zu. Seit jeder mit jedem ständig in Verbindung treten kann, hat das soziale Leben Börsencharakter angenommen, alle Teilnehmer operieren mit dem Spielbein, legen sich nicht fest, halten die virtuelle Welt der unbegrenzten Möglichkeiten bis zum letzten Moment offen.
Die Kommunikationsrevolution hat uns zu versierten Small-talk-Technikern gemacht; was der französische Salon den Deutschen jahrhundertelang nicht beibringen konnte, hat die Elektronik in weniger als zehn Jahren geschafft. Seither gleicht der menschliche Verkehr der Heisenbergschen Unschärferelation. Wie im atomaren kann man auch im sozialen Raum nicht gleichzeitig den Impuls und die Position der Elemente angeben, denn der Ort ihrer physischen Anwesenheit ist das Medium einer multidimensionalen Bewegung. Unsere einzige Gewohnheit scheint heute zu sein, keine Gewohnheiten mehr zu haben.
Eine nach Berlin gezogene Freundin beklagte sich kürzlich, daß das in ihr Auto eingebaute Navigationssystem ihr nichts nütze, weil es nicht anzeigen könne, wo man Bildernägel mit Messingköpfen oder eine Paravent-Polsterei finden könne. Ich selbst ertappe mich dabei, daß ich mein Adreßbuch anrufen möchte, genauso wie ich es mit meinen Telefonen mache, wenn eines der beiden verlegt ist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch solche Links per Impuls abrufbar sind. Wir haben uns daran gewöhnt, daß nicht nur jeder Kontakt, sondern praktisch auch jede Wunscherfüllung nur einen Knopfdruck entfernt ist. Insofern sind wir der symbiotischen Existenz, die Freud dem Mutterleib vorbehielt, noch nie so nahe gewesen. Andererseits waren wir selten so verunsichert, so wenig Herr unserer selbst.
Diese Navigationsexistenz mit laufendem Fine-Tuning führt dazu, daß wir nie genau wissen, ob wir Subjekt oder Objekt, Akteur oder Zuschauer der sich mit rasender Geschwindigkeit umbildenden Konstellationen sind. Das illustrierte während der Modemesse ein Hugo-Boss-Defilee in der Deutschen Oper. Die Gäste am Rande eines manegeartigen Platzes sahen agilen Models beim Abschreiten einer Wendeltreppe zu, die Reminiszenzen an Coco Chanels Salon in der Pariser Rue Cambon weckte. Was auf den ersten Blick sehr klassisch zuging, wurde zusehends beunruhigender. Im Halbdunkel waren nach einer Weile seitliche Ränge mit weiteren Zuschauern auszumachen, die auf die Gäste in der Manege als Bestandteil der Szene herabblickten. Nach der Show entpuppten sich auch diese Ränge überraschend als Bühne: Zahllose Lichter sprangen an, und bei orkanartigem Applaus wurde der eigentliche Zuschauerraum der Deutschen Oper sichtbar. Er war bis auf den letzten Platz mit jubelnden Boss-Mitarbeitern aus aller Welt gefüllt, für die alle anderen Gäste Elemente des optischen Spektakels waren.
Zu diesen Perspektivsprüngen gesellte sich noch ein vierter: Vor dem Defilee waren die Geladenen treppauf, treppab durch die byzantinisch weitläufigen Ateliers der Deutschen Oper geführt worden. Keine Werkstatt, sondern eine ganze Stadt tat sich unter den himmelhohen Decken auf, die lebensgroße Dinosaurierskelette, ganze Wälder, einen nicht unbeachtlichen Eiffelturm und riesenhafte Steinbilder beherbergt. Spätestens als die Besucherschar an einer gigantischen Kiste vorbeikam, in der eine Herde lebensgroßer Schafe steckte, während hinter einer Stellwand selbstvergessene Koloraturen erklangen, drängte sich die Erkenntnis auf, daß die Aufführungen der Deutschen Oper nur ein Vorwand sind, um diesen olympischen Handwerksbetrieb zu legitimieren.
Der Abend wirkte wie eine Allegorie auf die abrupten Statuswechsel der Parallelgesellschaft. Der postmoderne Promeneur zieht seine Bahn durch wechselnde Kreise, in deren jedem es zumindest phasenweise Zentrum und Peripherie, Gewinner und Verlierer gibt. Doch schon einen Schritt weiter gilt eine andere Ordnung, und wer in der einen im Mittelpunkt stand, der erscheint der nächsten als ephemerer Tourist, durch den man gelangweilt hindurchschaut. Marcel Proust hat diesen vexierenden Zustand für das Pariser Fin de siècle beschrieben, in dem sich die sozialen Schichten so schnell gegeneinander zu verschieben begannen, daß ein Causeur wie Swann - lange vor der Multipersönlichkeit Madonna - in jeder eine bedeutsame, wenn auch jeweils völlig andere Rolle spielen konnte. Inzwischen dehnt sich der soziale Kosmos wie das Universum in alle Richtungen aus, überall gibt es Systeme zu entdecken, deren Sonnen im Mittelpunkt der Welt stehen. Die Mode dieser Tage verdankt ihre Schizophrenie dem völligen Fehlen hierarchisch induzierter Normen und der irrlichternden Orientierung an wechselnden Stars, die ihrerseits längst Synapsen für ein Stilkauderwelsch geworden sind. In der Ökonomie des Begehrens möchte jeder jederzeit alles sein können.
Das Ergebnis ist nicht unbedingt ein bunter Zitatenschatz, sondern immer häufiger ein unentzifferbares Grau-in-Grau. Der mit der Umwelt verschmelzende Camouflagestil der modisch Entwurzelten bevorzugt im Land des Expressionismus trübe Rosatöne und verkalktes Jeansblau. Die Hosen sind allürefrei wie Kondome über das Fleisch gezwängt oder umwabern formlos Gesäß und Beine. Jacken hängen wie Kinderkleider stramm oder labbrig von den Schultern herab. Nirgends das Statement einer idealen Silhouette, wie sie die H-, A- oder S-Linien der internationalen Couturiers einmal gewesen sind. T-Shirts, die ohnehin kaum jemandem stehen, werden pauschal in Extralarge geliefert und unfehlbar mit brustschildartigen Attitude-Aufdrucken bedeckt. Nur unter Trümmerfrauen war das, was man sonst unter Mode verstand, so unerreichbar und gleichzeitig so evident.
Wo keine und wo unendliche Ressourcen zur Verfügung stehen, herrscht dasselbe unerbittliche Gesetz: Einzig und allein der Individualist, der seine Erscheinung als harte Arbeit versteht, wird unter Absehung von allen Diktaten und genauer Wahrung jener ästhetischen Gesetze, die im Kollektivbewußtsein verschüttet sind, mit dem Vorhandenen so umgehen, auswählen und kombinieren, daß er auf den ersten Blick überzeugt. In der von Goethe unternommenen Dreiteilung von Einfacher Nachahmung, Manier und Stil fällt diese Leistung unter den letzten Begriff und ist damit keine Mode mehr, sondern Kunst.