Yves Saint Laurent – Der Blick des unerbittlichen Kindes

Nachruf
zuerst erschienen am 03. Juni 2008 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 33
Er machte die männliche Uniform frivol und schuf eine Frau, die verspielt, unberechenbar und respekteinflößend war: Zum Tode von Yves Saint Laurent.

Er war das älteste Kind, Großsohn zweier Familien, die 1870 vor den Preußen aus dem Elsass ins algerische Oran geflohen waren. Die Sehnsucht nach der Heimat mag dazu beigetragen haben, dass der musisch-scheue Sohn ganz unarabisch bleiben durfte. Von Anfang an war Yves Saint Laurent der Genius des alten Frankreich, verhätschelt, zart, hochbegabt, raffiniert und theatralisch, ein Kind, das von seinem Publikum zu einer endlosen Kette von Wundern angespornt wurde. Er karikierte sonntägliche Gottesdienstbesucher in hingeworfenen Skizzen, lud seine Familie auf elaborierten Karten zu Couture-Schauen ein, die er mit Scherenschnitten realisierte, und verfiel aufs Stückeschreiben und Theaterspielen, als er mit zwölf Jahren eine Pariser Gastaufführung im Christian-Bérard-Dekor sah.

Doch so, wie der revolutionäre Terror das Ancien Régime beendete, machte die rauhe Schule Saint Laurents Glück abrupt ein Ende. Weltfremd in Schlips und Anzug, zog der effeminierte Knabe den Spott auf sich, wenn er seinen Mitschülern vom Fensterbrett der Schulkapelle aus beim Bolzen zusah: „Sie verhauten mich und sperrten mich in der Toilette ein. Ich war voll Trauer, Angst und Terror.“ Ruhm war seine Rache, und sie ließ nicht auf sich warten. Mit siebzehn gewann er einen Preis des Internationalen Wollsekretariats, ein Jahr darauf studierte er schon Mode in Paris - eine weitere Schulerfahrung, aus der ihn Christian Dior schnell befreite. Als der Couturier 1957 überraschend starb, übernahm sein Assistent die Führung, reiste nach Oran und begann zu entwerfen. Hier etablierte sich das Muster, das Yves Saint Laurent nicht mehr variierte: Er zeichnete sich in einen Rausch hinein, kehrte mit tausend Skizzen nach Paris zurück und überließ es den Directricen, die Kollektion daraus zusammenzustellen. Auch in späteren Jahren trieb die Fülle seiner plötzlich vor ihnen ausgebreiteten Ideen den fassungslosen Mitarbeiterinnen die Tränen in die Augen. Emotion ist das, was jeder Saint-Laurent-Liebhaber mit seiner Mode verbindet, die aus tiefen, unbewussten Schichten und einer fernab gelegenen Quelle in Afrika entsprang.

Doch auch der Schulhofblick vom Kapellenfensterbrett nahm Einfluss auf das Phänomen Yves Saint Laurent. Die Modepresse begrüßte ihn als das „traurige Kind“, als er 1960 den Beatnik-Stil der Vorstadtjugend mit schwarzen Blousonmänteln und Alligatorjacken aufnahm. Aus den Kostümen entfernte er alle Polster und Versteifungen und trug selbst die engen Jacketts, mit denen Hedi Slimane jüngst bei Dior Homme die Einsamkeit des Existentialismus aufleben ließ. Der Militärdienst brachte Yves Saint Laurent an den Rand des Wahnsinns, eine schnell abgebrochene Episode, die mit ihrer anschließenden Behandlung durch Elektroschocks ein Trauma für den Designer blieb, von dem er sich nie ganz erholte. Doch als er 1961 gemeinsam mit seinem Lebenspartner Pierre Bergé sein eigenes Haus gründete, fand er in der Mode ein Medium, das ihm die Auseinandersetzung mit dem für ihn Bedrohlichen erlaubte: mit Disziplin, Gewalt und erotischer Macht.

Die Jugendbewegungen der Nachkriegsjahre lehrten ihn, dass sich all das auch subversiv gebrauchen ließ, und so unterwanderte er, indem er aus den Trümmern der steifen X-, A- und Y-Silhouetten der fünfziger Jahre eine fließende, kühl-elegante, an unnachahmlichen Schultern und markanten Hüften aufgehängte Damenmode schuf, das männliche Geschlecht. Ohne dass es seinen reichen Kundinnen bewusst geworden wäre, zog er die Geheimnisse der männlichen Uniform in das frivole Reich der Seiden, Drucke und Farbkaskaden hinüber. Unter dem Einfluss von weiblichen Persönlichkeiten wie Paloma Picasso, Marguerite Duras, Marie-Hélène de Rothschild und Cathérine Deneuve schuf er eine Frau, die zugleich völlig feminin, verspielt, unberechenbar und respekteinflößend war.

In dieser Vorliebe kam Helmut Newton ihm entgegen und versetzte den Couturier 1975 mit einem Foto unter die Sterne. Es zeigt ein Model mit auf den Kopf geklebtem Kurzhaarschnitt, lässig geschlungener Schleifenbluse und schwarzem, auf den Leib geschnittenem Smoking, das nachdenklich rauchend, die Hand in der Hosentasche, auf dem Trottoir des Pariser Marais steht. Das Bild hat die weibliche Übernahme der Achtziger schon hinter sich gelassen. Es kündigt eine Sexualität an, die sich an Ambivalenzen erregt und die Geschlechter des neuen Jahrtausends aus ihren eingefahrenen Rollenmustern entlässt. So weit ist Yves Saint Laurent nie wieder vorgedrungen, doch er hat die Grenze zwischen Gefälligkeit und Skandal sein Leben lang umspielt. 1965 schenkte seine Mondrian-Kollektion den Frauen die Fusion von Naivität und strenger Abstraktion, 1968 lehrte er sie die verführerische Wildheit mit dem staubfarbenen Saharienne-Look seiner Afrikanischen Kollektion, 1976 gibt er mit seinen Ballet-Russes-Entwürfen den Startschuss für die Opulenz des nächsten Jahrzehnts.

Von nun an sind all seine Couture-Defilees Künstler-Hommagen: Delacroix, Vélasquez, Matisse und David Hockney inspirieren ihn zu Entwürfen, die zusehends theatralischer werden. Yves Saint Laurent hatte den Kontakt zu den Straßen verloren, sich in die künstlichen Paradiese seines Inneren zurückgezogen und jedes Mal, wenn seine Bulldogge starb, eine andere gekauft und sie Moujik genannt. Noch damit blieb er damit dem Geist der Mode treu, der er endlose Wiederholungen vorwarf. Sein Genie langweilte sich unsterblich, als er die Welt und sie ihn nicht mehr verstand. Mit bis zu vier Litern Pastis und sechs Zigarettenschachteln pro Tag soll er sich betäubt und mit seiner Morbidität sogar Mitterrand eingeschüchtert haben. Seine Begabung war der durchdringende Blick des unerbittlichen Kindes, das die Karikatur in allem Überlebten erkennt. Seine Assistenten verglichen sein Couturehaus mit einem Kloster, doch in Wahrheit war es eine surrealistische Gegenkirche zu allen Prätentionen der Bourgeoisie. Nach ihrem Verschwinden kehrte er die satirische Verve gegen sich selbst und huschte, bis er am Sonntag im Alter von einundsiebzig Jahren starb, als Pariser Wunderling mit bleichem Teint und zu großer Brille, immer angekündigt und selten erscheinend, durch die Annalen der Stadt, die ohne ihn nicht wüsste, wer sie wäre.