Feigenblätter kennen keinen Reißverschluß

Rezension
zuerst erschienen 20. März 2001 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. L34
Rock hoch zum Tigersprung: Ulrich Lehmann krempelt an der Manschette

Mode fasziniert, doch was soll sie bedeuten? Das Interesse an ihrem tieferen Sinn hat sich im letzten Jahrzehnt vor allem auf Geschlechterrollenspiele konzentriert. Die im angesehenen amerikanischen MIT-Verlag erschienene Studie des Kulturwissenschaftlers Ulrich Lehmann, „Tigersprung. Fashion and Modernity“, begibt sich mit einem Satz über den Feuerkreis der Gender-Diskussionen hinweg ins französische neunzehnte Jahrhundert. Dort durfte die Mode unter Louis Napoléon ihre ersten Triumphe feiern, gerade weil sie, wie Lehmann argumentiert, für das traditionsbewußte Second Empire keine Gefahr darstellte. Während die Revolutionen vor allem in den Kleiderstilen stattfanden, begannen Schriftsteller und Künstler wie Barbey d’Aurevilly, Baudelaire, Théophile Gautier, Mallarmé, Constantin Guys und Grandville sich intensiv mit den neuen Reizen des Straßenbilds auseinanderzusetzen. In diesem „trockensten, phantasielosesten Jahrhundert“ habe sich „die gesamte Traumenergie einer Gesellschaft mit verdoppelter Vehemenz in das undurchdringliche lautlose Nebelreich der Mode geflüchtet“, bemerkt Walter Benjamin, Lehmanns Cicerone in der Unterwelt des Pariser Chics.

Mit den Pariser Passagen wollte Benjamin nach dem Vorbild der Freudschen Traumanalyse eine kollektive Traumlandschaft freilegen, deren Chiffren der Philosoph nur zu entziffern hatte, um aus der Verzauberung des neunzehnten Jahrhunderts zu erwachen. Vom Autor des Passagenwerks stammt auch der Titel der Lehmannschen Studie. „Die Französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom“, heißt es in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. „Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene.“
Dieser politischen Theorie liegt eine Metaphysik der Geschichte zugrunde, die Benjamin in den homogenen Verlauf, gleichsam die willenlose Traumzeit auf der einen Seite und messianische Momente auf der anderen  auseinanderlegt, in denen das Subjekt dem Alpdruck des Fortschritts entkommt. Für Benjamin geht es nicht nur darum, den leeren Lauf der Zeit, sondern auch den Leerlauf des kausalen Denkens aufzusprengen. Hier erhält das erratische Objekt, sei es das Kunstwerk oder ein modisches Detail, seine Bedeutung. Das von ihm absorbierte, unerlöste Sinnpotential übt auf die ästhetische Betrachtung einen Erkenntnisschock aus, der sie aus ihrer historischen Verankerung befreit. André Breton sprach angesichts so banaler Dinge wie der Nähmaschine, des Schirms und des Zylinders von einer modernen Mythologie, und Lehmann kann zeigen, daß sich in der Literatur um eine ganze Reihe prosaischer Garderobenelemente ein heftiger Deutungs- und Mystifizierungskrieg erhob.
So regte die Nähe etwa des Fetischgegenstands Zylinder zum Fabrikschornstein Schriftsteller und bildende Künstler zu poetischen Karikaturen an, in denen der männliche Träger als dampfbetriebene Maschine erscheint. Auch um das Monokel, die Krinoline, die Falte und den Damenschuh rankten sich faszinierte Betrachtungen. Doch nirgends erhält die Mode die Dringlichkeit, die die römische Toga für die Sansculotten hatte. Den Nachweis ihrer politischen Energie bleibt Lehmann weitgehend schuldig. Dankbar liest man immerhin von Jeanne Paquins „Modèle Robespierre“: „ein verhaltenes schwarzes Kleid aus schwerer Seide oder Popeline mit einem breiten Gürtel, der Selbstbeherrschung und Gefaßtheit akzentuierte“. Es symbolisierte, wie Lehmann versichert, die Idee politischer Rigorosität, während der Gürtel „die Notwendigkeit der Kontrolle repräsentierte, weil das Streben nach moralischer Reinheit sich anderenfalls leicht in Unterdrückung und Terror verkehren konnte“.
Aber ist diese Robe, die sich mit der Einschnürung des Leibes politischer Repressionen erwehrt, schon der Tigersprung, der große Schritt ins Reich der Freiheit? Im Kontext eines Bataille-Zitats, das die Mode als Feigenblatt über der revolutionären Nacktheit der Gesellschaft bezeichnet, fragt sich der Autor selbst, ob die Mode nicht doch nur eine vergängliche Decke für soziale Nöte sei.
Auch ihre behauptete prophetische Kraft läßt sich den detaillierten hermeneutischen Einlassungen der Studie nicht abgewinnen. En passant schlägt Lehmann vor, Präfigurationen der Postmoderne in den Zitationstechniken Paul Poirets oder Yves Saint Laurents wahrzunehmen und die Dekonstruktion in Balenciagas „halbangepaßten“ Schnitten. Mit demselben Recht könnte man Coco Chanels kleines Schwarzes zur Mutter des Existentialismus machen und ihre Strickmodelle zu Vorboten der digitalen Revolution.
Überzeugender, aber nicht besonders originell, ist ein Beispiel aus der bildenden Kunst. Lehmann erwähnt Picassos „primitive“ Skulpturen, die ihren Anstoß dem Kolonialismus verdanken, sich durch ihre Ausdruckskraft aber gegen das „sinnlich ausgetrocknete“ Europa wenden. Tatsächlich läuft auch die Virulenz der Mode auf ihre kompensative Energie hinaus. Ausführlich widmet sich das Buch der Rolle, die Mode in der Auseinandersetzung um Antike und Moderne spielt. Ihr adventistisches Wesen versorgt das zerrissene Subjekt der Neuzeit immer aufs neue mit der Illusion seiner fehlenden Ergänzung. In dieser Hinsicht besitzt der schnellebige Stilwechsel der Garderobe tatsächlich ein messianisches Potential, das allerdings umgehend wieder zerfällt.
Bemerkenswert ist Lehmanns Hinweis, das von der Mode geweckte Begehren übe in der partikularen Gesellschaft eine verbindende Funktion aus. Doch die so erzeugte Anteilnahme bleibt schemenhaft und narzißtisch. Der Autor liest Baudelaires Gedicht „An eine Passantin“ als Paradigma des Chocks, den das Neue hervorruft. Die vorübergehende Fremde wird für den Dichter zum Versprechen der Unsterblichkeit. Gerade weil sie sich nicht festhalten läßt, ist sie wie die Mode ein Funke, der in das melancholische Subjekt fällt, um den im pragmatischen Alltag nutzlos gewordenen inneren Reichtum an Bildungssplittern und uneingelösten Träumen zu reanimieren.
So besteht auch die von Mallarmé verfaßte Modezeitschrift „La Dernière Mode“ nicht so sehr aus Garderobengeflüster als vielmehr aus lyrischen Phantasmagorien. Mallarmé beschreibt Roben, die es nie gegeben hat und die kein Schneider ausführen könnte, denn sie sind ganz dem klingenden Wort verpflichtet und werfen nur als Rede reizvolle Falten. Mallarmé versteckt sich in seinem Journal hinter weiblichen Autorennamen, und damit führt der Tigersprung auf die heutige Gender-Diskussion zurück. Im femininen „nom de plume“ nahm der Dichter Urlaub von der seinem Geschlecht verordneten Nüchternheit. Er konnte sich als das geben, was das moderne Subjekt beiderlei Geschlechts längst geworden war: ein passives Objekt des Konsums.
Besonders ergiebig ist die vorliegende Studie in Hinblick auf die Männermode. Seit der Psychologe J. C. Flügel 1930 das Schlagwort von der „großen maskulinen Entsagung“ prägte, hat sich das Modestudium auf die weibliche Kostümierung konzentriert. Ulrich Lehmann hingegen zeigt, daß die Schmucklust das männliche Geschlecht nie ganz verlassen hat, wenn seine Protagonisten auch subtiler vorgehen mußten und sich ihr modischer Sinn eher in der Bindung der Krawatte, in der Linie der Überrockschöße oder im rosa Glanz der Handschuhe zeigte. Während die Damenkleidung in kurzer Zeit stilistische Gewaltmärsche zurücklegte und in geschlossener Formation erstaunliche Kehrtwendungen vollführte, verharrte die Herrenmode scheinbar reglos und bot doch der individuellen Variation eine weitaus verläßlichere Grundlage. So wie das im rechten Auge zu tragende Lorgnon die Dadaisten signalisierte, war der bunte Schal das zusätzliche Erkennungsmerkmal ihres Anführers Tristan Tzara. Baudelaire bevorzugte ein makellos weißes, aber ungestärktes Oberhemd, Barbey d’Aurevilly hingegen stärkte seine Manschetten zu einer ledrigen Konsistenz und wählte dazu bunt karierte oder mit Zebrastreifen bedruckte, hautenge Hosen. Der Mode-Philosoph Georg Simmel ließ sich von englischen Maßschneidern einkleiden und hatte im prüden Preußen, wie Werner Sombart berichtet, seiner „Distinguiertheit“ wegen Schwierigkeiten, eine Professur zu finden. Schon der gegenüber der Meinung der Leute so immune Immanuel Kant ließ wissen, daß es immer noch besser sei, als Modenarr denn als aus der Mode gekommener Narr durchzugehen.
Lehmanns Hauptinteresse gilt der „strukturellen Ironie“, die der Anzugträger als mutmaßlicher Agent des Fortschritts seiner Berufsuniform entgegenbringt und damit dem subversiven Glimmen auf dem Revers des Bürgertums. Die umfangreiche Studie verliert sich gern in ihren Gegenständen, und es bedarf detektivischer Arbeit, um ihr Thesen und theoretische Neuansätze abzugewinnen. Doch die einzelnen Interpretationen und die Fülle an Material machen Lehmanns „Tigersprung“ zu einer fruchtbaren Lektüre, die nicht nur der Geistesgeschichte ein neues Schnittmuster gibt, sondern auch dazu nötigt, das versäumte Habit des Alltags geistreich zu zerlegen.

Ulrich Lehmann: „Tigersprung“. Fashion in Modernity. MIT Press, Cambridge, Massachusetts 2000. 532 S., Abb., geb., 39,95 Dollar.