»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

DAVID GUETTA ON DRUGS AT TOMORROWLAND

Lange Zeit war ich der Gefangene des Dogen von Moabit, aber jetzt endlich rollt der Zug hinaus in die Welt. Am Bahnhof warten die Stare auf Bestellungen. Sie singen um Burger wie Mister Bojangles.

Der Star, Vogel des Jahres 2018 und somit ein Punktpunktpunkt unter den Vögeln: Ich liebe seinen Gesang. In meinen Charts auf Platz zwei nach dem des Amselhahns, noch vor dem der Nachtigall. Neulich, es wird ja jetzt kühler und auch früher dunkel am Abend, sah ich sie (die Stare) bei ihren Herbstmanövern; noch erst in kleinen Geschwadern. Doch schon als pulsierende Wolke am Himmel zwischen den Bäumen. Die sind noch voller Laub. Alles noch.

Katja Eichinger hat ein schönes Album aufgenommen mit Rem Koolhas. Manchmal schadet Geld halt doch nicht. Mir übrigens keinesfalls. Als ich nachts mal anfallshaft sehr viele Filme von Rainer Werner Fassbinder hintereinander angeschaut hatte, dachte ich mir: Du findest die Filme von Rainer Werner Fassbinder ja doch gar nicht total schlecht, wie Du immer und andauernd behauptet hast. Du hast sie halt bloß zur falschen Zeit angeschaut. Und jetzt kommen sie Dir recht. Wenn Du damals schon gewußt hättest, dass man Textflächen auch auf Statuen laden kann, wäre Dir Tristesse Royale nicht missraten als Theaterstück.

Angeblich gibt es vielerlei Gründe, aus denen heraus ich mich privilegiert fühlen dürfte. Ich kenne einen: ich reise mit dem Prototypen einer Seife im Gepäck.

22. AUGUST 2018

Eine Feder schwebt durch das windstille Blau zwischen Baum und Fenster und ich weiß nicht, ob da jemand sein Kissen ausgeschüttelt hat oder ob die von einer Krähe stammt, die sich ihr Gefieder putzt.

ANDROID PIE

Über Nacht wurde ich reich beschenkt. Das Update der Systemsoftware meines Telephons enthält nun endelijk, endelijk die Erweiterung der Emoji-Palette. Und eben dort, im Sektor der Glocke erwartete es mich: BAR OF SOAP, das Seifenemoji. Es ist einfach nur köstlich geraten. Mich spricht vor allem sein delikater Farbton an, ein Rosa mit dem genau richtig dosierten Anteil an Gelb. BAR OF SOAP gefällt mir sogar in seiner zugrundeliegenden Form, dem Maschinenzeichen U+1F9FC ausgesprochen gut. Leider kann ich meine Freude über die neue Ausdrucksform nur mündlich oder schriftlich mitteilen, denn ich kenne praktisch niemanden, der nicht ein iPhone benutzt. Bis dort die Erweiterung der Palette zur Verfügung gestellt wird, vergehen noch einige Wochen, bis dann im Septemberritual von Cupertino die Novitäten für Apple-User präsentiert werden (und rituell ein Update des Betriebssystems.)

Bis dahin bleiben mir die neuen Ausdrucksformen—es gibt auch Bakterien, eine Petrischale mit Pipette, einen Magneten—einzig zur Ougenweyde in der splendid isolation mit meinem verpönten Gerät. Schade, aber toll, wie Rocko Schamoni zu sagen pflegte. Ich kann mich noch an eine Zeit in den neunziger Jahren erinnern, als die vereinzelten Besitzer von Apple-Computern sich in einem Star-Wars-Sinne als Widerstandskämpfer gegen ein übermächtiges System begriffen. Einer hatte auf seinem Laptop einen rebellischen Bildschirmschoner installiert. Der produzierte den Slogan In a world without fences who needs Windows and Gates.  Aber wie das halt so läuft bei Systemkämpfen: Irgendwann ist man bei der falschen Partei.

One more thing: Im Sektor der Flaggen ist es zwar etwas unübersichtlich, aber außer der Piratenflagge ist anscheinend nichts neues hinzugefügt worden. Eine aber fehlt immer noch (hüben wie drüben), dabei gibt es sie schon so lange, wie ich auf der Welt bin: Die Flagge der Roma (o styago le romengo), ein braunes Wagenrad auf grasgrünem und azurblauem Grunde. 

DISRUPTED PATTERN MATERIAL

In der Tagesschau wurden Ausschnitte aus einer Rede von Donald Trump gezeigt. Er will den Militäretat aufstocken um 720 Milliarden Dollar, um »the biggest and deadliest« Streitkräfte auf dem Planeten zu besitzen. Die Kameras fuhren über andächtig lauschende Soldatengesichter sämtlicher couleur. Sie erhalten zwei Komma sechs Prozent mehr Sold. Bei solchen Aufführungen gibt es keine Sperrfrist für die Veröffentlichung. Auch wenn über ungelegte Eier geredet wird. Und es vieles noch gar nicht gibt. So wollen, verkündet der Präsident, die Streitkräfte der Vereinigten Staaten eine Armee im Weltraum aufbauen. Das erinnert mich an meine Kindheit, da gab es diese Gutenachtgeschichte schon einmal, unter dem Präsidenten Ronald Reagan. Der Spiegel hatte ein Cover, da war der blaue Erdball zu sehen und darüber schwebte das Space Shuttle. Die Ladeklappen hatten sich geöffnet und eine Lafette feuerte einen mit dem Lineal gezogenen Laserstrahl auf eine russische Rakete ab. Der Illustrator hatte sich wohl direkt bei James Bond und Moonraker Ideen für seine Zeichnung geholt. Denn das bewaffnete Space Shuttle war wie das real esistierende, zivile Raumschiff: weiß. Eine Kampfversion müßte aber matt in schwarz lackiert werden. Das ist die Camouflage zwischen den Sternen. Im Weltraum taucht man als dunkler Monolith aus finsteren Weiten herauf. Schwarz mit weißen Pünktchen vielleicht sogar. Wie es bei Vicor Hugo heißt: L’hydre-Univers tordant son corps écaillé d’astres.

DON'T DREAM IT'S OVER

Es ist etwas unangenehm geworden, sich Kinofilme anzusehen, die noch längst nicht in den Kinos angelaufen sind. Das Ritual sogenannter Pressevorführungen wartet mittlerweile mit Sicherheitsvorkehrungen in Form von Einverständniserklärungen auf, um die nackte Erscheinung des Filmes mit der Furcht vor dem Hochverrat zu paaren. Als ich gestern am Nachmittag den neuen Streifen von Florian Henkel von Donnersmarck vorgeführt bekam, wurde ich zweimal, erstens per EMail im Vorhinein, dann noch einmal mündlich vor Ort darauf hingewiesen, dass während der Vorführung Nachtsichtgeräte eingesetzt würden, um eventuell insgeheim mit ihren Telefonen mitfilmende oder snappende Zuschauer dingfest machen zu können. Die Taktik hat freilich etwas ungewollt Komisches in Anbetracht der Tatsache, dass der vorletzte Film des Regisseurs bekanntlich Das Leben der Anderen hieß.

Die sogenannte Sperrfrist des neuen läuft noch bis zum Ende der Pressekonferenz nach seiner Premiere in Venedig. Bis dahin sind selbst mir nicht, es ist niemandem erlaubt, etwas dazu zu sagen, was uns dort gezeigt worden war.

Auf einer übergeordneten Ebene aber denke ich seitdem einmal wieder darüber nach, warum eigens für einen Film angefertigte Kunstwerke, auch Performances und Installationen, eben doch nicht als Kunst wirken, sondern wie Dekoration.

Als ich nach drei Stunden wieder ans Licht durfte, fing es an zu tröpfeln durch das geschlitzte Sonnensegel über dem Sony Center am Potsdamer Platz. Kinder hatten sich entkleidet und planschten dort in dem Bassin der Fontäne.

Das Leben war schön

DIE SEGNUNGEN DER NUDEL

Daniel Martinez ist zurück. Wir begegneten uns zufällig. Und zufällig dort, vor dem kleinen Café, wo wir uns beim letzten Mal verabschiedet hatten, vor zwei Jahren, vor einem erst: ich weiß es nicht mehr. Er ist viel kleiner, als ich ihn Erinnerung behalten hatte. Viel zarter auch von seinem Wuchs. Er hat sich die Haare zu Stoppeln rasiert und hellblond eingefärbt. Seit seiner Abreise aus Berlin hat er es in Kalifornien nicht lange ausgehalten. Sein Land hat sich in etwa so verändert, wie er es mir damals, beim Morgenkaffee prophezeit hatte. Da lag die Zeitung vor uns auf dem Tisch mit der Nachricht, dass Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt ward.

Doch auch hier hatte sich ja einiges verändert während seiner Abwesenheit. Der Betreiber des Hotels hatte, ermüdet vom andauernden Protest der Antifa vor seinem Restaurant schließlich aufgegeben und seitdem gibt es dort ein politisch hasenreines Restaurant, die Trattoria Del Lago. Komplett mit weißen Gipsstatuen und einem kleinen Außenlautsprecher, der die klassischen Weisen auf den Vorplatz überträgt. Tja, und wenn the moon hits your eye like a big pizza pie, kann das halt bloß Liebe sein.

Bevor Daniel hierher zurück kehren konnte, hat er eine Zeit in Italien verbracht, wo die Rockefeller Foundation ein kleines Schloss auf einem Hügel besitzt, für das sie Arbeitsstipendien an amerikanische Künstler vergibt. Im Dorf leben außerdem noch dreißig Ureinwohner. Es ist dort ungefähr so wie hier, findet er, allerdings halt ohne die Nähe zu einer Stadt.

Rings um uns herum mühten die Leute sich ab, ihre Burger und Tarteletts zu verspeisen, ohne dabei von den zahlreichestens umherschwärmenden Wespen belästigt zu werden. Da gibt es mehrere selbst erfundene Strategien, die sämtlich zur Fruchtlosigkeit verdammt scheinen: die einen schlagen um sich, die anderen beugen sich zum Biss in die Kost unter die Tischplatte, einige rennen mit dem Burger in der Hand vor den Insekten davon und suchen ihr Heil im Genuss auf der Flucht. Ich erzählte Daniel von meinen Forschungen zum Ortolan-Ritual; und dass es für die Wespenphobiker auch eine gute Möglichkeit wäre, sich zum Essen im Freien gänzlich unter eine tischtuchdeckengroße Serviette zu begeben. Und wir lachten, als wäre es erst gestern gewesen.

Ein paar Wochen lang kann er nun hier verschnaufen auf seiner Flucht vor der Heimkehr ins Reich. Er überlegt aber wohl, sich hier niederzulassen. Deutschland sei ideal als Exil.

RALF DAHRENDORF BEI DER VORSTELLUNG SEINES PORTRAITS, 1984

Beinahe zufällig – während Recherchen im Internet weiß ich ja nie, wohin die Reise führen wird, weshalb ich auf die mir eingebaute Wünschelrute vertrauen muss – stieß ich durch einen Hinweis auf einen Text, mittlerweile obskur geworden, weil im Internet selbst nicht verfügbar, der mir, aufgrund der natürlich dort verfügbaren Kommentare, vielversprechend erschienen war: David Bowie schreibt über seine Begegnung mit Balthus. Angeblich, so die Kommentare, war der daraus hervorgegangene Text, geschrieben von Bowie selbst, zwanzig Normseiten lang.

Das hat jetzt mehr als zwanzig Stunden gedauert, bis ich diesem Text habhaft werden durfte. Zahlreiche Telefonate, das erfreulichste dabei mit René Kemp, ganz einfach, weil wir dann sekundenschnell über die Malerei an sich und den darum sich molluskenhaft zusammenziehenden Markt, der wiederum und sowieso, genau, sprechen konnten.

Am Nachmittage dann erhielt ich einen blassblauen Scan des Artikels, der ja einst, im Jahre 1994 erschienen war. Zur Lektüre desselben zog ich mich in das Baumkuchencafé zurück, das eigentlich ganz ungemütlich ist, aber was ist schon gemütlich in Moabit?

Besonders ungemütlich wird speziell mir dort der Aufenthalt gemacht, weil der einzige Promi unter den Besuchern ausgerechnet der jüdische Publizist Hendryk »M.« Broder zu sein scheint, mit dessen gerahmten Kolumnen der Vorraum zu den Waschräumen behängt wurde. Broder hat bekanntlich mich in den späten Neunzigerjahren mit einer beispiellosen Schmutzkampagne zu überziehen versucht, auf deren traurigem Tiefpunkt er im Spiegel behaupten durfte, ich sei ein Nazi. Weswegen meine arme Mutter sich lange kaum mehr trauen konnte, auf die Straße zu gehen. Denn zu der Zeit hatte der Spiegel noch Impact. Später dann, sehr viel später, begegneten wir uns persönlich. Mittlerweise war ich erwachsen geworden. Und er (Hendryk M. Broder) hatte sich beim Verlag Axel Springer fest anstellen lassen. Man nennt das goldene Hochhaus in der ehemals Koch-, heute Rudi-Dutschke-Straße auch Journalistenfriedhof. Eines Tages, es war um elf Uhr, traf ich ihn an der Espressobar. Er befummelte seinen Laptop. Ich stand vor ihm auf und sagte: »Herr Broder: Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch für mich.« Er tat ganz verwirrt, machte auf Künstler.

Das Gespräch von Bowie und Balthus ist exzellent!

Auf dem Weg ins Café, den vierfarbigen Ausdruck in der Umhängetasche, war es mir, als hätte ich Gold.

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