»2020 – Sing Blue Silver«
Blue Silver«
мартеница
Tröstlich, wenn sich bei stetig fallender Temperatur das Fernweh nach frühlingshafteren Gefilden um die Ecke stillen lässt. Im bulgarischen Supermarkt werden jetzt gleich in dem ansonsten leer geräumten Bereich hinter der Eingangstüre die hübschen Marteniza-Bändsel angeboten. Hierbei handelt es sich um miteinander verzwirnte Wollfäden in den Farben Rot und Weiß, an deren Enden sich winzige, aus dem selben Material geflochtene Püppchen befinden. Ab dem Tag der Martenizi sollen diese um die Handgelenke getragen werden, um die Ankunft des Frühlings herbeizubitten. Dann nämlich, wenn der erste Storch sich zeigt, die ersten Blüten an den Obstbäumen hervorplatzen, wurde, so der seit über 1300 Jahren währende Volksglaube der Bulgaren, die Baba Marta gnädig gestimmt. Diese mythische Baba, eine Großmutter à la Frau Holle im Grunde, wird als unfreundliche, launische Frau beschrieben, die Einfluss auf die Wetterlage besitzt. Unter Bulgaren zählt die Baba zu den Geistern, ich stelle sie mir freilich vor wie die Mume, gekreuzt mit Gundel Gaukeley.
Seltsam, dann aber auch wieder nicht (seltsam), dass in den exotischen Supermärkten Deutschlands noch immer lediglich die importierten Standardwaren verkauft werden, und nirgendwo, noch nicht einmal bei den Asiaten, der überall sonst in Deutschland florierende Trend zum Handwerklichen und Althergebrachten Einzug gehalten hat. Auf der landwirtschaftlichen Messe für Genuss und Lebensart beispielsweise, die wir gestern auf dem Frankfurter Messegelände besuchten, waren auf dem Vorplatz der Hallen natürlich etliche Foodtrucks aufgestellt, deren hinter den hohen Tresen in Hip-Hop-Kluft gekleidete Verkäufer ihre handwerklich hergestellte Burritos, Burger und auch Spareribs aus dem Smoker-Ofen abzugeben hatten. Allerdings gab es auch Lebendware zu betrachten. So wurde in einem von unten her beheizten Stallgefährt eine kleine Herde süßer Ferkel ausgestellt, die dort um einen Futtermehldispenser geschart mit friedlichem Gesichtsausdruck schlief. Die Tierkinder waren, obschon recht riesig, gerade mal drei Monate alt, wie die Craft-Züchterin zur Auskunft gab. Eine zeitgenössische Wiedergängerin der Madame Bovary äußerte, dabei auf die Hinterteile der in makellosen Marzipannuancen dargelegten Schweinchen deutend, ihren für die Besucher einer landwirtschaftlichen Ausstellung obligatorischen Zweifel an der artgerechten Aufzucht dieser Burger in spe: »Warum sind denn die Schwänzchen derart kurz!«
»Berechtigte Frage« sagte die Züchtersfrau. »Die wurden nach der Geburt gekürzt.«
»Aha!« rief Madame Bovary 2.0 und schaute hart, aber fair in die Runde, die außer uns aus lauter Kindern bestand, die teils versonnen an ihren Schnullern saugten wie Maggie Simpson, bloß halt nicht in gelb.
Die Versicherungen der Züchterin, dass sich in den Endstücken der Schweineschwänzchen keinerlei Schmerzrezeptoren befinden, diese also quasi wie Wurstzipfel avant la lettre zu behandeln sind – und: behandelt werden dürfen, brachten nichts zum Einverständnis. Die Bovary hatte ihren Punkt gemacht.
Drinnen dann, in den Hallen, ging es weniger ländlich zu als erhofft. Vor allem viel Tinnef, und wenn artisanale Lebensmittel, dann Senf, Würste oder Honig. Und Schnaps. Wie im Mittelalter! Erfreulich allerdings die Initiative des Lippischen Kulturmarketings, der einzigen Spezialität der seit unserem Bielefeld-Aufenthalts auch uns sehr am Herzen liegenden Kulturlandschaft des äußeren Ostwestfalens, dem sogenannten Pickert, zu größerer Beliebtheit zu verhelfen. Ein Greis verkaufte die zur Zubereitung des nahrhaften Fladens nötige Mehlmischung in handlichen Säcken zum günstigen Preis. Eine Pickertkönigin, Lisa die Erste, die leider nicht angereist war, grüsste von einem Plakate her mit dem für Ostwestfälinnen typischen Blütenkranz auf dem flachsblonden Schopf; einen Stapel Pickertfladen, wie amerikanische Pfannkuchen auf dem Präsentierteller ihrer Hand.
Frankfurt, schmeiß den Gasherd an
Die ganze Stadt ein Skigebiet. Lupenreines Sonnenlicht sticht aus dem blauen Himmel. Im Hinterhof piepsen die Vögel, die Hauptstraße rauscht. Überlebenslust.
Parallel dazu gestern Abend in der Kunsthalle Schirn: Wir erklommen bei eisiger Temperatur die hohe Außentreppe und begegneten dann dort auf dem schmalen Grat Carl Jakob und David, sodass sich die Einlassprozedur angenehm und kurz gestaltete (es gab einen aus langen Kronzacken geformten Stempel auf die Hand). Es war der zweite Donnerstag seit der Eröffnung der Jean-Michel-Basquiat-Retrospektive. Immer an den Donnerstagabenden wird dort der Crown Club geöffnet. Die Idee ist, dass die Besucher der Ausstellung durch eine Seitentür in den Club gehen können, um von dort aus, bei Bedarf, auch wieder in die Ausstellung zurückzudiffundieren. Die Ausstellung ist natürlich extrem schön. Der Club selbst ist einfach bloß schwarz: Decke, Wände, Boden und die Anlage freilich auch. Very instagramable, wenn dann der Chardonnay auf den Carbonlack tropft. Bei der Schirn hat man das komplett verstanden und vom social media impact her ist die Basquiat-Retrospektive inklusive des Crown Clubs featuring Dandy Diary ein Triumph. Ein Ausstellungsbesuch, aber halt auch ein Aufenthalt auf der Tanzfläche ist ja zunächst ein Anlass, um sich und die anderen vor Kunstwerken oder inmitten von Tanzenden zu fotografieren oder zu filmen, um diese Fotos und Filme dann wiederum den Umstehenden auf dem Display vorzuführen. Man erlebt etwas, um davon erzählen zu können. Ein Diskothekenbesuch oder der einer Ausstellung als eine Art Diaabend – bloß live.
Als einziges Möbelstück ist im Crown Club ein großer Papageienkäfig aufgestellt. Von seinem Inneren aus ließ sich das Geschehen ideal beobachten. Es trat dann Joey Bargeld auf. Er trug ein weißes Sweatshirt mit dem Aufdruck Persil, darunter ein T-Shirt mit den Logos von Rewe, Penny, Supreme, Marvel und Obey. Schon bei seinem Hit Drogen kam es zu hysterischen Spitzen. Auch gut: seine Interpretation von Was hat Dich bloß so ruiniert. Totaler Abriss. Museum zersägt.
Danach durften wir leider nicht nach Hause, denn parallel dazu sollte mitten in unserem Viertel die alte Fliegerbombe entschärft werden, auf die man genau gegenüber von jenem Wasserhäuschen gestoßen war, vor dem ich im letzten Sommer so einige schöne Stunden mit Alexander und Herbert und den anderen verbracht hatte. Die Operation war für 23 Uhr angesetzt und das gesamte Viertel wurde deswegen evakuiert. So fanden wir uns mit den übrigen Anwohnern ein im Auffanglager, das in einer leerstehenden Messehalle eingerichtet ward. Dort standen hunderte Tische in langen Reihen, im hinteren Teil des Raumes standen Feldbetten bereit, für all diejenigen, die schlafen wollten. Es gab drei verschiedene Arten Würstchen: Rind, Wiener und Bock. Alles makellos organisiert und trotzdem blieb es eine sehr unangenehme Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn wir von nun an für eine sehr lange Zeit in diesem Auffanglager bleiben müssten. Dort mit all unseren Nachbarn, die wir ja mehrheitlich gar nicht kannten, zusammenleben müssten, weil es anders gar nicht mehr ging.
Gespenstisch ging es vor den Türen auf dem von Flutlichern beleuchteten Vorplatz zu, wo die Feuerwehrleute und Helfer in den violetten Uniformen der seelischen Notfallhilfe herumstanden und das Ende der Aktion erwarteten. Da hallte vom Schauplatz der Entschärfungsaktion die Lautsprecherstimme des Einsatzleiters herüber. Ansonsten, es war schon beinahe Mitternacht, blieb es draußen wie drinnen beunruhigend still.
Are »Friends« Electric?
Besinnlicher Abend, der damit seinen Anfang nehmen sollte, dass ich den Novizen entließ. Dies auf seinen eigenen Wunsch hin, da er, aus meiner Sicht nun leider vor der Zeit, seine Ausbildung für abgeschlossen hält. Wir waren auf dem Weg ins KaDeWe, dort waren wir beide lange nicht gewesen, doch gab es dort gestern die Präsentation eines Schuhs von Jimmie Choo, den Virgil Abloh umgestaltet hatte, und den, so meinte zumindest Michie Gümbel, sollten wir uns unbedingt anschauen kommen. Am Brunnen auf dem Breitscheidplatz, den, wie jedermann weiß, der Bildhauer gestaltet hatte, der auch die Hand mit Uhr zu verantworten hat, fühlte sich der Novize an einen Brunnen erinnert, den es einst, in seiner Kinderzeit noch auf der Zeil in Frankfurt, gegeben hatte, der aber später eilig abmontiert worden war. Nicht so hier auf dem Breitscheidplatz, hier blieb rings um die kaputt gebombte Kirche samt ihrem überschätzten Anbau von Egon Eiermann und dem durch die eine Szene aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zu Ehren gekommenen Europacenter einfach alles stehen, auf dem Flachdach des Letzten dreht sich, durch den verstorbenen Daniel Josefsohn festgehalten, ein Mercedes-Stern wie auf dem Turm des Stuttgarter Hauptbahnhofs - bloß dass der halt fraglos sehr viel schöner ist. Da er mich darum lieb gebeten hatte, gab ich dem Novizen noch ein Gleichnis mit. Es stammte, wie beinahe alle meine Gleichnisse, aus meinem Leben. Einst war ich in der heiligen Stadt am Mekong, Luang Prabang, wo es sehr viele Tempel gibt. Der schönste dort steht auf einem spitzen Hügel, an dessen Fuße einige Kinder im Schatten herumlungern. Sie bieten kleine Käfige an, die rund wie Bälle sind und aus Bambusspänen geflochten. Darin sitzt jeweils ein kleiner Vogel, von welcher Art weiß ich nicht, irgendetwas dort Heimisches. Man kauft dann also vor dem Aufstieg zu dem Tempel einem dieser Kinder einen Gitterball ab und trägt den Vogel darin bis hinauf zum Tempel, um das Tier dann, so will es dieser Brauch, im Innenhofe freizulassen. Der Vogel fliegt in einem weiten Bogen über die sich bis zum waldigen Horizont erstreckende Stadt aus lauter niedrigen Gebäuden von denen hier und da die dünnen Rauchsäulen aus Holzkohlenfeuern aufsteigen. In Wahrheit aber fliegt der Vogel nicht davon, sondern umkreist den Hügel bis zu jenem Punkte, wo ihn das Auge seines Gönners nicht mehr schaut. Um sich dann unten bei den Kindern im Schatten niederzulassen, die ihn alsbald wieder einfangen, um ihn erneut in einen Käfig einzuzwängen. Der Sinn des Rituals besteht im Freilassen des Vogels durch den Mensch, nicht in der Befreiung des Vogels. Es verbessert das Karma. Zumindest glauben das die Buddhisten von Laos. Und nicht bloß dort. Beim Goldenen Tempel von Bangkok hatte ich ähnliches gesehen, dort aber mit Fischen.
Der Schuh, den man uns in einer für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Kammer zeigte - die Angestellten trugen weiße Uniformen, die von Virgil Abloh in der für ihn typischen Schrifttype bedruckt worden waren - stand auf einem weiß gestrichenen Sockel wie ein archäologisches Exponat. Er war glänzend schwarz, aber mit einem transparenten Schrumpfschlauch aus Gummifolie überzogen. Zu trinken gab es eine grüne Limonade mit Basilikumgeschmack.
Den Ingenieuren der Seele ist nichts zu leicht
Am Sonntag erschien auf einem kleinen Platz im Feuilleton die Geschichte vom Tod des letzten Karolinasittichs im Zoo von Cincinatti. Cord Riechelmann erzählt vom Vogel namens Inca, dem letzten seiner Art, der an einem Donnerstag, oder aber an dem darauffolgenden Mittwoch, im Februar des Jahres 1918 für tot erklärt worden war. Bisschen wie im Anfangssatz des Fremden also von Albert Camus, die Faktenlage. Cord Riechelmann schreibt: »Die im Zoo mit ihren letzten Individuen ausgelöschten Arten machten es möglich, sich überhaupt vorzustellen, was Aussterben heißt und wie es vor sich geht. Ein Vorgang, der jetzt ganz profan beschrieben werden konnte: Ein letztes Tier seiner Art stirbt, und mit dem toten Körper ist die Form auf immer verschwunden und kehrt nie wieder. […] Damit war eine der bis heute schwierigsten Konsequenzen der Darwinschen Evolutionstheorie anschaulich geworden, nämlich dass der Prozess der Evolution irreversibel ist.«
Die Wiederbelebung ausgestorbener Figuren wie den Berliner Obstweibern, von denen E.T.A. Hoffmann seine Vettern schwärmen lässt, gelingt mir selbst in der Schnellen Quelle nicht mehr gut. Dort ist das dargestellte Leben als Berliner roh und ungehobelt, aber halt nicht mehr so wie einst beschrieben, als »mit dem Berliner Volk eine merkwürdige Veränderung vorgegangen ist. Mit einem Wort: das Volk hat an äusserer Sittlichkeit gewonnen; und wenn Du dich einmal an einem schönen Sommertage gleich nachmittags nach den Zelten bemühst und die Gesellschaften beobachtest, welche sich nach Moabit einschiffen lassen, so wirst Du selbst unter gemeinen Mägden und Tagelöhnern ein Streben nach einer gewissen Courtoisie bemerken, das ganz ergötzlich ist.«
Den Text über den Karolinasittich, der mit einer hübschen Lithografie von einem Pärchen dieser ausgestorbenen Art illustriert war, schneide ich aus dem Papier der Zeitung mit einer Schere. Ich habe mittlerweile eine ziemliche Sammlung von Scheren, alle Neuzugänge waren Geschenke meiner Mutter aus den Nachlässen. Jede Großmutter hinterließ mir mindestens eine Schere. Ich gebrauche sie viel, ich schneide viel aus. Vielleicht sollte ich mal an die Zeit schreiben. Was mein Leben lebenswert macht: Ausschneiden ausgestorbener Arten mit einer Schere meiner toten Großmutter. Oder halt selbst was verfassen für die Zeit, Abteilung Z, einen Essay mit dem Arbeitstitel Lob der Schere. Wer ausschneidet, hat mehr vom Lesen. Wie ich zuletzt den Aufsatz von Lorenz Jäger über das Jahr 1968 in Deutschland, als hier eine Große Koalition regierte, wie er im ersten Satz schreibt: »Von Technikern und Denkern des Politischen«. Schnipp schnapp.
Die großen weißen Vögel
Vom Seifenkauf heimkommend, begegnete ich im kleinen Park bei den Schiffsanlegestellen einem Blässhuhn, das, so hatte ich die noch nie gesehen, mit einigen seiner Artgenossen an Land herumstand. Da blieb ich stehen, setzte meine Tüte ab, um ein Foto aufzunehmen. Das Blässhuhn watschelte auf mich zu, als ob es um mein Vorhaben wüsste, hielt dann in einigem Abstand zu mir inne, verharrte in einer Pose, so als ob es genau wüsste, dass so seine grotesk überdimensionierten Füße am besten zur Geltung kommen. Denn in der Tat hatte ich es auf ein Bild, das diese Füße zeigen würde, abgesehen. Als ich die Aufnahme auf dem Display betrachtete, legte das Huhn seinen Kopf schief – vielleicht war es ja auch ein Hahn, man kann die vom Gefieder und den Farben und den Körpergrößen identisch aussehenden Geschlechter lediglich am Klang ihrer pickenden Rufe unterscheiden – so als ob es nun mein Einverständnis suchte; mehr noch, so als kennte es die Aufnahme, die ich von ihm und seinen Füßen gemacht. Als ich die Tüte aufnahm, kehrte es um und ging fort, um sich mit den anderen wieder wie zuvor mit Tierhaftem zu beschäftigen.
Ich war versucht gewesen mit ihm zu sprechen. Aber nicht, wie das die Besitzer von Haustieren tun, wobei es ihnen um eine Kommunikation des tierhaften Verhaltens nach anderen Menschen geht, sondern wirklich so, als könnte das Blässhuhn mich verstehen. Im Grunde wollte ich mich bei ihm entschuldigen, dass ich seine Füße lustig finde. Je länger man sich mit Vögeln beschäftigt, desto dringlicher schreibt man ihnen menschliche Eigenschaften zu. Man sucht sie einzugemeinden, um sie zu verstehen; um eine Erklärung zu haben für die seltsam einfühlsame Beziehung, die zwischen Mensch und Vogel entstanden ist. Das Rotkehlchen beispielsweise, das an den Nachmittagen auf meinen Balkon vorbeikommt, um dort vom Boden Reste aufzulesen, die den anderen Vögeln von den Futterplätzen heruntergefallen waren, springt ruhelos herum und schaut mich dabei ständig an. Nicht unbedingt nervös, das sind die flatterhaften Meisen, auf mich wirkt es scheu. Als fragte es mit jedem Blick aus seinem schwarzen Auge, ob es darf, was tut. Ob ich gestatte. Und auch wenn es von seiner Form her kaum anders auf mich gebaut wirkt als die Meisen oder Spatzen, so ist es wohl nicht in der Lage, wie diese anderen Arten, die hängende Futtersäule anzufliegen, um dort auf der Stange Platz zu nehmen, um sich mit den Körnern direkt zu bedienen. Am Boden ist sein Platz, ein Reh der Lüfte. Er scheint ihm zugewiesen.
Des Vetters Eckfenster
Am Abend vor der Nacht an deren Ende die Freilassung Deniz Yücels aus türkischer Haft verkündet wurde, stand ich am Tresen einer typischen Berliner Kneipe, der Schnellen Quelle in Moabit, die sich, wie jedermann weiß, genau an der Kreuzung zweier viel befahrenen Straßen befindet. Jede für sich genommen eine nicht nur sogenannte Verkehrsader, wobei die eine von beiden, die Straße mit dem Straßennamen »Alt Moabit« sogar für sich genommen eine Zeichenhaftigkeit für unsere Republik beanspruchen dürfte, da sie vom Reichstag am neuen Hauptbahnhof vorbei entlang der Justizvollzugsanstalt bis beinahe hinaus zum Flughafen führt, um zwischendrin – und wie es in ihrer Natur halt eingeschrieben steht – auch an der Kirche des Heiligen Johannes nicht Halt zu machen, in deren wunderschönem Innenhof sich noch der letzte Maulbeerenbaum befindet. Letzter von den vielen, die einst der Industrielle Borsig hatte setzen lassen im damals noch so genannten Tale Moabs, um so, wie er hoffte, eine heimische Seidenproduktion anzukurbeln. Was misslang.
Die Fensterscheiben dort in der Schnellen Quelle sind, so sie nicht in goldener Fraktur auf rotem Grund mit den Worten »Frühstück«, »Schnaps«, und »Wein« bedruckt wurden, verhängt. Einzig die verglaste Eingangstüre gibt, wenn auch verschwommen, die Mauerschau von eventuellem Tageslicht. Es spielt bei denen, die dort drinnen stehen, keine Rolle. Die Schnelle Quelle, eine der letzten Gaststätten dieser Art in der Stadt, ist kein Ort des absichtslosen Verweilens. Wer dort eintritt, trinkt sich fest.
Interessant bleibt aber das Interieur. Wie auch in der Faulen Biene, die es bis vor kurzem noch im Westhafen gab, hat sich in den Regalen hinter dem Tresen der Schnellen Quelle kurioses Gerümpel angesammelt bis hin zu jenem Anblick heutzutage, den Anna Viebrock sich nicht ausdenken könnte. Und über all dem prangt ein Schild, auf dem in Blockbuchstaben aufgedruckt verboten wird, Haschisch und Marihuana »in jeglicher Form« zu konsumieren. Die Jünglinge im Hinterzimmer, die dort am Billardtisch die Ticker aus dem auf der anderen Straßenseite gelegenen Park, dem Kleinen Tiergarten, mit Kokain und Heroin versorgen, ficht das nicht an.
Plötzlich aber wummerte es bläulich durch die gläserne Tür. Eine elend lange Eskorte dunkler Autos mit Motorradstaffel zog dort draußen vorbei. Und wird auch sonst nur das nötigste gesprochen in der Schnellen Quelle, so wurde, da war noch nicht das letzte Blaulicht abgedampft, allseits diskutiert: Doch doch, da sei der türkische Staatsbesuch soeben vorbeigefahren. Dann kommt wohl morgen der Yücel aus dem Knast.
Am darauffolgenden Abend, nach 20 Uhr, sprach dann Ulf Poschardt in der Tagesschau.
物の哀れ
Als ich nach Hause kam, probte der Amselhahn sein Lied. Er saß weit oben in der Buche, irgendwo dort im nackten Geäst. Entdecken konnte ich ihn nicht, aber hören. Die Luft war kalt, es roch nach Schnee, der Vogel sang den Frühling.
Entscheidungen sind, wenn sie nur lang genug zurückliegen auf einem von mir selbst gedachten Weg, alt und kaum verstreut und wie verwittert – wie Kirschblütenblätter.
Dort liegt, es ist schon viele, viele Jahre her, meine Begegnung mit Peter Berthold. Wir gingen damals durch sein kleines Land bei Radolfzell. Der Bodensee war nicht zu sehen vor lauter Bäumen. Der Professor, ich hatte ihn nach seiner großartigen Vorlesung aufgesucht, die bei Supposé erschienen war, stand dort wie ich in Gummistiefeln und erzählte, wie auch schon auf der CD, von seiner Liebe zu den Vögeln. Ich hatte ihn mir genau so vorgestellt. Mit diesem Bild, in dem ich, beim Hören seiner Stimme von dieser CD, auch schon enthalten oder inbegriffen war. Die Wiese roch, es war ein feuchter Morgen. Professor Berthold zeigte in die Weite seines Landes mit einem halbaufgegessenen Leberwurstbrot.
Ich war damals ganz woanders als heute. Und hatte dennoch ein Gefühl, das sagen wollte: frage ihn. Wir redeten über die Ausrüstung der Vögel, Cryptochrome, die physischen Hintergründe des Vogelzugs. Ich hätte dort bei ihm bleiben wollen, sollte das fragen, traute mich aber nicht.
Wehmut angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge, die nicht verblassen wollen. Wie diese eine Entscheidung, die ich nicht habe treffen können. War es nur die eine? Wohl kaum. Aber es kommt mir so vor. Wo? In meiner Erinnerung. Wo also? Ich weiß es nicht.
Bücher, die noch nicht erschienen sind, lese ich wie Bücher, die längst erschienen sind.
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