»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

31.12.2019

Als letzte Post des Jahres (und des Jahrzents!) trifft endlich das Jamaica-Buch von Fleming ein. Darin der ersehnte Aufsatz über Dialect, Magic And Religion, von dem ich mir Grundlegendes zum Verständnis des Inselvolkes versprochen hatte (in zwei Wochen brechen wir auf). Enttäuschenderweise hat die Forschung zum Zeitpunkt der Drucklegung, 1965, noch kaum etwas zur Inselsprache Patois herausbringen können. Auch der Rastafari-Kult ist da noch eher Randerscheinung, Reggae unbekannt. Interessant jedoch der Verweis auf die afrikanische Sprache Akan aus Ghana, auf die sich zahlreiche der auf Jamaica verwendeten Begriffe zurückführen liessen. So gibt es im Akan das System eines Geburtstagsnamens, der auf den jeweiligen Wochentag hinweist, an dem man zur Welt gekommen ist. Das scheint in dieser Kultur von erheblicher Bedeutung. Ausserdem werden diese den Wochentagen zugeordneten Namen in für Mädchen und Jungen eignenden Formen verliehen, damit auch in der Zugehörigkeit zum jeweiligen Geschlecht Eindeutigkeit herrscht, beziehungsweise: man weiss, mit wem man es zu tun hat, wenn man über jemand anderen spricht. Unter den Sprechern von Akan und auf dem alten Jamaica stünde Ludwig van Beethoven namensmässig eher halbseiden da — ein Freitagsmann? Oder doch eher ein klassischer Mittwoch? Hegel hingegen, im selben Jahr an einem Montag geboren, dürfte dort zusätzlich zu Georg, Wilhelm und Friedrich «Cudjoe» heissen. Und sein Jahreskollege Hölderlin als Dienstagssohn: Cubbena.

30.12.2019

Der Mond hauchdünn, ein wahrer Silberling, ein Fingernagel, und die Venus ihm in spannungsvoller Ferne beigesellt (im Tierreich könnte ich von ihrer Warndistanz sprechen): am Samstag, kurz nach Sonnenuntergang, und gestern dann gleich wieder zeigte sich die schöne Konstellation am Himmel, der gestern dann auch noch wie zur Feier grünlich farbte (mit rostig roten Schlieren).

Vom Balkon aus betrachtet, war weit darunter noch ein Leuchtkörper aufgegangen. Wie an jedem anderen Abend im Jahr. Das seit Jahrzehnten. Er hat, in Weiss auf Blau, die Zeichnung des Lesers, der, wie Pegasus, halb Mensch, halb Zeitung ist. Eben dort, in dieser Zeitung war ich am Freitag schon auf dies Sternenbild von Mond und Venus hingewiesen worden. Zum ersten Mal, seitdem ich die Kolumne Der Sternenhimmel im jeweiligen Monat lese, verfasst nicht mehr von Harald Marx, sondern von einem neuen Mann. Marx, ein Württemberger, ist in Pension gegangen. Es fehlt mir nicht nur seine spezielle Poesie, es fehlen nicht vor allem, sondern, wie es bei einem Paar halt ist: auch die Zeichnungen des jeweiligen Sternenhimmels von Leni Marx fehlen. Das Paar hatte sich in der Schwäbischen Sternwarte von Stuttgart kennengelernt.

In die Prosa des Neuen, Jan Hattenbach, muss ich mich erst eingewöhnen. Die Kolumne wird jetzt mit einer Computergrafik illustriert.

28.12.2019

Besuch von Sebastian, der sich auf der Durchreise befand nach Wien (dort zeigt man gerade, für wenige Tage nur, Dürers Feldhasen in der Albertina). Frühstück in der japanischen Konditorei: Er nimmt das Melonpan, das sich als duftiger Hefek(o)loss, überkrustet von feuerwehrautofarbenden Zuckerkristallen mit dem Aroma von Wassermelonen entpuppen soll. Sebastian: «Comme il Foucault.»

Die japanische Küche verlangt nach dem unbedingten Vertrauen des Essers zu seinem Koch (oder Konditor in dem Fall). Alles mundet — auch wenn es manchmal nicht danach ausschaut (oder -riecht). Einzige, mir bekannte Ausnahme: Natto.

Heute früh kurz nach Sonnenaufgang durch das menschenleere Westend. Goldrand am Windspoiler am Turm der DZ-Bank — ich brauche kein Shazam mehr für die Bankenhochhäuser, kann sie beinahe allesamt auswendig.

Der Hase Ska singt mit der Stimme von Prince Buster. Neue Horizonte in vertrauter Umgebung.

26.12.2019

Nachmittags Ausflug zur Schwanheimer Düne. Erstaunlich wenige Menschen in der schönen Landschaft, bei zudem frühlingshaftem Wetter. Man darf den Weg, der, wie durch ein Moor, über Bohlen geführt wird, nicht verlassen, weil wirklich alles links und rechterhand unter Naturschutz gestellt ist. Fühlte mich freilich trotzdem gelockt. Immens! Drei sehr schöne Eichen, die Äste von unten her eng gepackt wie Schubladen in Rokokokommoden. Dann wieder Kiefern, dunkel und duftend, da frisch beschnitten. Hagebuttensträucher hielten ihre roten Perlen mit langen Fingern gegens Licht. Und an dem Gatter, hinter dem die Schafe verharrten, hatte der Schäfer einen Aufruf zur Mithilfe angenagelt: «Zeugen gesucht!» Im Oktober sind ihm hier nächtens drei seiner Böcke von der Weide geholt worden. Die Bilder der Überwachungskamera zeigen, schwarzweiss, einen Mann von hinten, könnte jeder sein. Trägt ein T-Shirt, zum Beispiel. Haare nachtfarben, eventuell schwarz. Einer der entführten Böcke «mit imposantem Gehörn» wurde unweit vom Tatort geschlachtet. Wohl kaum spontan. Wer plant so etwas?

Zur Teestunde dann in die japanische Konditorei, ein kurioser Ort und derzeit mein liebster in der Stadt. So stelle ich, der ich noch nie in Japan war, das von Ian Buruma beschriebene Café Versailles im Tokio der siebziger Jahre vor (reichlich Trompe-L’Oeuil-Malereien an den Wänden (Faltenwürfe), Papierblüten, eine Laube aus synthetischen Kirschblütenzweigen, schimmernd lackierte Vogelhäuschen im Vorraum der Toiletten und ein Klavier, das von sich aus spielt)). Und die Torten sind erstklassig. Werde wohl noch Wochen brauchen, um mich durch das gesamte Sortiment probiert zu haben (herrliche Aussicht!) Heute ein Stück himbeerfarbene Chiffontorte und eine Scheibe von der Schwarzwälder-Kirsch-Rolle. Bin mir ziemlich sicher, dass die ihre Schlagsahne aus der Schweiz importieren. Mondän!

25.12.2019

Auf den Aufsatz von John Berger war ich hingeführt worden durch eine Begebenheit bei Tisch im Hause Jäger, als dort ein Gast, der mir bis zu jenem Abend unbekannte Student der Theologie Manuel, eine heitere Anekdote aus der Geschichte seiner Kirche auferzählte, in der es um die in der Fastenzeit vor Weihnachten erlaubten Tiere, nämlich «die aus den Wassern» ging — eine Erlaubnis, die insbesondere in den Klöstern bald zu einer fantasievollen Schlemmerei durchs Hintertürchen führen würde, wie Manuel erzählte. «Waller mit Meerrettischsauce», geriet Lorenz Jäger, wie Manuel ein Katholik, dabei ins Schwärmen, während doch in der Wirklichkeit gerade eine herrliche Scheibe Roastbeef vor ihm auf dem Teller lag. Doch pflichtete Manuel ihm, dabei vor einem ähnlich schön gefüllten Teller sitzend, bei: «Gewiss, aber als sie dann erst mit den Enten aus dem Teich ankamen, ward es zu weit getrieben.»

Köstlich! Eben dieser Manuel übrigens gab uns gegenüber seinen Berufswunsch mit Priester an. «Pfarrer auf gar keinen Fall» — mir war bislang der Unterschied nicht klar. In dem Sinne eigentlich Schade, dass wir Protestanten sind. Und so gab es gestern weder mit Jäger, noch mit Manuel, oder gar mit Mosebachs ein Wiedersehen, als wir uns, noch während die Domglocken läuteten, in die Alte Nikolaikirche stahlen. Im Innenraum dieser Kirche stört mich einzig die Orgel, deren Gehäuse für meinen Geschmack ein wenig zu sehr an einen Bauernschrank erinnert; also dass es das überhaupt tut, scheint mir schon zuviel. Doch sass dort gestern droben an Balg und Tasten mit Lars Voorgang ein Meister, der in seinen Präludien beinahe extatische Improvisationslust zeigen wollte und dann noch, wie um nur unser beider Privatgefallen zu erregen, ein Vorspiel auf der vergötterten Celesta erklingen liess (die gibt es wohl als Einbaumodul vom Celesta-Spezialisten Schiedmayer, und die wohlhabende Gemeinde kann es sich auch leisten). Herrlich dann auch seine Toccata über «O du fröhliche» nach Grimoaldo Macchia: Technoid malmend, wie es sich in Frankfurt gehört.

Weit nach Mitternacht zu Bett, obwohl ich der Lockung einer Mitternachtsmesse in der Deutschordenskirche widerstanden hatte. Auch weil Manuel mir auf der Heimfahrt verraten hatte, dass er selbst auch den zur Unzeit und dann auch noch in lateinischer Sprache gefeierten Gottesdienst zu schwänzen gedachte, weil Mosebach die Weihnachtstage in diesem Jahr, aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Bauarbeiten in seiner ansonsten bezugsfertigen Wohnung, ausserhalb Frankfurts, mutmasslich auf Schloss St. Emmeram, verbringen wird.

Beim Frühstück empfing ich trotzdem oder aufgrund dessen Inspiration. Verfasste ein kleines Gedicht zu meinem Wohlgericht, dem Ei:

ODE ANS EI

Hinter heller Hüll verborgen

Deines Inn’ren Cremigkeit

Aug‘ und, zugleich: gaumenschmeichelnd

Eiweissfarbend, leuchtorange

Nicht am sogenannten Wasser, Du bist nah an Milch gebaut

Gehörst Du, Ei, dem Gedächtnisschatze an

Mich an meine erste Lieb‘ zu erinnern,

Mich zu begleiten, keusch, Mein Leben lang

Liebe Deines Wohlgeschmackes

Mild mir die Lippen salbender Seim

Die deiner Wunder niemehr satte

Mannigfaltigkeit des Hühnerkeims

Doch auch von Enten, von denen besonders — 

himmlische Eier geflügelter Wesen

Auch die von Amseln, von Rotkehlchen, Schwänen

Eier von Engeln? Ach, warum nicht!

Schaum und Kristalle, Salz und Butter

Gold und Braun gestreiftes Brot

Als Ei im Glas, Ei auf dem Teller

Sanft gegart, doch niemals roh

Bist Du dann einst ausgeblasen

Steigst Du auf zum Osterzweig

Eigerippe, Schmuck der Sorben

Bunt gewandet, Herrlichkeit

24.12.2019

«Die Augen des Tieres sind, wenn sie einen Menschen betrachten, aufmerksam und wach» schreibt John Berger. «Das gleiche Tier wird wahrscheinlich andere Tiere auf die gleiche Weise ansehen. Für den Menschen ist kein besonderer Blick reserviert. Doch keine andere Gattung als die des Menschen wird den Blick des Tieres als vertraut empfinden. Andere Tiere nimmt der Blick gefangen. Der Mensch jedoch wird sich, indem er den Blick erwidert, seiner selbst bewusst.» 

Warum sehen wir Tiere an? heisst der Aufsatz (aus dem Jahr 1980), darin lässt sich unter anderem auch ein köstliches Stück aus einer ostafrikanischen Kosmogenie finden, aber vor allem taucht schon während der Lektüre das Gefühl auf und gewinnt dabei Konturen, dass mit dieser Selbstgewahrwerdung sich der Mensch seiner Kreatürlichkeit nächst dem Tier bewusst werden kann. Dass es nicht, oder: nicht mehr, absolut so sein wird, davon handelt Bergers Text. Er präpariert den am Tier interessierten Blick des Menschen für eine Szene des Abschieds von der unmittelbaren Nachbarschaft des Menschen zu den Tieren heraus, die sich, unter anderem mit den auf dem Jahrersrund angeordneten Tierkreiszeichen anschaulich machen lässt. 

Zur Entstehungszeit von Bergers Text, am Ende der siebziger Jahre, war die Lebensmittelindustrie noch vom Territorium der Vereinigten Staaten aus in ihrer weltweiten Entfaltung begriffen. Dort macht Berger den Ort des vollendet durchgesetzten Kapitalismus aus, dessen Konsequenz eine scharfe Trennung vom Menschen zu seinen Tieren verlangt, die fortan Ressource sind, Haustiere, Material für Tierdokumentationen oder Roadkill. Als Momumente dieser Spaltung in die Welt und die Tierwelt sind für Berger die Zoos: Der Jardin des Plantes wird Ende des 18. Jahrhunderts in Paris eröffnet, dann einer in London, dann einer in Berlin. 

In der New York Times war gestern als Empfehlung für das Festtagsmenü ein Rezept für ein Spanferkel mit knuspriger Haut mit der Überschrift An Unforgettable Holiday Centerpiece. Die Autorin, Gabrielle Hamilton schreibt zur Vorbereitung des Ferkelfleisches: «Wash it, including the cavity, under cold running water, and towel-dry thoroughly, the way you would dry a small child after a bath — ears, armpits, chest cavity, face, legs, backs of knees.»

Die Augen schält am besten mit einem Apfleausstecher aus den Höhlen und «ersetzt sie mit Murmeln». Sonst schaut das knusprige Ferkel grauslich aus.

23.12.2019

Heimgekehrt nach einem geselligen Abend bei Jägers, nahm ich noch einmal diese Zeitschrift zur Hand, die mich in den vergangenen Tagen seit meiner Genesung stark beschäftigt hatte — aus dem einzigen Grund aber, dass ich sie nicht verstehe. Und dieses Etwas-nicht-verstehen, davor habe ich mich immer gefürchtet. Vor allem, weil ich es als Argument vorgebracht selbst nie akzeptieren wollte; dass jemand etwas nicht verstehen kann, das kam mir stets vorgeschoben vor (also doppelt geheuchelt). Also kein schwaches Argument, sondern keines. Eine Ausrede.

Jetzt aber diese Zeitschrift, Friederike hat sie abonniert. Christian hat darin schon Fotos veröffentlicht. Zwei Menschen also, Geister, die ich zu verstehen glaube, verstehen kann, wie es mir scheint. Aber diese Zeitschrift — Das Wetter heisst sie, und schon frage ich mich, warum «Das Wetter», schon die Namensgebung verstehe ich nicht. Das Titelblatt zeigt eine Zeichnung: Zwei männliche Gestalten in heller Freizeitkleidung mit verkehrtherum montierten Flügeln aus leeren Mineralwasserflaschen in einem Rosenbeet. Ihre Gesichter sind grob verpixelt. Im Hintergrund: ein Himmel, das Meer.

Berichtet wird von Musikern, auch von einem Schriftsteller (dessen Debüt in ein paar Monaten erscheint, aber um das Buch geht es in dem sehr langen Interview nicht, sondern um ihn selbst, nach Feierabend sozusagen). Die überwiegende Zahl der Artikel scheint mir in der Sprache darauf angelegt, dass ich so bald wie möglich das Interesse verliere, mich weiter durch die Sätze zu arbeiten (wie in einer Geheimsprache, deren Chiffren ich nicht entschlüsseln können soll). Beispielsweise erscheint das Portrait der Musikerin Ilgen-Nur redaktionell ausgestattet mit den einleitenden Sätzen: «Ilgen-Nur und ich treffen uns in einem Café in ihrer neuen Wahlheimat Berlin und unterhalten uns bei einem Kaffee über Realness, Migration und Instagram. Hauptsächlich in Anglizismen».

Teilweise verstehe ich auch die eventuell nicht einmal für Das Wetter spezifische Art, Schriften zu setzen, nicht mehr. Das, wie gesagt, nicht aus einer Denkfaulheit heraus oder aus mangelndem Interesse. Dramatisch. Vor allem, da es mich trifft.

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