»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

31.3.2019

Die Schatten vorbeifliegender Vögel auf den Fassaden: grelles, sommerlich lockendes Licht. Es riecht jetzt auch endlich so: nach warmer Erde und dem sich reckenden Gras. Plötzlich roch es wie in Cagnes Sur Mer. Wenn man erst ganz viele Sehnsuchtsorte angesammelt hat in seinem Herzen, wird es unmöglich, diesen Bedürfnisse der Seele noch nachzukommen. Man spürt das, sagt aber: »Gedulde Dich.« Und weiß, dass man lügt.

Am Himmel zeigen sich verwischte Strukturen, gerade so als ob da ein himmlischer Tintenstrahldrucker mit verschmutzten Düsen ein schräg herausgequetschtes Papier produziert.

Beneide ich meine Nachbarin vom Gegenüber um ihren Südbalkon, auf dem sie sich sonnt? Eigentlich nicht. Weiter oben und ihr schräg gegenüber, auf der Sonnenseite werden wohl Schnitzel geklopft. Neulich saßen da, bei ersten Sonnenstrahlen die Bewohner auf ihrem angebauten Balkon wie auf dem Präsentierteller—fühlten sich anscheinend aber ganz wohl dabei, in ihrem Ausguck zu frühstücken. Angeblich will der Senat in Pankow jetzt das Anbauen von Balkonen verbieten lassen, weil es für Mieter den Anfang vom Ende bedeutet.

Schreckliches Wort: Eigentlich. Im Rhein-Main-Teil war heute eine Todesanzeige, ein Nachruf, der in jeder Zeile dem Verstorbenen nur noch einen gasig aufgeblähten Hund hinterher geworfen hat; jede Formulierung war eine Verletzung—wie taub und gefühllos, eigentlich dumm Menschen sein können: »Da schwimmt er hin, unser kleiner Traum-Flussschifferkapitän. Wir sind eigentlich allzeit gut mit ihm gefahren;« und es ging noch weiter.

Und die Sonne singt (wie bei James Joyce) »Komm‘ raus zum Rho-Do-Dendron, und zu den Orchi-deen!«

Ich interessiere mich für Goldfische ausschließlich wegen Pink Floyd. Und ich gehe die Wilmersdorfer Straße gerne hinunter oder hinauf und entlang, weil ich dabei in mir Gaetano Veloso hören kann.  

Und Construção von Chico Buarque.

30.3.2019

In seiner Laudatio auf die Opernsängerin Edita Gruberovà schreibt Jürgen Kesting: »Alles Vollkommene in seiner Art muss über seine Art hinausgehen, es muss etwas anderes, Unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinaus und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich Singen heiße.« Das Zitat ist wohl von Goethe. Ich nehme an, er hat den Vogel Nachtigall als Topos verwendet—es bleibt doch Geschmacksache, ob man die Tonfolgen der Nachtigall als besonders kunstvoll empfindet. Bei Hermann Lenz gibt es die schöne Episode, wo er seine Frau nachts an ein Gebüsch in Stuttgarter Hanglage führt, weil ihm sein Vater zuvor erzählt hatte, dort hocke eine Nachtigall. Tut sie auch, aber auf dem Heimweg vom Konzert beklagt sich Hanne Lenz (Treutlein im Buch), dass sie vom Gesang der Nachtigall enttäuscht war. Sie hatte etwas noch ganz anderes erwartet. So gefallen mir die Lieder der Amselhähne besser, aber der Gesang der Nachtigall hat allein dadurch etwas Magisches, weil sie halt dann singt, wenn alle anderen, vor allem die menschlichen Zuhörer und Autos den Schnabel halten.

Mit den Vergleichen ist es ja merkwürdig. Vorsicht ist geboten, wenn beispielsweise ein Mann den halb übrig gelassenen Teller seiner Frau leer ißt mit den Worten, er sei halt der Mülleimer in der Beziehung (weil seine Frau esse wie ein Spatz.) Da ist etwas schiefgelaufen in der gegenseitigen Selbstwahrnehmung. Neulich aber hörte ich das allertraurigste von einer Frau in den besten Jahren, die sagte »Ich bin wie das letzte Stück Pizza. Alle wollen, keiner traut sich.«

Wer bekommt Karl Lagerfelds Büchersammlung?

29.3.2019

Am Morgen gesellt sich jetzt ein Zaunkönig zu den Vögeln im Baum. Er bewirtschaftet die Äste auf den unteren Etagen des Stammes. Ich kann ihn nur von oben sehen, aus der sogenannten Vogelperspektive. So winzig und rund wie er ist, wirkt er gar nicht wie ein Vogel auf mich, eher wie ein neuartiges Spielzeug. Ein motorisierter Pompon: seine Flügel zwei Wölkchen aus bräunlichem Staub, wenn er die für ihn riesige Distanz zwischen den Zweigen durchfliegt, die eine Amsel mit einem einzigen Hupf nimmt. Allein der Weg von seinem Schlafgebüsch in den Hof und zum Baum hinauf wird ihn Minuten kosten, in denen er wie ein großes Insekt durch die Dunkelheit schwebt.

Heute kommt das Buch in den Handel. Atlantis taucht auf, es erscheint. Ich war bezaubert von seiner anmutigen Gestalt, zierlich wie ein Zaunkönig liegt es in der Hand. Ansonsten sind jetzt die Schaufenster prächtig ausgeschmückt mit Hasen sämtlicher Art. Sogar beim Metzger findet sich noch ein Plätzle zwischen Schäferfrühstück und Stracke für einen Hasen aus vergoldetem Porzellan (und beim Goldfasan haben sie einen Hasenwein, aus dessen Etikett bunte Federn ragen.) Das wird selbst mir, der ich dem Hasenförmigen an sich, auch dem Hasentum stets zugeneigt bleiben werde, zu viel. Als jüngst in den Kanon der österlichen Dekorationen integriert kommt mir die Karotte vor. Ich sehe sie aus orangefarbenem und grünem Karton gebastelt in den Fenstern der Kindergärten hängen neben den gewohnten Ei-Basteleien und Hasenfriesen. Sie wird aber auch als karottenförmiger  Präsentierteller verkauft, es gibt flauschige Karotten, die mit Osterküken und Osterhasen kombiniert werden könnten. Die breiteste Auswahl hat Flying Tiger im Angebot, dort scheint mir, auf die Wilmersdorfer Straße bezogen, das Epizentrum einer Proliferation der Osterrotte. Eventuell handelt es sich also ursprünglich um einen dänischen Brauch.

28.3.2019

Lese Emanuele Coccia. Er denkt so wunderbar über die Pflanzen. Die Lektüre verändert mein Schauen noch entscheidend, wie mir scheint, als ich durch den Volksgarten von Wilmersdorf ging—allein was er in dem Kapitel Philosophie des Blattes schreibt. Auch Heinz Budes Buch zur Solidarität verstehe ich so: Nicht als These, auch nicht als Devise. Eine Vergegenwärtigung dessen, was uns schon beinahe verloren gegangen ist.

Betrat nachdenklich gestimmt den Rias-Palast am Hans-Rosenthal-Platz. Das Taschenmesser blieb, trotz vieler schön blühender Zweige, unbenutzt stecken. Drinnen auf den Fluren ein behördenmäßiges Kaffeebechergeschleppe. Trotzdem ist Radio eine großartige Veröffentlichungsform. Hätte sehr gerne eine eigene Sendung. Man spricht in ein Mikrophon. Wird nicht gesehen, sieht niemanden.

27.3.2019

Alles beginnt mit einer empfindsamen Gleichgültigkeit. Schlicht wunderschön ist die Skulptur, die Urs Fischer bei Max Hetzler zeigt: auf dem blanken Parkettboden ist ein nierenförmiger Teich mit verspiegeltem Grund ausgelegt. Seine Ufer sind dicht an dicht mit Topfpflanzen bestanden. Da ist von der Blattpflanze aus subtropischen Gefilden bis zum Usambaraveilchen alles dabei. Künstliche Vegetation. Alle Augenblicke fällt aus einem unauffälligen Bewässerungsautomat an der hohen Zimmerdecke genau ein einzelner Wassertropfen auf den Spiegel des Teiches. Der verändert das Bild; macht einen appetitlichen Klang. Lange Zeit habe ich dort verbracht, allein mit dem Werk.

Bei Daniel Buchholz in der Fasanenstraße gab es die Zeichnungen von Andy Warhol zu sehen, die er für Buchumschläge und als Illustrationen für kleine Auflagen angefertigt hatte. Unter anderem ein komplettes Alphabet, das derart zauberhaft, weil zerbrechlich und ewig auf mich wirkte. Auch dort wieder lange, und auch allein.

Die Kunst ist keine Ware. Sie hat vielmehr etwas natürliches (Widersinn!), wie etwas Gewachsenes, das ein Recht auf Existenz und würdevolle Behandlung verdient. Die Werke haben ihren Preis, aber ihr Wert wirkt unmittelbar und selbst dann, falls sie nicht erworben werden. Man kann Menschen charakterlich ganz gut beurteilen nach der Zusammensetzung ihrer Sammlung. Hat man nicht genug Geld, um sich Kunstwerke kaufen zu können, bleibt gottseidank der Gang in die Galerien.

26.3.2019

Von Schrauben und von Batterien wird mein Leben zusammengehalten. So kommt mir das manchmal vor. Tatsächlich wie ein Wunder finde ich, dass Friederike jünger ist als ich, vor allem anders, sie verkörpert mir Lebendigkeit—und ich vor mir selbst empfinde mich als einen kahlen Ast um diese Zeit, tarnmaschinengrau, von Flechten bedeckt, aber innerlich verholzt und staubtrocken. Mein Vater sagte mir am Telephon »Auch das geht vorbei.«

Im Donath saßen wir an einem grotesk überdimensionierten Tisch für zwölf Personen, wir waren zu dritt und aßen Nudeln nach Art der Hafennnutte (zwei Tage später habe ich immer noch Durst, derart salzig waren die.) Im Gespräch ging es um die drei großen Texte, die an diesem Wochenende erschienen waren: um den von Walter Schübler über Bibiana Amon im Literarischen Leben, um das Gespräch mit Judith Schalansky von Susanne Kippenberger und um den von Kolja Reichart über die Künstlerin, die andauernd ihren Namen ändert, mit einem Fels um den Kopf aufgetreten war in der Öffentlichkeit, und die auf seine schriftlich gestellten Fragen mit Zeichnungen geantwortet hatte. Lauter Meisterwerke.

Frau Schalansky kündigt an, im Herbst ein Buch über Schleim herauszubringen. Da würde ich gerne das Nachwort schreiben, denn zum Schleim habe ich viel zu sagen. Sie sagt, auch das ging mir sehr nahe: »Meine Analyse gehört zu den drei besten Sachen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Die Erfahrung, aus einer großen Krise heraus eine Beziehung zu sich selbst anzufangen.«

Zu sich selbst.

25.3.2019

Es lief nicht gut. Es lief gar nichts, und ich hatte mich mit Lina und Christian auf meinem Lieblingsflohmarkt verabredet. Wahrscheinlich, weil ich mir den Trost im Angesicht alter Dinge versprach. Aber das war eine schlechte Idee. Ich bekam ungewohnt schlechte Laune. Was nicht daran lag, dass ich den Kauf dreier identisch modellierter Hasen aus rot glasiertem Porzellan verschoben hatte, um mir zunächst einen Überblick auf das gesamte Angebot zu verschaffen—als ich eine Viertelstunde später wieder an jenem Stand vorbeikam, waren sie weg. Verkauft, und das auch noch einzeln, wie der Verkäufer mir erzählte. Dabei war das der Grund gewesen, der mich hatte zögern lassen (weil ich unausgesprochen angenommen hatten, die würden nur ensemble verkauft.)

Es war viel zu voll, so war es doch längst nie gewesen, und insbesondere die Männer dort, die mehrheitlich aufgezäumt wie Karusselpferde herumgingen und -standen gingen mir auf meinen Sack. Woher die schlechte Laune, so will ich doch gar nicht sein—und so fiel mir die Fahrt in der Straßenbahn ein, der Weg dorthin, als mein Abteil geflutet wurde mit schlanken jungen Frauen aus vermutlich den Vereinigten Staaten, die angetan und behängt mit dem latest shit ihre Rollkoffer um mich herum zusammengeschoben hatten, um sich blasiert zu unterhalten, was sie demnächst zu tun gedächten, hier, nach Ankunft in dieser Stadt. Das war ein altes Gefühl, das ich dabei hatte. Ein Re-Run, wie als ich vor ein paar Jahren zum letzten Mal nachmittags in der Panorama Bar war und dort beschließen mußte: Das war es jetzt also. Mit dem normalen Ausgehen hat es sich für Dich. Denn ich fühlte mich wie aus Glas, ich wurde nicht mehr wahrgenommen oder beachtet. Ich war anscheinend herausgewachsen aus der Gruppe, meine Codes waren veraltet.

Und so gingen wir in ein Restaurant, aßen Nudeln, ist ja auch ganz schön. Ich hatte das wundervolle Lied von Barbara Morgenstern im Ohr: Come to Berlin.

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