»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

30.9.

Auf dem dicht mit Passagieren bestandenen Bahnsteig nach Frankfurt und Raststatt kam es zu einer Art Epiphanie, als ein Vogel, den ich zunächst für eine Ringdrossel gehalten hatte, im Dickicht der blank polierten Schuhe einhergeschritten kam. Es handelte sich aber um einen Star im Schlichtkleid, wundervoll gepunktet, der sich dann wie selbstbewusst vor einem Anzugträger aufbaute, um ihn wie auffordernd anzuflöten. Der Mann vertilgte einen Hamburger, der Star ging vor ihm flötend auf und ab, und ließ ihn dabei nicht aus dem keck ihn anwinkelnden Auge. Es wurde still um diese Flötentöne aus dem schönen Schnabel des kleinen Tiers, das dort zu unseren Füßen, von unten her seine Forderungen stellte. Eher um der Blicke der Mitmenschen willens, als dem vom Tier geäußerten Bitten Folge zu leisten, ließ der Snackende einen Brocken des Briochebuns auf den Bahnsteig zu seinen Füßen fallen. Der Star wippte anmutig in den Knien, als ob er knickste und ergriff den Bissen mit seinem Schnabel. (Ist das dann auch noch ein Bissen, wenn er schnabuliert wird, fragte ich mich?) Sogleich stießen vom gläsernen Dach, das die obere Abfahrtshalle des Berliner Hauptbahnhofes überwölbt, zwei Spatzen herab, um sich um eventuell aus dem Starenschnabel herabrieselnde Brosamen kümmern zu können. Der deutlich größere Star, er zählt zu den Sperlingsvögeln – also bestand eine entfernte Artverwandschaft –, verjagte die beiden verwaschen bräunlichen Gesellen nicht, sonden teilte den Schnabulus (wie eventuell der Fachbegriff lauten dürfte.) Dann fuhr der Zug ein. Und es kam, wie auf der Internetseite der Bahn annonciert zu einem Grind, wie ich ihn selbst an den Weihnachtstagen noch nicht erlebt hatte. Sämtliche Züge an diesem durch den anstehenden Nationalfeiertag für Arbeitnehmer extrem langen Wochenende waren überbucht. Dies aber dergestalt, dass es selbst in der ersten Klasse nur noch Stehplätze gab. Das Bierfass im Bistro, das fand ich in den vier Stunden dort unter anderem heraus, fasst lediglich dreißig Liter.

29.9.

Powerfrühstück morgens um neun Uhr mit Erik im Birdhouse, das, ich musste beinahe um den Block herumgehen, bis ich es endlich als dieses, das unsrige Birdhouse, wiedererkannt hatte, in meiner Abwesenheit einen Besitzerwechsel hatte. Hinter dem Tresen steht nun ein Migrantenpärchen griechischen Ursprungs, aus Athen. Die Küchengeräte wurden gründlich abgeschrubbt, es sah so aus, als sei dort alles neu eingebaut. Auch die Außenwelt des vogelhausförmigen Imbissgebäudes war neu gestaltet worden: Es gibt jetzt Blumen und eine mit Lackstiften gestaltete Tageskarte. Es gibt Croissants.

Dieses gesamte Viertel, gegenüber des Hauptbahnhofs gelegen, und dort hinter dem Museum Hamburger Bahnhof, war jahrzehntelang nicht nur im Grunde nicht, sondern überhaupt gar kein Viertel, sondern eine Brachlandschaft, gesäumt von einer langen Aneinanderreihung, von der Form her in etwa mit der Länge dieses Satzes vergleichbar: ein ehemaliger Lagerschuppen, in denen sich zu einem späten Zeitpunkt der zur Legende gewordene Nachtclub Crackers eingerichtet hatte – daneben, in einem alleinstehenden Bau, die Disko Tape, wo ich im Jahrhundertsommer 2010 ein Konzert von The Whitest Boy Alive erlebte, das bis zum nächsten Tag um acht Uhr morgens ging –, hier entsteht jetzt pilzhaft überschießend, rings um die angeblich größte Tankstelle Deutschlands herum, in deren Nachtshop Erik schon einmal Brad Pitt begegnet war, das, wie es heißen soll, Europaviertel, für das vor allem Max Dudler sehr viele Gebäude vom Band rollen lässt. Professor Dudler, ein Schweizer, der in Moabit derzeit auch für die abartig hässliche Fassadengestaltung einer in Gründung befindlichen Mega-Mall verantwortlich gemacht werden darf, hat in den frühen Neunzigerjahren das Restaurant Sale e Tabacchi sehr schön eingerichtet. Seitdem geht es mit seiner Kunst steil bergab. Das Europaviertel mit seinem sogenannten Kunstcampus jedenfalls unterscheidet sich noch nicht einmal mehr formal von den dahinter gelegenen Plattenbauten aus der Ostberliner Antike. Es ist überhaupt gar kein Wunder, dass die Ostdeutschen sich mehrheitlich als Dissidenten in der Bundesrepublik begreifen, angesichts dieser trostlosen Architektur. Einzig der immense Schornstein des Bundeswehrkrankenhauses steckte seine schmutzige obere Hälfte schamhaft in den Nebel, der über der Großbaustelle hing. Sogar Erik hatte sein Erscheinungsbild auf verblüffende Weise überarbeitet. Er sah jetzt aus wie der junge Lech Walesa.

27.9.

Une semaine de bonté, und alle dem zugehörigen Titel, darunter auch Stargazer, fanden sich in Vladimirs Bücherregal. Kurz darauf aber, nachdem ich dies wunderbare Bücherregal gescannt hatte, traf Moritz von Uslar ein – als einziger jeune veilliard unter den nichtweiblichen Gästen, und so konnte sich ein herrlicher Abend entspinnen wie von mir gewünscht. Anlass war die Premiere der von Vladimir ersonnenen Kosmetiklinie, die nach dem bis dato etwas in Vergessenheit geratenen Afrikaforscher Heinrich Barth benannt ist (allenfalls die in der Nähe von Rutschbahn und Abaton-Kino gelegene Straße in Hamburg erinnert noch an diesen Mann, von dem Alexander Humboldt behauptete, that »he almost singlehandedly put Africa, the continent that is, on the map«).

Wir aßen Salami, ganz kurz wurde es uns so, als ob Markus jetzt direkt unter uns war, dabei war das Catering doch vom Restaurant Dóttir besorgt, das sich nach einer kurzen isländischen Phase mittlerweile in ein piemontesisches Pop-up verwandelt hat, wie jedermann weiß in Berlin. Mansplainend – einander freilich – beobachteten wir währenddessen, wie sich im Badezimmer ein eigens hierfür engagierter Pornodarsteller entkleidete, um zur Unterhaltung der Gäste ein Schaumbad mit dem Badezusatz von Heinrich Barth zu nehmen. Der geladene Influencer und Herrenmode-Blogger Fabian Hart aus Hamburg ließ sich von einem ursprünglich aus Korea stammenden Assistenten mit einem sehr großen Smartphone fotografieren, in diesem Badezimmer, während der Darsteller, von dem andere behaupteten, er sei von Beruf Tänzer, splitternackt in der mit Schaum gefüllten Wanne seinen ihm von den Veranstaltern des Abends zugedachten Platz einnahm. Der Assistant Fabian Harts machte diverse Aufnahmen und überreichte Fabian Hart daraufhin das Gerät. Hart selbst wischte sich routiniert durch den Flow, ließ eine ihm gelungen erscheinende Aufnahme auf dem Display sozusagen stehen und sagte: »Ich würde sagen, damit gehen wir dann raus.« Gesagt, getan, der Assistant formulierte den Hashtag und löste das Posting aus.

Wenig später entschied Moritz, es war ja schon reichlich spät, dass wir noch in die von ihm sogenannte Parisi fahren sollten. Dort tranken wir am Tresen stehend, gleich neben der Plakete, die an den leider verstorbenen Otto Sander erinnert, noch jeweils ein kleines Bier. Da war der heftige Wortwechsel mit dem Taxifahrer, ein schlimmer Bierkutscher ganz harziger Berliner Schule, bereits in Wohlgefallen aufgelöst. Auf dem Trottoir lagen schon überall die heruntergefallenen Lindenblätter herum.

26.9.

Wie bunt und reichhaltig, wie glänzend und üppig uns die Auslagen im Bahnhofsviertel nach Ankunft erschienen waren. Übertrieben große Granatäpfel unter Lampenlichtern. Und dann heute früh: an der inneren Fassade im Hof, der Behang aus Efeublättern zeigte sich rot. Bis Kassel schien die frühmorgendliche Natur noch beinahe sommerlich, wenn auch aus den Tälern um Fulda, aus denen Fulda ja eigentlich besteht, aus dem Fulda Gap, neblige Wolken aufgestiegen waren. Das Gras und die Wälder hauchen die Nachtkälte aus.

Danach überall weißgraue Himmel. Die Feldwege regennass, und wo der Mais noch steht, sind an den Stauden die Blätter bananenhaft in gelblich und braunen Streifen eingefärbt. Auf dieser Strecke gibt es anscheinend keine Stoppelfelder. Grünes im Vordergrund meines Bildes – Kaff, Winterfutter. Am Horizont drehen sich die Elektrizität erzeugenden Propeller im Wind.

Beim Bezahlen fand ich eine glasierte Scherbe unter den Münzen in meiner Hosentasche.

25.9.

Am frühen Morgen, gegen zwei Uhr, wurde ich von einem grellen Blitz geweckt und begann noch halb im Schlaf zu zählen. Der Donner schlug erst fünf Sekunden später ein – das Zentrum des Gewitters befand sich mehr als einen Kilometer entfernt, rückte aber rasch näher. Schon der übernächste Donnerschlag wirkte erschütternd, als ob er das Dach des Gebäudes getroffen hätte. Dann fiel dichter Regen. Durch die geöffnete Terrassentür wurde die Musik aus der kleinen Bar des Hotels herangepeitscht. Der Raum war taghell erleuchtet, so viel war zu sehen, aber nichts von den Menschen, die dort zu diesen Hits tanzten oder auch bloß tranken.

Das Galadiner anläßlich des Saisonendes hatte im festlich dekorierten Speisesaal des Arkada stattgefunden. Pünktlich zur angekündigten Zeit, um 19 Uhr, hatte ein Mann im rosafarbenen Seidenhemd mit Krawatte und Krawattennadel die Tür erst aufgeschlossen, dann schwunghaft aufgestoßen und die schon zahlreich vor dieser Tür aufgestauten Greise herangewunken. Interessanterweise mit einer uns wohlbekannten Geste; vertraut nämlich durch unsere Beobachtungen der mumischen Kultur (allerdings trug der Saaldiener seine Finger von Henna ungefärbt.) An den passend zu seinem Hemd mit rosa Tischtüchern verkleideten Tafeln – es standen circa 287 dieser Tische in dem verschwenderisch dimensionierten Raum – durfte nach gusto Platz genommen werden. Vor der eisernen Türe zum Küchentrakt, die jetzt ganz offen stand, hatte sich die in weiße Tracht gekleidete Mannschaft aufgestellt. Die zur Inselfolklore gehörige Baskenmütze aus weißer Folie auf den Köpfen. In den davor präsentierten Behältern boten sie ein Angebot der traditionellen Festtagsspeisen feil, das kaum Wünsche offenlassen konnte – was auch daran lag, dass beinahe alle dieser Speisen unbekannt aussahen und auch rochen. Schmackhaft war unter vielem anderen eine zierliche Fischfrikadelle in der Form von Löffelbisquits, unter deren delikater Panade aus Feinbröseln ein Mus aus Ringelbrassen, gewürzt auf orientalische Art, einfach bloß Hunger auf mehr und noch mehr dieser abartig mundenden Knusperlinge provozierte. Dazu passten die langen Schiffchen aus sauer eingelegten Schlangengurken geschnitzt, die nebst einem Salat aus sauer eingelegten Paprikaschiffchen das Zentrum des Buffets bildeten. Desweiteren: Stockfisch, Ferkel und eine endemische Spielart des Brokkoli, der auf schonende Weise im Dampf gedünstet worden war. Ein Auswahl aus den bereits durch unsere Barbesuche am Nachmittag vertrauten Kuchen- und Cremekuchenspezialitäten rundete das Angebot ab. 

Die Kellnerinnen waren hier noch Saaltöchter im traditionellen Begriff des Berufsstandes. Kleine Servierwagen mit tadellos geschmierten Rädchen vor sich herschiebend, durchmaßen sie unaufhörlich die breiten Gänge zwischen den Tafeln, um von ihren Waren anzubieten. Hauptsächlich Getränke, die nicht im Preis der Halbpension inbegriffen waren und die sie, als Unternehmerinnen im Unternehmen, auf eigene Rechnung an die Gäste verkaufen konnten. Leider kein Pipi. Und trotzdem war der schöne Abend dann nach zweieinhalb Stunden doch geschwinder vorübergezogen als gedacht. Extrem gesättigt – einige der Speisen quollen anscheinend noch schwammartig auf unter der Einwirkung von Magensaft –, von daher auch extrem zufrieden verabschiedeten sich die Gäste auf typisch kroatische Weise von dem unerschöpflichen Buffet. Der Saaldiener, noch immer in Hemd und Krawatte, schloß mit eingeübter Geste die gläserne Türe ab und riß, von innen her, die blickdichten Vorhänge darüber. 

Ein schönes Sinnbild auch für das Schicksal dieses einmalig schönen Hotels. Wenn nicht gleich für das Schicksal des Sozialismus überhaupt.

24.9.

Nichts schöneres auf Erden als ein sozialistisches Grand Hotel am letzten Tag der Saison. Pünktlich um 12 Uhr hatten wir uns an der Rezeption des Arkada in Stari Grad eingefunden, der Tresen allein dergestalt ausladend, dass die vollständig versammelte Belegschaft des Hauses uns dahinter aufgestellt in Panflötenformation Willkommen heißen konnte. Es ist hier ja alles für den Besuch urlaubender  Hundertschaften ausgelegt und geplant worden: Übermorgen wird die Anlage für ein halbes Jahr in den Winterschlaf gelegt werden. Bei der Übergabe des Schlüssels versicherte man uns, dass es sich in unserem Falle um den letzten Check-In des Jahres 017 handelt. Wohl um die Besonderkeit des Datums für uns als deutsche Staatsbürger weislich, bot man uns einen Platz im Fernsehraum des Arkada nahe des mit Meerwasser befüllten Pools an, um von dort aus, bequem, die Hochrechnungen zur Bundestagswahl in der fernen Heimat verfolgen zu können.

Entgegen der Hochrechnungen der App scheint die Sonne. Man liegt unter den namensgebenden Mauerbögen des Komplexes in einem streifenhaft schmalen Schatten und schlürft den herrlichen Quality Wine, einen Blancha von den gegenüber gelegenen Hügeln, die, sämtlich unbebaut und karg, das Becken der Bucht säumen. Der Blick dahin geht über eine Plantage hinweg, gemischt gepflanzt mit Olivenbäumen und Palmen. Rasch machten wir Bekanntschaft mit zwei aus Slowenien stammenden Witwen, die, nun, nach Jahrzehnten im Mannheimer Exil, ihre Rückkehr in die Heimat feierten. Von ihnen erhielten wir versichernde Auskunft, dass es sich bei dem Arkada um das erste Hotel am Platze hinter dem Eisernen Vorhang gehandelt hatte. Und auch noch um ein weiteres Jahr handeln würde, doch die Uhr tickt bereits – natürlich und leider –, denn mit Ablauf der Saison 018 wird aus dem Konglomerat ein sogenanntes Resort unter neuer Leitung, dann wohl eindeutig kapitalistisch ausgerichtet und orientiert. Vorbei dann die Zeiten, dass man am obendrein noch gechlorten Meerwasserpool mit einem Glas Blancha zu absolut fair gehandelten Preisen bedient werden wird. Das mit den herrlichen Tortenstücken in Schuhkartondimensionen ist dann ebenfalls perdu. Der dubiose Spannteppich auf den Fluren wird dann wohl durch einen balinesischen Bastausläufer ersetzt worden sein. Räucherstäbchen wird es in den bis dato noch nicht vorhandenen Nachttischschubladen geben. Und Luffa-Schwämme an den Armaturen der Rainforestshowerkabinen von Dornbracht® oder Czech & Speak™. Die herrlich animierende Musik aus der Bar – der kroatische Grind besteht aus einer italienisch anmutenden Volksmusik* mit marschmusikhaften Chören – erzählt dann wohl, wie beinahe überall auf der Welt, vom Sonnenuntergang im Café del Mar oder von einem innerlich wahrgenommenen in der Buddha Bar. Allerspätestens wird hier in der Kulisse des neuen Arkada die Zalando-Kampagne mit Gisele Bündchen fotografiert werden (von Maxime Ballesteros.) Das überbordende Buffet im Speisesaal wird vom Industriezucker, von den Kohlehydraten und leeren Fetten gesäubert sein, es gibt Smoothies, die Taverne wird zu einer Filiale von Nobu umgestaltet worden sein. Und auch der Schlüsselanhänger aus massivem Messing, der anhängende Ring noch wie von Tito selbst, der Marschall hatte ja in seiner Freizeit sehr gerne geschmiedet, noch gerundet, wird dann durch eine schnöde Codekarte ersetzt worden sein. Doch bis dahin: vergeht hier die Zeit noch einen langen Schicksalsnachmittag wie in goldenfarbiges Aspik gegossen.

Als Einsiedlerkrebse des Sozialismus lebend: wunderbar.

*Avanti Popolo, Carlo Tuzzi, 1908

23.9.

Kurz dauert die Überfahrt im kleinen Motorboot und man erreicht die Insel Jerolim, die einst für ihren Nacktbadestrand berühmt war. Den Strand mitsamt den darauf im Sonnenschein lagernden Nackten gibt es noch immer. Die Amo Bar im Kiefernwäldchen scheint unverändert seit den siebziger Jahren. Mit grellen Farben bemalte Bruchstücke von Ästen und Brettern sind Wegweiser oder Hinweisschilder, denn gerade die Freikörperkultur braucht Reglement. Ein dicker, aufrecht in den felsigen Inselgrund gerammter Stamm trägt ein Schild mit der Aufschrift Nudists Welcome since 1896. Der Stamm, der durch ein ovales Loch aus diesem Schild herausstößt, ist an seinem oberen Ende kuppelhaft abgeschmirgelt, dazu noch auf der Mitte dieser Kuppelform suggestiv eingekerbt und mit blutroter Farbe überschüttet. Auf einer weiteren Hinweistafel sind die Grundregeln der FKK festgehalten. Beispielsweise geht es um eine angemessene Kultur des Schauens: »A certain curiosity is natural. But don’t ogle!«

Wer das nicht einhalten will oder kann, findet noch jede Menge anderer Buchten auf dieser Insel, die insgesamt nicht groß ist, so dass sie sich in zwanzig Minuten zu Fuß umrunden läßt. Das Meer ist dort überall von sehr guter Qualität. Und Äugeln darf man hier nach Herzenslust. Wenn gerade kein Schiff heranfährt, gibt es nichts zu sehen, was an die Gegenwart erinnern könnte. Man liegt unter einer krummen Kiefer auf einem weißen Felsen und schaut auf die benachbarte Insel, die aus krummen Kiefern und weißen Felsen besteht. Keine Stromleitungen, keine Abfallkörbe, keine anderen Menschen. Man schaut auf das ewige Wasser, in den ewigen Himmel, und ich träume dann gern von der Zeit vor 2400 Jahren, als die Abgesandten von der Peloponnes hier zum ersten Mal anlandeten. Vielleicht gab es um einiges mehr Vögel, auch noch andere Arten, und das klare Wasser in der Bucht war vermutlich noch derart voll gesteckt mit Fischen, es wimmelte, aber die Felsen waren schon genau so kantig und von Milliarden Sonnenstunden ausgebleicht. Die Boten wurden ausgesandt, um die Insel zu erkunden. Manche kamen nie wieder zurück. Das Land wurde vermessen und auf eine Karte eingezeichnet. Der Kapitän war in einen Seeigel getreten und in der darauffolgenden Nacht wurde ihm das Bein abgesägt. Damals gab es noch keinen Trinkwasseranschluß auf der Insel, also gab es einige barsche Kommandos in altgriechischer Sprache, die Segel wurden gesetzt.

Bei der Rückkehr in den Hafen von Hvar ließen wir die Schuhe aus und gingen barfuß an der ewigen Stadtmauer entlang. Die Steinplatten dort sind über unzählige Jahre von unzähligen Schritten zu Fußschmeichlern poliert. Beim Gehen über diese Platten im Abendlicht kommt man von allein in eine Christoph Ransmayr Welt: man sieht die glänzenden Leiber kapitaler Thunfische, die auf diesem Weg zerlegt worden sind, und auch das viele Blut, das von diesen Steinen gewaschen wurde. Körbe, überall Körbe und Füße. Brände an den Hängen über der Mauer, brennende Schiffe, Schattenspiele in der Nacht. Man hört die Wellen. Man sieht den Mond.

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