»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

28.2.2019

Schon wieder ist ein Teil des Jahres rum. Stuttgart, im Jahre 1969, eineinhalb Jahre vor meiner Geburt: Ich schaute einen Film über John Cranko. Weiß gar nicht, wie oft wir als Jugendliche an seinem Grab, weiter unten am Hügel des Solitudeschlosses gesessen hatten (mit Ausblick auf die Schnurgerade nach Ludwigsburg, Monrepos) ich nehme mal an: ziemlich oft. Why Can the Bodies Fly?

Cranko ist an meinem Geburtstag gestorben, so wie auch Foucault. Das hat natürlich gar nichts zu bedeuten, es ist bloß eine Zahl, aus zwei Ziffern zusammengesetzt. Im Nachbargarten werden seit heute früh ein paar Bäume gefällt. Sie sind wohl »zu sehr« gewachsen. Das war zwar abzusehen, ist doch natürlich, aber die Grundstücksgrenzen stehen nun einmal fest. Die Arbeiter, die teils an schicken Seilen in den Stümpfen pendelnd sägen, unterhalten sich lautstark. Ihre Stimmen werden durch die Wände des Innenhofes noch zusätzlich verstärkt. Beim Gang um die Kirche sah ich durch die Schaufensterscheibe ein Paar, noch nicht alt, im Verkaufsraum des Bestatters zwischen den Särgen umhergehend. Mir sahen die dort aufgebahrten Modelle sämtlich gleich scheußlich aus.

Trotzdem bin ich heiter. Mir hat Jan, der zugleich mein Fürsprecher ist wie auch mein Verfüger, gestern abend Mut gemacht, eine alte Idee zu entwickeln. Seltsam, wie, zumindest ich bin halt so, es einen anderen Menschen braucht, um zum Selbstgedachten Zutrauen fassen zu können. Von wegen Austausch. Es gibt keinen Wechsel.

27.2.2019

Dann also sollte tatsächlich gedruckt werden. Beim Eintippen meiner diese Arbeit beschliessenden EMail fiel mir ein, dass ich keinen Druckergruß kannte, den ich nach Bad Langensalza bestellen könnte—ich dachte an etwas wie das »Gut Holz!« von Kegelbrüdern; das »Petri Heil!« der Angler (»Ski Heil!« bei den Freunden der sämig gleitenden Bretter;) vielleicht ja etwas Zünftiges aus der Bibel? »Schwarzer Spiegel, Dunkles Wort!« etwa? 

Ich schrieb an Friedrich, um ihn mit seinem enzyklopädischen Fachwissen zu befragen. Ich war mir sicher: Wenn er keinen Druckergruß wüßte, dann gäbe es den nicht.

Seine Antwort kam postwendend: »so etwas gibt es: »Gott grüß die Kunst!« – Antwort: »Er grüße sie« (oder war es »Gott grüße sie«? Ja, das war es). Begegnet einem in Branchenbüchern mindestens bis ins frühe 18. Jahrhundert. Wer dächte da nicht an den Gruß des Ersten Weltkriegs, »Gott strafe England!« / »Er strafe es«; gewiß war der Buchdruckergruß die Blaupause. Bzw. das Hochdruckklischee.«

Herrlich. Also tippte ich: Gott grüß die Kunst! Und drückte auf »Senden«.

26.2.2019

Ein Abendessen, an das ich noch immer ungern zurückdenke fand statt zu Ehren eines Bauunternehmers aus London; es waren noch andere dabei, aber man konzentriert sich doch immer auf den Ehrengast—in dem Falle war das der Stimmung abträglich. Denn er kramte in der dort in jenem Lokal kurzen Speisekarte ewig herum, man hätte schon vermuten können, er sei vielleicht magenkrank, bis er, auf Nachfrage der Gastgeberin vor sich hinbrummelte, dass er hier, als Londoner, keinen rechten Appetit entwickeln könnte, weil er von daheim her so viel besseres gewohnt sei.

Das ist wahrscheinlich nur ein Baustein gewesen für meine Mauer aus Ablehnung gegen die Briten (ich kenne freilich welche, die ich sehr gerne mochte und mag.) Was ohnehin merkwürdig ist, weil ich ja die Musik von dort sehr gerne höre, aber vielleicht lebe ich nach einer pervertierten Erziehungsmaßregel aus dem Reich der sogenannten Insulaner: »Britons should be heard, but not seen.«

Oder so ähnlich. Machte mich dementsprechend auf ins Reich der Mitte, wo mir aus der Alten Schönhauser Strasse die vollendete Reparatur meiner Espressomaschine versprochen ward. Schaute, auf dem Weg dorthin (nach Mitte), bei Andreas vorbei, den ich, das fand er ebenso: ewig schon nicht mehr gesehen hatte. Seine Sonderausgabe »Von Hundert« zum Thema Immobilien ist extrem gut geworden. Es ist ja mittlerweile das bestimmende Gesprächsthema in Berlin—wer hätte das einst gedacht?, beinahe so öd ist es hier schon schon wie in London, gesellschaftlich, und der Streß mit den Immobilien ist wohl auch der Grund, weshalb man sich nur wenig noch über die facts of life unterhält: namentlich Wetter, Tiere und Mundungen. Weswegen man doch eigentlich mal hierher gezogen war, aber.

Vermutlich fände es der Bauunternehmer heute noch immer öde hier in Berlin, kulinarisch betrachtet. Aus meiner Hasenperspektive aber hat sich einiges, sogar ziemlich sehr einiges, getan. Erschöpft vom Schleppen der Maschine kehrte ich kurz vor meiner Haustüre in einem von außen her total unauffälligen Imbiß ein, dessen lachhafter Name am Sonntag erst Friederike aufgefallen war. Das sind wohl Chinesen, aber auf Nudeln spezialisiert. Die Nudeln werden jeweils frisch produziert, weshalb der Gastraum durchgerüttelt wird vom Eiern der motorbetriebenen Maschine. Serviert wird in blechernen Schüsseln, die Radkappen gewesen sein könnten. Raffiniert schmeckt das nicht, aber geil. Die mir in dem (schmucklos wäre noch geprahlt) Gastraum am Tisch gegenüberschlürfende Frau beschwerte sich zwar auf, vermutlich chinesisch, bei der Kellnerin und machte dabei Gesten, die eine mangelnde Elastizität ihrer Nudeln verdeutlichen sollten. Oder ein Übermaß an Elastizität—vollends entziffern konnte ich diese Geste jedenfalls nicht. 

Die Kellnerin sportete Wandersocken in Filzpantoffeln, sie schlurfte grußlos ihrer Wege. Es gibt noch so viel zu munden. Und im Gegensatz zu den Wohnungen: Andauernd wird es immer besser und mehr.

25.2.2019

Die Beziehungsform »Fern-« steht, dies zu einem Gutteile zu Recht, in dem Ruf, lediglich eine Durchgangsphase darstellen zu wollen; ein Korridor, im Vergleich mit dem Weg eines Würmchens durch das Fleisch einer Frucht, wobei das dann, um in diesem Bilde zu bleiben, am Ende doch die beinahe unveränderte Ausgangssituation vorfinden würde. Denn es strebt doch alles, was da kreucht und fleucht: zum Licht.

Licht und flauschig zeigten sich Wölkchen. Das angekündigte Hoch schaute im Zahlenwerk der Prognose weit weniger eindrucksvoll aus, als es sich dann in der Brust fühlen ließ. Endlich—wobei: war dies nicht der allerkürzeste Winter meines Gedenkens?—wieder auf dem breiten Trottoir im Sonnenschein sitzen; beim Vorführen der herrlichen Kirche von Alt-Lietzow gerieten wir dort am Nachmittage in den sich auflösenden Gottesdienst einer südkoreanischen Gemeinde hinein, deren Messdiener prachtvolle Gewänder wie aus dem Faschingsbedarf trugen. Eine Greisin ludt uns ein, mit den anderen vom Brötchenbuffet zu nehmen, das im nahen Gemeindehaus aufgetischt ward. Da stand über dem Rathausturm der Streifen eines Regenbogens. Dabei ganz gerade. Wie ein Schnipsel Masking Tape. Man lernt auch meteorologisch nie aus.

Schon der Korridor aber ist hell. Und wie es bei Sensorama heißt: freundlich. Ausflug nach Kreuzberg, eigentlich also in eine andere Stadt. Am Kottbusser Damm haben Italiener eine Futterluke eröffnet, dort gibt es frittierte Pizza. Das hörte sich zwiespältig an, aber es schmeckt wundervoll. Außen knusprig und innen scheimig-aromatisch. Vom kulinarischen Prinzip her ein Samosa, aber halt aus Pizzateig. Liegt weit weniger schwer im Magen, als man denken könnte. Es ist eine Köstlichkeit, und würde ich in Kreuzburg leben, dann ginge ich in den nächsten Tagen wohl andauernd hin. 

Denn die Sonne soll bleiben. Der Luftdruck liegt derzeit bei 1027,0 Hektopascal. Und ich trage die Erinnerung an den inneren Sonnenschein der vergangenen Tage noch wie zusätzlich verstärkend in meinem Herzen. Zum unaufhörlichen Gespräch kommt dann halt ein unaufhörliches Feiern des Wiedersehens.

24.2.2019

Denn nur was richtig sauber ist, kann richtig glänzen—freilich eine Tautologie, aber ich mußte gestern nachmittags an den alten Slogan denken, dazu stieg mir die unterliegende Marschmelodie ins Gedächtnis, als ich mit dem General meine Böden pflegte. Ich habe ja zwei: einer besteht angeblich aus Holz (der Luftdruck lag bei 1034,6 Hektopascal), der andere eindeutig aus Fliesen. Aber zu meinem Glück aus ganz schlichten, von »ganz einfacher« Herkunft, sodass ein Abwischen mit dem Putzmittel ihm zu genügen scheint. Im vergangenen Sommer habe ich einem schwedischen Importeur seinen Prospekt übersetzt, mit dem er marrokanische Zementfliesen anpreisen wollte. Seitdem kenne ich mich besser aus als mir lieb ist, mit dieser Gattung extrem anspruchsvoller Bodenbeläge—High maintenance ist da übrigens noch untertrieben. Aber wie Mike Meiré selbst mir einst aufs Band gesprochen hatte: »Nachdem wir in den achtziger Jahren den Gesundheitsschuhmarkt aufgerollt hatten, wurde mir allmählich klar, dass auf dem Sanitärsektor noch einiges ging.« Und aus seiner langjährigen Beratertätigkeit für Andreas Dornbracht ist der sogenannten Kunstwelt ja wirklich noch so manches entgegengewachsen.

Verbrachte danach die längste Zeit in dem phantastisch sortierten Asia-Supermarkt am Stuttgarter Platz. Gerade Samstags ist das vergnüglich, weil alle dort ihre Wochenendseinkäufe machen. Und phantastisch sortiert meint in seinem Falle, dass sämtliche Regionen dieser riesigen Geschmackswelt dort abgedeckt werden. Man trifft den braungesichtigen Inder im Gang mit den für ihn interessanten Pulvern, die schwer Zuzuordnenden (Koreaner? Taiwanesen? Laotiker?) in den übrigen, und ganz am Ende, kurz vor den Kassiererinnen, ist das freilich vergleichsweise schmale Regal mit den Produkten aus Japan aufgebaut.

Langnasen wie ich fallen natürlich auch dadurch auf, dass sie nach glutenfreier Sojasauce fragen (weil sie heute abend mal selbst Sushi machen; deren Sexualkultur will ich, kann sie mir aber ansatzweise doch freilich, nicht vorstellen.)

Seltsam, dass ich mich nicht als Parvenu bloßstellen will, weil es gibt dort fraglicherweise etwa zwei Meter lange Wurzeln, die einzeln in knisternde Folie eingepackt angeboten werden. Denn die asiatische Kultur bleibt, gleichwohl, wie oft man dort in Ferien war, ein klandestiner Raum. Beim Verlassen hatte ein japanisches Paar gleich vier dieser Langwurzeln dabei. Was man wohl damit anstellen kann?

Der Sirup mit Ananasaroma, den ich, vom Etikett her, noch aus Thailand kannte, duftet unverdünnt wie Red Bull—für mich ist das ein ekelhafter Geruch. Aber, Oh Zauber: kaum hatte ich ihn mit Mineralwasser aufgegossen, entfaltete sich der angenehme Reiz frischest aufgeschnittener Ananasfrüchte im Raum. Im Zusammenklang mit dem Bergfrühlingsduft des Generals wirkte das überwältigend auf mich. Da ist die Zirbe nichts dagegen. Vor allem auch viel zu winterlich!

Mein Nachbar polierte weit unten auf seiner Terrasse die marmorierte Platte seines Marmortischchens. Der über mir schleift das Parkett ab. Alle anderen saugen, und an der Tankstelle gibt es schon bald keine normalen Zeitungen mehr, von wegen Fensterputzen. Es wird jetzt Frühling, daran kann es keine Zweifel mehr geben.

What a wicked thing to do, to let me dream of you.

23.2.2019

Bei meiner Rückkehr befand sich meine Wohnung angeblich zwölf Meter höher in den Lüften, als ich vor paar Stunden noch aus ihr herabgestiegen war auf den Erdboden. Ich nahm es als Signal für meine Laune, die ebenfalls gestiegen war; zwar nicht um Meter, aber halt auch so um die zwölf ganze Striche herum auf der inneren Skala. Vor meinem Fenster fanden in angeblich 75 Metern über dem Meeresspiegel gemessen, Luftkämpfe statt zwischen einem deutlich kleineren Amslerich und dem Mutisten. Die hüpfen dabei aufeinander zu, wobei der aggressivere von beiden offensichtlich danach trachtet, den Schwächeren vom Zweig zu drängen. Weil die ja verblüffend leicht sind von ihrem Lebengewicht her, reicht ihnen die Planche bis in die Verästelungen am Ende eines Zweiges, bis es wirklich nicht mehr weitergeht. Sie flattern dann einander entgegen, bis einer die Nerven verliert und in die benachbarte Baumkrone flüchtet. Fliegenderweise. Davon ungerührt machten zwei Ringeltauben Etagen tiefer ein Ei. Der Vorgang an sich dauert blitzartig. Bevor man sagen kann, es blitzt, ist es vorbei.

So schweigt der Mutist zwar weiterhin, aber er kann seine hohe Warte halten. Ich war auch froh, wieder daheim zu sein.

22.2.2019

So lebe ich (inklusive meiner Wimpernschläge und dem Zeitkristall.) Dann kamen die Fahnen an. Und es war wieder so, wie beim ersten Mal: obwohl mein Name dort vorne dranstand, fing ich an, diesen Text zu lesen und konnte den nicht mit mir selbst in Verbindung bringen. Wer hatte das geschrieben! Und wie zuletzt bei den Fahnen von Untitled, mußte ich inmitten jeder Seite aufstehen und weggehen vom Lesestoff. Aus einem philobaten Fluchtreflex heraus. Es war schwer nur erträglich. Unheimlich nah und gleichzeitig extrem fremd. Rainald hat mir damals in Philomenes alter Galerie in der Schellingstraße diagnostiziert: »Sobald Du weißt, wer Du bist, wirst Du nichts mehr schreiben können.« Das war nach der Lesung mit Ingo und Thomas Meinecke. Auf dem Flyer stand »Like Vanishing Cream.«

Die Wogen. Die Gischt. Und mein Schäumen. Es gibt nur zwei Maßnahmen, die mich beruhigen können. Ich telephonierte lange mit Friederike. Parallel dazu las Jan. Obwohl er ein, wie er es nennt »langsamer Leser« ist. Die Nacht blieb ich schlaflos. Es war dann dunkel, krappenschwarz, und es war auch sehr still. Die Vögel schwiegen. Den Vollmond konnte ich nicht anschauen, weil der Himmel bewölkt war. Ich hatte aber die Erinnerung an den vorigen Tag, als er wie ausgeblasen im blauen Himmel über den Häusern gestanden hatte (viele Fotos gemacht.)

Der Luftdruck war auf 1015,0 Hektopascal gestiegen. Wobei ich dieser App mittlerweile nicht mehr trauen kann, denn mal liegt meine Wohnung angeblich auf 39 Metern über dem Meeresspiegel, dann wieder auf 54—ich brauche vermutlich eine traditionelle Wetterstation, an deren Barometerglas mein Vater früher an jedem Morgen mit der Zeigefingerspitze klopfte, um dann den silbrigen Erinnerungszeiger neu zu justieren.

Georges Simenon mußte sich angeblich schwallartig übergeben, während er seine Romane schrieb. Daran mußte ich denken, es gibt wohl so unterschiedliche Ausprägungen dieser Krankheit, wie es unterschiedliche Schriftsteller gibt. Warum war ich bloß kein Ornithologe geworden! Warum hatte ich die Lehre abgebrochen! Warum habe ich mich nicht gemeldet, als es um den Generationswechsel in der Gartenbaufirma meines Großvaters ging! Weil ich partout ein Künstler sein wollte. Ohne auch nur irgend eine Spur davon zu ahnen, was das bedeuten könnte. Und aber es macht mir einfach bloß reine Freude. Von gestern mal abgesehen—so schlägt mein Herz. Stunde um Stunde. 

Heute besuchte mich Christian, und wir haben den Nachmittag zusammen verbringen können, weil der Internetklempner zwar lange, aber nicht zulange auf sich warten ließ. Das war sehr schön, im Park hat Christian die kuriosen Statuen fotographiert, mir die Aufnahmen auf dem Bildschirm gezeigt und dabei gefragt: »Was mache ich bloß damit?« 

So ist das nämlich. Ich schreibe ja auch nie irgendwas einfach so und für mich.

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