»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

31.1.2019

I studied the blaesshuhn from beak to tail. John Coltrane spielt »Bye bye black bird.« Drei Jahre am See, in meiner Erinnerung war es die fruchtbarste Zeit. Aber jetzt »müssen wir umziehen, in einen anderen Wald,« wie es im Totenvogel heißt.
»Schreib alles auf,« schreibt Dirk von Lotzow »Dann wirst Du lernen, die Zeit zu überlisten. Das ist das ganze Geheimnis. Das ist das einzige Gesetz.« Dem gibt es von mir aus nix hinzuzufügen. I tried my best. Und andere Wasser haben auch schöne Vögel. In diesem Sinne: I’ll never stop living this way.

30.1.2019

Zu schön um nicht wahr zu sein: Der Aufgang der Sonne malt die vordere Hälfte des Sees in zartem Rosa, das vom Mittelgrund ausgehend verblaut. Reif liegt auf dem Land, Gras und Eiben zeigen ein taubes Grün. Das Bild sagt: Betreten ist zwar nicht verboten, aber es hat einen Preis. Bloß weil Vögel nie schlottern, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht frieren können. In Orlando fallen Möwen tot aus dem Himmel »frozen in mid-flight.«

Am blauen Ufer schilfert Eis in dünnen Schollen. Wie mundgeblasen. Ab und an eine Ralle darauf stehend, und das auch noch einbeinig »Schau, was ich kann.« Um dann jäh und kreischend durchzustarten, ein fliegendes Gewicht.

Vom Hügel aus äugte ich nach einer Gestalt bei einem alten Baum. Eine Frau, die hockte dort, bloß teils bekleidet, ihre Notdurft verrichtend. Keine Obdachlose offensichtlich, sie telephonierte dabei vermittels drahtloser Ohrstöpsel. Warum mich das verstörte—hatte ich doch bestimmt hunderte Männer schon zwischen Bäumen und auch anderswo in der Stadt beim Abschlagen ihrer Wasser mitangesehen. Das andere Geschlecht.

Alles was traurig macht oder mutlos, wird im Bewußtsein als feucht und kalt markiert. Trost wiederum hat keine Temperatur.

29.1.2019

»Briefwechsel mit diversen Kollegen«: Was sich durch den neulich von der Stiftung freigeschalteten Suchapparat bei Arno Schmidt ergötzlich liest, wird wohl zukünftig eher mau bleiben. Immerhin schreibt mir Degens, dass die von uns besuchte Bar in der Barockstadt Potsdam nicht Unsichtbar geheissen hatte, sondern: Unscheinbar.  Gut, waren wir halt in der Unscheinbar. Auch heiter.

Wobei mir im Nachhinein erst so richtig klar wurde, wie dermaßen un-heiter mir dort, in Potsdam, die auch noch hinterleuchteten Plakate der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung erschienen waren, vor, und teils auch: inmitten der heiter, weil barocken Kulisse entlang der eisigen Prachtstraßen. »Deutschland sucht den Impfpass« wirkt ja schon vom Slogan her verschleiernder, denn aufklärend. Aber dann ist dazu dann auch noch ein Jugendlichendarsteller abgebildet, der einen einhändigen Handstand macht und dabei seinen Hut aufbehält. Allein dieses Wunder entgegen der Erdanziehungskraft lenkt tüchtig ab vom Impfpass an sich, der ja gelb ist. Und warum macht der Jugendliche diesen Trick, fragt sich die Passantin—nun, es steht dort, in seinem papierfarbenen Zimmer auch eine Plastikbox mit Vinylschallplatten drin. Mit der Musik aber hat sein Verhalten anscheinend nichts zu tun, denn der im Hintergrund deutlich und scharf abgebildete Plattenspieler, ein veritabler Turntable soll es sein, trägt zwar eine der schwarzen Scheiben, aber die sogenannte Nadel des Tonträgersystems ist darauf nicht aufgesetzt. Es kann also de facto keine Musik sein im dargestellten Raum; der Musikus sucht seinen Impfpass im Stillen, handständig, und wenn man ganz viel Zeit hat, dann kommt man irgendwann schon auf die Idee, dass er in dieser Pose eventuell nach dem ihm übereigneten gelben Faltblatt suchet dergestalt, dass er es zwischen seine Plattensammlung gerutscht vermuten tut. Weitere Fragen, beispielsweise: Muß, oder sollte ich zum Auflegen meinen Impfpass immer dabeihaben et cetera könnten sich anschließen. Auf jeden Fall aber fehlt dort die Heiterkeit. Auch weil man an die Mitglieder der Gremien dort, in der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, sich gezwungen fühlt, zu denken, man hat sie leider schon plastisch vor sich im Kreise ihrer Berater, wie die ein solches Plakatmotiv als »stimmig« oder gar »heiter« in Auftrag geben, bezahlen, abnehmen, drucken lassen, verbreiten, aufhängen, hinterleuchten et cetera.

Von der anderen Kampagne aus diesem Hause, da geht es um sexuell übertragbare Krankheiten, und man hat sich bei diesem heiklen Thema für einen Cartoonisten in der unseligen Epigonenschaft Uli Steins entschieden, will ich sehr gerne schweigen.

Gipsköpfe klingt so altmodisch. Salzknaben werden es sein.

Vincent Klink, der heute Geburtstag hat, schreibt in seinem Tagebuch, dass er den Beruf des Koches für weit weniger anstrengend hält als den des »ernsthaften Kopfarbeiters.« Heiter ziehe ich meinen nicht vorhandenen Hut.

26.1.2019

Jemand hat geschrieben, ich weiß nicht mehr wer: Barock, also die Architektur dieser Epoche, sei heiter. Also dadurch gekennzeichnet? Denke ja seit längerem nun schon nach darüber, was Heiterkeit bedeuten, oder gar: sein könnte. In Bundestagsprotokollen wird es phrasenhaft mitgeschrieben als Stimmungsnotiz: »Heiterkeit«.

Ging dementsprechend gestimmt durch Potsdam, einen Nachbarort mit reichlich Barock, und jedes zweite Haus war entweder eine Anwaltskanzlei oder eine sogenannte Vermögensverwaltung. Die Stadt wie Ludwigsburg: »Wiener Art«, also mit dem Hammer breit geklopft. An der Prachtstraße saßen in einem Grillimbiss ein paar beim Abendbrot. Für den sehr kleinen Hunger war ein Viertelhähnchen im Angebot. 

Degens las um die Ecke in einem dunklen Villenviertel. Lesungen sind ein feuchter Mantel, den man seinem Text umlegt. 

Später wurde es freilich noch kurz amüsant in einer Bar am Nauener Tor, die Unsichtbar hieß. Kannte ich noch nicht. Auch Adebar wäre möglich.

25.1.2019

Bei den Allzeitbereitisten der sogenannten Prepper-Szene sorgt die Nachricht vom Produktionsende der Erbswurst natürlich für unbehagliche Gefühle. Offenbar zählt sie, die Erbswurst, bei diesen Stadtparanoikern zum Inventar eines Fluchtrucksacks (der in dieser Szene natürlich mit dem aus dem Amerikanischen übernommenen Code BOB bezeichnet wird (für Bug Out Bag). Diskutiert wird unter anderem die richtige Farbe des BOB, also ob man im »urbanen Umfeld« nicht eher auffallen würde im Ernstfall, wenn man einen militärisch grünen BOB geschultert trägt—da frage ich mich: Und was ist mit dem Farbton der Erbswurstsupp‘?)) Bei ihnen stellt sich aber vor allem jetzt die Frage, ob und vor allem wie sich die Erbswurst autonom herstellen ließe. Ein Prepper (die haben übrigens gerne mal Munition als Profilbildchen oder einen hungrigen Hund) verlinkt auf das How-To-Video eines amerikanischen Kollegen, der sein Rezept erklärt. Allerdings dauert das Trocknen der Pampe beinahe 70 Stunden. Das wird von den Preppern aber nicht groß als Problem verbucht. Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt.

Im Deutschunterricht hat man uns mit den Gedichtchen aus den Maulwürfen von Günther Eich gequält. In einem kommt die Erbswurst gleich nach der Erbsünde vor.

24.1.2019

Viel gibt es nicht aus dem Reich der Produkte, in dem ich aufgewachsen war und von denen ich dann das eine oder andere, mit ihnen stark, zumindest: älter geworden, überlebt hätte. Yps gibt‘s, glaube ich zumindest, noch immer als eine Website (bloß jetzt halt ohne sogenanntes Gimmick, dafür im Gimmick selbst begriffen.) Alles übrige war entweder nie weg oder kam irgendwann wieder. Sogar Leckmuscheln.

Und jetzt lese ich zufällig, dass die Firma Knorr die Produktion der Erbswurst zum Jahresende 2018 eingestellt hat »Mangels Nachfrage.« Klanglos. Ganz plötzlich, wie es mir scheint. Das Geschäft lief unfassbare 129 Jahre lang! Wir hatten selbst immer mal wieder eine im Küchenschrank herumliegen. Für preussische Zeiten.

Es gibt ja Leute, die sind der Ansicht, dass es sich bei Maggi und Knorr um siamesische Unternehmenszwillinge, um eine Art Etikettenschwindel handelt. Aber die Erbswurst gab es bloß bei Knorr. Ein Unternehmen, zu dem meine Familie eine emotionale Bindung unterhielt, da meine Mutter dort ihre Karriere gestartet hatte (allerdings nicht in der Erbswurstproduktion!) Diese Wurst, die keine war; noch nicht einmal so ausschaute, wie eine, hat auf mich als Kind eine gewisse Faszination ausgestrahlt—das Zubereiten von Fertiggerichten aus Pulvern und ähnlichem war damals in etwas so ungewöhnlich, wie es das heute wieder ist. Die Erbswurst hatte ja schon vom Namen her etwas zwittriges, so dass man sich halb grauste, dabei aber nicht abwenden konnte. Von ihrem Geschmack habe ich nichts im Gedächtnis behalten, außer dass der mehlig war. Mindestens einmal habe ich von einer der Portionsscheiben in deren Trockenzustand etwas abgebissen, um die Pulverbrocken im Mund zur Suppe aufschäumen zu lassen. Aber was diesen verpönten Rohgenuß anbelangte, waren mir Brühwürfel und dann natürlich Knorr-Würze, die euphemistisch als »Maggi« bezeichnet wurde, tropfenweise auf die Zunge geschüttelt, natürlich lieber.

23.1.2019

Wenn was dran hängt, erinnert das Gefühl des Erwartens einer Antwort an das bei einem Liebesbrief. Dann denke ich mich »wie auf Kohlen« – wobei ich doch bezweifeln will, dass bis vor dreihundert Jahren noch irgendjemand tatsächlich diese Erinnerung abrufen konnte aus seinem tatsächlich Erlebten, als er, damals, auf Kohlen saß.

An Zuschriften mangelt es mir ansonsten nicht. Musste immer daran denken, als im TV die Bilder aus den vom Schnee verschütteten Ortschaften gezeigt wurden (wie zur Mahnung!). Vielleicht weil Schnee weiß ist wie Papier? Hüben wie drüben muss man aber vor allem darauf achten, dass einem das Dach nicht kollabiert.

Schaute eine Dokumentation über Michelin-Aussteiger, also Köche, die ihre Nase voll hatten vom Tanz um den Stern. Da ging es unter anderem um eine Dame in Erfurt und ich dachte: Momentchen. Fragte gleich Erik an. Der aber kannte zwar besagtes Restaurant, die Bachstelze, wohl noch aus Kindstagen, betritt sie aber, seitdem sie Marias Ostzone heißt, nicht mehr aus Prinzip. Kann ich freilich verstehen. Verabredeten uns lose für den April zu einer Tour durch Erfurts schattige Seiten. Nebenbei überreichte er mir noch etwas Text. Es schneite. Die Fahnen für seinen Roman Burial of the White Man sind fertiggestellt. Im Anhang schreibt Ingo interessant über die Frage, ob man denn lebt, um davon erzählen zu können. Ob man sich womöglich Häuser kauft, Unfälle baut, Pyramiden, alles mögliche auch, weil doch sonst niemand davon zeugen können wird (darauf zeigen können wird), dass man überhaupt Punktpunktpunkt

Und alles weitere steht bei David Gahan und Martin Gore in Precious.

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