»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

29.9.2020

Nicht leicht für mich, derzeit, nicht paranoid zu denken. Gestern fand ich auf jener Wiese, wo ich seit Tagen schon die halbwegs reifen Quitten aufgelesen hatte, auf einmal keine einzige mehr, dafür lag ein quittengelber Golfball dort im Gras. Wirklich dafür?

Heute wirkt das Geschehen auf der Straße drunten ungewöhnlich ruhig auf mich, beruhigend auch, da schreibt mir Friederike, sie hätte im Polizeifunk gehört, es finde derzeit ein Einsatz des SEK in unserem Viertel statt. Angeblich hatte sich ein bewaffneter Mann in einem Gebäude verschanzt — ob ich durch das Fenster etwas davon sehen könne? Jetzt, da ich um die Besonderheit der Situation dort drunten wusste, kam mir das vertraute Bild der Straße unten und vor meinem Fenster natürlich seltsam vor; mit einem Mal. Bedrohlich auch, in seiner Reglosigkeit. Aber sind das nicht alle Bilder: reglos?

Und der Himmel heute wie dräuend, so grau. Und oberhalb dieser wattigen, opaken Schicht formieren sich die Vögel nach Arten streng getrennt, um in V-förmigen Formationen nach Afrika zu fliegen. Jede Art für sich. Oder hat man denn jemals von blinden Passagieren in den Schwärmen von Zugvögeln gehört?
Mein viertes Thema ist die Post.

28.9.2020

Rauschgoldenes Licht, ein veritabler Schwall davon, das morgens durch die Scheibe dringt, um sich, die tollsten Schatten werfend, quer über die gesamte Wand zu verteilen: dieser Anblick lockte mich und lockte mich hinaus in mein Foyer des arts, den Platz am Ende der Europa-Allee. Kaum dass die allerdrängendsten der dringenden Arbeiten getan, strebte ich dorthin. Meine Agora — die Typen dort und ihre Anliegen dürften im Groben noch dieselben sein beziehungsweise ewige. Heute, zum Beispiel, ließ einer sanfte Klarinettenmusik aus dem Handylautsprecher auf sich wirken. Dazu ein Gemisch aus Buckfast und Sprite. Wann wird Nestlé den Mönchen der Buckfast Abbey eine Offerte unterbreiten, wie es heißt? Und werden, nach meinen nächsten Fahrten, die das Wetter bestimmenden Wesen mir noch eine Fortsetzung meines Studiums der guten Leute vom Tel-Aviv-Platz gewähren? Wird der Europagarten selbst, derzeit noch immer hinter Zäunen wie bis vor kurzem noch mein Platz, dann in meiner Abwesenheit zur Benutzung freigegeben sein — all seine Wiesen und Fläche, ihre Wiesenheit?
Wird es Schnee geben, wie kalt müsste es werden, um eine Wespenplage wie weilands im Berlin des Jahres 1998 zu verhindern?
Goldener Herbst, Zeit der Schwärmerei — wann, wenn nicht dann! — und des Schwelgens in meinen Erinnerungen; auch denen den Zeitraum 2020, der jetzt sachte verstreicht. Wie seltsam, es sind kaum welche da, die sich melden — anscheinend. Doch, es war ein sehr gutes, aber halt auch verinnerlichtes Jahr. How soon is now?

26.9.2020

Zurück in der Heimat, eingeschlafen bei Regen, seinem sanften Geräusch. Es sind freilich sehr viele, jeder einzelne Tropfen macht ein eigenes, für ihn charakteristisches, aber zusammen wahrgenommen vernehme ich sie als eins. Trotzdem die Mahnung Leave no one behind. Von diesem Schlaf, dem traumhaftesten von allen bislang — ein jeder Schlaf ist traumhaft für mich, aber dieser war am traumhaftesten — musste ich mich noch nicht erholen; ich zehre noch immer von ihm. Die Erholung währet immerdar, wie es heißt, während von draußen natürlich: ein, nein, der Himmel: meliert, aufgebauscht zu schmalen Dünen. Wirjt schlampig auf mich, lustlos, hingepfuscht. In der Zeitung wird an das Oktoberfest-Attentat erinnert. Friederike war damals noch nicht geboren.

Ich trage die herrlichsten Alpaca-Socken und meinen Herbst—Schal (wie die anderen Künstler). Es ist wieder soweit. Please, please, please let me get what I want.

23.9.2020

Die Tage um das Äquinoktium habe ich hier, in einer kleinen Siedlung hinter dem Stadtrand von Berlin verbracht. Hinter dem Haus beginnt ein Landschaft aus Weiden von kleinen Wäldern aus niedrigen Birken bestanden. Bis vor ein paar Jahren noch war die Ortsdurchfahrt, die aus Berlin hinaus weiter in den Osten führt, gepflastert. Ein für eine stille Arbeit geradezu idealer Ort (geradezu wie die Allee).

Nachts war es sehr still, beinahe so still wie in meinem Heimatdorf, und ich schlief traumlos und tief.

Tags regierten die Hunde. Es gab zwei: einer sehr klein, eigentlich winzig, gerade so lang wie mein Schuh. Zudem noch noch stark behindert, infolge eines häuslichen Unfalls. Ich kenne ihn noch aus der Zeit, als er voll bewegungsfähig war. Der andere Hund vergleichsweise riesig. Auch ohne Vergleich, selbst an mir gemessen, ungefähr wie ein Kalb (so groß wie ein Kalb mir vor Augen steht). Ein Mischling aus einem italienischen Hütehund, Rest unbekannt (er stammt aus dem Tierheim, sein Stammbaum wurde verbrannt).

Die Geräuschemischung in dem Raum, in dem ich geschrieben habe bestand aus dem Tippen meiner beiden Fingerspitzen auf der flexiblen Tastatur und dem weitaus, viel vielmehr reichen Arsenal an Schluck- und Schmatz und Leck- und Schaufgeräuschen dieser beiden Tiere. Aus ihren Zahnpflegegeräuschen. Aus ihrem Hecheln und Stöhnen, ihrem Japsen und Quietschen, dem Bellen natürlich, ihrem Aufspringen und dem Umherrennen, -trappsen und -schleichen. Selbst ihr Vor-einander-hin-schauen rief Geräusche hervor/ machte welche; und dann wieder ihr Schnaufen während des hündischen Schlafs.

Wenn man einen Hund bei seinem Namen ruft, spricht man ein Wort aus der menschlichen Sprache vor sich hin, laut, und hofft dabei, seine Bedeutung reicht bis in die hündische Sphäre hinüber. Kurios.

21.9.2020

Gestern vier Stunden lang in den Wäldern hinter Dreieich spazieren gewesen. Eine Gegend für die Freunde des Pferdesports: überall Koppeln, auf denen die Staksigen herumstehen und vor sich hinschauen. Ins Leere? Kühe jedenfalls schauen anders drein. Kühe schauen mich an. Zudem hatte man den meisten Pferden, auf denen man uns begegnete, Säcke über den Kopf gezogen aus einem beinahe blickdichten, dunklen Material. Vermutlich, um die schimmernde Augenoberfläche der Tiere vor den Mücken zu schützen. Dachte an Sparklehorse, der seinem Pferdekopf gleich Glühbirnen eingeschraubt hatte. Und an dieses Gerücht, es gäbe, als es den Tape Club noch gab, diesen Abend namens «Horse Meat Disco», dessen Jünger sich an einem geheimen Ort versammelt hätten, nicht um Eulen anzuzünden, aber um dort on bare back mit anderen nackten Männern zu verkehren, deren Köpfe von farbig gekennzeichneten Rupfensäcken verhüllt waren. Rupfenfarbener Sack bedeutete negativ. Die anderen hatten rote.
Pünktlich zur Mittagszeit erreichten wir die Lichtung mit einer langgezogenen Streuobstwiese. Gewürzluike, Blutstreifling und sogar Goldparmäne: Von sämtlichen alten Sorten aus meiner Kindheit war hier zumindest noch ein altes Exemplar erhalten. Wir entnahmen viele Proben. Speyerlinge ließen wir links liegen.

19.9.2020

Die Postkarte von der Raststätte Im Hegau ist tatsächlich angekommen. Ich hatte sie dort in einem Abteil des Restaurants gekauft, es gab sogar Briefmarken und als ich fragte, ob es auch einen Briefkasten gibt, sagte mir die Verkäuferin «Ja, aber einen inoffiziellen.» Das war für mich der Reiz, inoffizielle Briefkästen eines inoffiziellen Postsystems kannte ich bislang lediglich aus der Versteigerung von No. 49, ich war also dementsprechend gespannt. Der inoffizielle Briefkasten des inoffiziellen Postsystems in meiner Realität war dann aber kein Mülleimer, auf dem W.A.S.T.E. geschrieben steht, es handelte sich um einen Würfel aus Plexiglas mit einem Schlitz, wie man sie als Sammelbehälter für Fremdwährungen kennt. Ein unauffälliges Schild wies auf die Funktion des transparenten Würfels hin. Die Karte zeigt Impressionen von der Raststätte selbst, allerdings aus den Jahren vor der Errichtung der Autobahnkapelle. Die Karte soll recht selten sein, meinte jedenfalls ihre Verkäuferin. Es gab wohl bloß noch drei Stück.

Am Nachmittag rief eine Freundin an und erzählte mir, sie stehe im Verdacht sich mit Covid-19 angesteckt zu haben. Sie hatte gestern den Test gemacht, nachdem sie enormes Fieber bekommen hatte und einen Schüttelfrost, dass sie schon geglaubt hatte, dass es mir ihr zu Ende geht. Der Arzt meinte zu ihr, es könnte auch eine Grippe sein. Sie war ein paar Tage zuvor auf einer kleinen Vernissage, Freiluft, kaum mehr als 80 Leute, sagt sie. Sie trug eine Maske und hat niemanden umarmt, sagt sie. Von den Leuten, die mit ihr dort waren, sind mittlerweile alle acht positiv getestet worden, sagt sie. Nach der Vernissage waren sie noch zusammen essen, auch dort waren die Fenster auf.

Das Gespräch hat mich ziemlich mitgenommen. Auf dem Weg zum Tel-Aviv-Platz kam ich an dem italienischen Restaurant dort vorbei. Eine Großfamilie feierte Kommunion. «Tanti Auguri» stand auf der Schiefertafel. Drinnen saßen 50 Menschen oder mehr, viele Greise, alle dicht gedrängt. Die Mädchen mit weißen Schleiern und Kerzen. Ich sage alles ab.

Am Abend schickte die Freundin mit eine SMS: «Positiv.» Anbei ein Screenshot von der Seite, über die ihr das Testergebnis mitgeteilt wurde. «Sieht aus, als hätte man etwas gewonnen», schreibt sie.

18.9.2020

Die Amseln sind zurück aus ihren Waldferien. Neulich, bei den Eltern hat mich schon eine Henne aus ihrem Versteck im Lorbeergebüsch sanft geschimpft, vermutlich weil ich mich zu lange in der Nähe ihrer Wohnung im Kornelkirschenstrauch aufhielt. Sehen ließ sie sich dabei nie über die Tage. Aber heute früh sprang hier ein Hahn auf unseren Weg. Ganz makellos geschwärzt nach der Mauser. Auf Glanz poliert. Der Schnabel makellos, blitzsauber orange, wie ich es mir als Bild in Erinnerung behalten hatte.
Wir kamen vom Frühstück. Endlich war Gelegenheit, Friederike den Tel-Aviv-Platz zu zeigen. Dass sie in schaute. In all seiner Pracht. Ich spürte eine kleine Nervenanspannung, gerade so, als müsste ich ihr etwas von höherer Bedeutung präsentieren und sie wäre darin befugt, mich durch diese Präsentation zu beurteilen. Eine Frau, von Kopf bis zu den Füßen in schwarzen Ciffon gehüllt, auch das gesamte Gesicht, schob einen Kinderwagen vorüber. Eine derart komplette Verschleierung der Person hatte ich zuvor noch nicht einmal in Zürich gesehen. Eine Frau wie ein Schatten. Wie die Seelenesser in einer Rowling-Verfilmung.
Und daraufhin, später: die Amsel. Anmutig. Alle Vögel sind kostbar, aber dieser ist mir am kostbarsten.

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