»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

24.12.2020

Die Nacht «ein Meer von Dunkelheit» mit zahllos vielen Lichtern auf ihren Wellen. Mit all seinen Tagen blickt das Jahr zurück: Wie war ich? Es ging, erstaunlich, gut. Und schief geht nur, was auch schiefgehen kann. Vielleicht war ja die Konstellation aus Hegel-, Hölderlin- und Beethoven-Jahr zu ambitioniert. Aber mit dem Ablauf des kalendarischen Jahres treten wir nach Ansicht des astronomisch-astrologischen Komplex‘ in die Ära des Wassermannes ein. Zudem beginnt das Proust-Jahr. Sogar ein Flaubert-Jahr wäre denkbar. Auf jeden Fall wird es epic. Zudem der Frühling wie eh und je im Zeichen der Amsel steht.

Das Tagebuch des Jahres 2021 hat den Titel Schäumende Tage. Es wird ab dem 1.1. auf einer eigens dafür geschaffenen Seite erscheinen, deren Adresse so lautet wie ich heiße (joachimbessing.com).

23.12.2020

Bei geöffneten Fenstern zum Klang des warmen Regens eingeschlafen. Wenig später, vermutlich nach dem üblichen Intervall von anderthalb Stunden, erwacht vom inzwischen stark angeschwollenen Geschehen; in der Dunkelheit: dort fiel Tropfen neben Tropfen, a wall of sound. Und wieder einen Intervall später, vielleicht auch zwei, wachte ich auf, weil es jetzt still geworden war. So still, wie es nur nach dem Regen still wird. Ich konnte mich, hörend, in die Stille hineinbegeben wie in die unendlich verzweigten Gänge eines komplexen Muschelgehäuses. Ich lauschte der Stille der Stadt, die vollkommen war. Dann ein Geräusch, wie ich es noch nie zuvor vernommen. Lange, sehr lange brauchte ich für die Rekonstruktion, was sein Verursacher — da schon längst: gewesen war. Ein Fahrzeug mit elektrischem Antrieb glitt durch die wechselseitig entstandenen Pfützen. Allein sie, das Herausplatschen ihres Wassers war laut geworden. Entfernte sich zügig, dabei gemächlich. Behaglich blaues Glosen der Instrumentenbeleuchtung. Heads-Up-Display. Sänfte durch die Nacht.

Ob es im nächsten Jahr noch einmal so viel neuartige und dabei schöne Musik zu entdecken geben wird, wie im Jahrzehnt zuvor, 2011, als Ingo mir an einigem einzigen Sommertag Washed Out und Nicolas Jaar nahebringen konnte und Com Truise und Dj Screw und Picture Plane und Balam Acab. The world that summer…

22.12.2020

Der Film von Thomas Vinterberg ist ein Meisterwerk. Fürchterlich, wie ähnlich sie sich sehen: Oliver Masucci und Mads Mikkelsen. Ich kann mich an einen Abend erinnern, in Stuttgart—West, nehme ich an—und im Hintergrund lief «Fast Car». Und ich fragte Tim

Und er sagte «Vernon Reid», Du musst Dir Vernon Reid anhören… Jim’o Rourke kannten wir damals beide noch nicht. Und ich sagte: Tim.

I’ve got a feeling that I’ll be someone—

Aber, nein. Ich fragte ihn nicht.

21.12.2020

Am Nachmittag, heimgekehrt von einem weniger kalten, dafür feuchten Spaziergang im Stadtwald und nachher noch Toddies unter freiem Himmel in der Grossarthschen Permakultur, die natürlich nur einen reichlich abgewirtschafteten Eindruck noch machen konnte: A Live lived (über Philip Guston). Ein wunderbarer Film, man sieht ihn auch malen; gezeigt wird sein Haus, ein Traumhaus für mich, und darin seine Gemälde und Zeichnungen aufgeschlagener Bücher… Obwohl Malerei und Schreiben sich so nahe sind wie sonst keine zwei, bleiben Filme über Schriftsteller echt unbefriedigend. Die Anekdoten dürften indes identisch sein. PG erzählt, wie er nach einem Tag im Atelier, als sich ihm endlich das Gemälde offenbarte, dessen Bett er seit Stunden und Tagen bearbeitet hatte, selig und erfüllt von seinem Durchbruch noch in die Bar ging, wo ihn ein Malerfreund ansprach: «Great Strokes?» Es war ihm wohl anzusehen. An der Nasenspitze, am Glanz, dem christlichen Funkeln. New York City in den neunzehnhundertsechziger Jahren a.D.

20.12.2020

Arroganz hat die Eigenschaft, sich selbst in verschriftlichter Form noch am Leben zu halten. Mit Arthur Jaffa habe ich nur zweimal am Telefon gesprochen, aber als ich gestern einen langen Text las, den der New Yorker hat, war meine Erinnerung an seine schroffe, zugleich maulfaule Art (interessanter Gegensatz zum foul mouthed im Englischen btw) beinahe körperlich da; mehrfach musste ich das Heft sinken lassen, um Stärke zu fassen, damit ich mein Rad weiterrollen konnte durch seinen Text.

Damals, es war in den letzten Tagen von Interview, die Schweizer schon längst von Bord, hatte der Doge von Moabit sich zur Idee einer «Black Issue» inspirieren lassen. Rassismus war da gerade groß in Mode gekommen, aber anders als früher, natürlich, und im Schwarzen Heft sollten sämtliche Leute, über die geschrieben würde, mit dunkler Hautfarbe ausgestattet sein. Die Zusammenstellung dieser Töne von der dunklen Palette war vom Dogen an eine junge Kunstsammlerin übertragen worden (das war der zweite Megatrend neben Blackness: Curated by). Ungewöhnlich war hingegen die Idee des Dogen, dass diese Frau, eine Weiße übrigens, auch die Gespräche mit den von ihr ausgewählten Schwarzen selbst führen sollte. Allein das Abtippen der Bänder, so der Plan des Dogen, obläge dann mir. Gerne übernahm ich im Zuge dessen auch die Anbahnung des Gespräches selbst und auf diese Weise kam ich zu meinen Telefongesprächen mit Arthur Jaffa, während derer ich anfänglich irritiert war ob seiner Lustlosigkeit, bald selbst abgeturnt von seiner Arroganz. Beim Abtippen der Bänder kam ich aber dann auch dort an eine Stelle, wo er zur jungen Sammlerin jenen Satz sagte, den er auch mir gegenüber zweimal vorgebracht hatte: «I’m not talking to you. I talk to black people.»
In dem Gespräch für den New Yorker jetzt, das Calvin Tomkins geführt hat, sagt Jaffa zum Abschluss noch einmal seinen Satz, aber dieses Mal führt er ihn aus: «I’m super-pleased when white people like my work, or are interested in it, or provoked by it. But I’m talking to Black people, not to everybody. I’m certainly not trying to talk to white people, and I don’t think it serves white people to be spoken to. It makes them feel like they’re the center of the universe, in a way that is profoundly problematic. In Eric Clapton’s ‘Layla,’ which I think is the greatest hard-rock love song ever, he’s not singing to everybody. He’s singing to Pattie Boyd. He fell in love with his best friend’s wife, and he’s singing to her. And everybody else is listening in.»
Die Message ist Love.

19.12.2020

In meiner Ausgabe des Charlie Brown Dictionary aus dem Jahr 1974 fällt der Eintrag «Christmas» relativ enttäuschend aus. Der Fernsehfilm A Charlie Brown Christmas wurde schon 1965 zum ersten Mal gezeigt aber besagter Eintrag wurde eben nicht mit einem Bild des schütteren Weihnachtsbaumes aus dem Film illustriert, sondern — schnöderweise: gar nicht; es ist sogar einer der ganz wenigen Einträge in diesem an Einträgen nun wirklich nicht armen Wörterbuch, der ohne eine Zeichnung bestehen muss. Das Filmbäumle von Charlie Brown ist mein Ideal eines Weihnachtsbaumes seit vielen Jahren. Heute haben wir sein Pendant in der Wirklichkeit (bei Rewe) gefunden, gekauft und mit nach Hause getragen.

18.12.2020

Am dritten Tag in Folge zeigt das Telefon eine Nebelwarnung. Das Symbol dafür besteht aus vier parallel übereinander angeordneten Linien, die in sich leicht gewellt erscheinen (Unknown Pleasures). Ich mag den Anblick des Symbols auf meinem Bildschirmchen lieber als den tatsächlichen Nebel draußen vor der Tür. Obwohl, gestern waren dort die oberen Stockwerke der höchsten Häuser vom Nebel verborgen, sie ragten bis in die undurchsichtige Schicht. Der Übergang dorthinein, das lässt sich an den Fassaden studieren, währt nur wenige Meter. Die Fenster darunter zeigen noch alles, die darübergelegenen nichts mehr.
Ich frage mich, ob man noch alles so machen würde, wie man es macht, wenn man andauernd dabei gefilmt würde. Beziehungsweise frage ich mich, ob es jetzt vielleicht einige gibt, die es stört, dass sie nicht mehr gesehen werden, beobachtet — auch nicht im Vorübergehen — von anderen, während sie genau das selbe tun, das sie schon immer getan haben; ob die Arbeit von ihnen jetzt als belastend empfunden wird, weil sie, die Arbeit selbst jetzt in den Mittelpunkt gerückt wurde und nicht mehr die Darstellung des Arbeitens, weil dabei niemand mehr zuschauen kann.
Gestern war ich Reis kaufen. Ich kaufe Reis nicht im Supermarkt, weil ich davon überzeugt bin, dass ich das exotische Getreide bei einem Fachhändler kaufen sollte, der sich damit auskennt. Obwohl ich schon sehr lange Reis zubereite, esse und auch serviere, bin ich mit dieser Strategie für Reisbeschaffung stets gut gefahren. In Frankfurt kaufe ich Reis bei einem Inder. In Indien wird viel Reis gegessen, auf die Auswahl eines Inders ist meiner Ansicht nach Verlass. Nicht unbedingt im Gegenteil, aber schon anders als bei Asiaten aus Korea oder China, in deren Küche der Reis eine nachgeordnete Rolle spielt. Reis wird hier häufig als Sättigungsbeilage aufgetragen, ja es gilt geradezu als unfein, sich zuviel vom Reis aufzuhäufen (vergleichbar hier bei uns Adorno mit seinem Fimmel, auf jedem Teller ein Restle liegenzulassen «die Neige nicht zu trinken, um sich nicht der Armut verdächtig zu machen»). Unter Indern hingegen, gleichwie gestellt, wird Reis an sich als Delikatesse gerühmt. Da zeigt sich der persische Einfluss. Auf dem Weg zu dem indischen Supermarkt komme ich auch an einem persischen vorbei, der sicherlich auch eine vertrauenswürdige Reis-Range zu bieten hat, aber vor seiner Eingangstür lungern die dubiosesten Gestalten aus Afrika herum, lauter Männer, alles Dealmaker, die auf ein Geschäftle hoffen. Von daher bleibt es leider bei meiner trockenen Sympathie. Drogensüchtige und -dealer kennen übrigens, das fiel mir gestern ein, keinerlei Weihnachten. Selbst die Getauften unter ihnen nicht. Und gerade in Afrika wird ja auch heute noch viel und breit getauft. Aber für sie bleibt jeder Tag gleich. Er wird bestimmt vom Kreislauf des Drogenhandels, der wiederum von der Droge selbst angetrieben wird: wie rasch sie sich abbauen lässt in den Systemen. Wie häufig einer nachlegen muss, um nicht durchzudrehen.

Der Reis, den ich neulich für uns endeckt habe, hat extra lange Körner. Das wurde zwar auf der Packung schon so angekündigt, aber sie war halt auch undurchsichtig, aus einem metallisch grünen Material. Daheim aber: Tatsächlich. Beinahe so lang wie die Hälfte meines kleinen Fingers. Duftend und weiß.

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