Im A&O Backpackers

Erzählung
zuerst erschienen 2002 in Frankfurter Allgemeine Zeitung

Und du, wo schläfst du, heute, allein, von der Neige deiner Geldreste, nach dem endgültigen Ins-Schloss-Rasten deiner ehemals Wohnungstür? Bist du jetzt nicht genauso arm wie auch frei, so: aufrecht und allein, nur noch das Gewicht deiner Welt auf dem Rücken? (Das bist du gewohnt und hältst es gut aus)

Und wo treffen sich, wo schlafen die, die genauso allein, so frei, so arm sind wie du? Auf der Straße nicht, aber im Hotel auch nicht. Nicht unter Brücken oder im Windschatten der Parks. A&O Backpackers, das Hostel in Friedrichshain, Boxhagener Straße sagt über sich in der dritten Person: It’s not a hotel, it’s a state of mind.

Du sagst: Es paßt zu mir, dem zeitgenössischen Wanderer, nein: Vagabunden! Ich brauche ja keinen Schrank oder Tisch, die Stadt ist mir schon möbliert genug. Schlafen will ich, nur schlafen und mich waschen. Mit nichts weiter reise ich, als dem Gewicht meiner Welt.

Ein dänischer Bus parkt im Hof neben dem einstockigen Bau für Rezeption und Cafeteria. Am Empfangstresen neben Kühlschrank und Chipsregal wundern sich zwei belgische Paare mitte vierzig, warum sie ihre Übernachtung im Voraus bezahlen sollen(A&O akzeptieren Mastercard und Visa) 11 Euro kostet ein Bett im Achtmannzimmer ohne Frühstück. Bettwäsche geht extra. Die Schränke können mit Vorhängeschlössern verhängt werden.

Der Weg vom Rezeptionsbau zum Schlaftrakt führt unter freiem Himmel über den Hof. Es riecht nach Lack. Die Zimmertür öffnet sich, wie im Hotel, nach dem Durchziehen einer Codekarte, das Deckenlicht ist an, eine Frau schläft, ihr Haar zwischen Decke und Kissen, ein Mann stellt einen großen Wecker und schaut nicht auf.

Es ist mehr ein Zurückschrecken denn ein Zögern oder Innehalten. Der Mann  mit dem Wecker ist, wie vorhin schon die belgischen Paare an der Rezeption, weit über zwanzig. Etwa noch einmal so weit. Wo sind hier die jungen Menschen und Schläfer? Woran erkennt man Backpacking; woran Obdachlosigkeit?

Die Zimmer sind so (auch: eingerichtet), dass man bei ihrem Verlassen alles vergisst; als könne man das Zimmer mit dem Zuziehen seiner Tür wieder verschwinden lassen. Vielleicht ist da noch eine vage Erinnerung an die Wände, das Neonlicht.

Der Uringeruch in den Gängen und Waschräumen liegt so hineingehaucht, so selbstbewußt in der Luft -  unwillkürlich wird an den Fingerspitzen gerochen, nachdem man eine Tür aufgestoßen hat. Die Kondome heißen „Naturform“. Jemand schreit wie am Spieß.

Und schon ist es, als klette sich gerade Gramm für Gramm die übrige Welt an die deinige dran. Als liefe ein Film über ballastabwerfende Ballonfahrer noch einmal, aber dieses Mal rückwärts, ab. Aus solchen Gedanken hilft dem zeitgenössischen Wanderer oder Vagabunden nur seine  Gedankenflucht. Hingerissen, herunter vom Ast, auf den du dich noch lachend setzen wolltest: Wo bitte gibt es hier einen Stuhl?

In der Cafeteria: Das aus den Toilettenvorräumen der Konzerthallen bekannte Trompe l’oeuil des in Placken abplatzenden Wandputzes, unter dem so die Backsteine eines „Mauerwerks“ sichtbar werden… Im Tresenbereich entsteht gerade ein Wandpanorama. Und es ist noch einmal die aus den Billardhallen bekannte Pastiche der „Nighthawks“ von Edward Hopper: Vor einem moosgrünen Fries ist in Bleistift die zechende (oder auch bloß schauende) Gesellschaft skizziert. Der Präsident der Vereinigten Staaten, Osama Bin Laden und Ophra Winfrey sind bereits farbig ausgeführt.

Die ansonsten in Fleischfarben gestrichenen Wände der Cafeteria – vor drei Jahren gab es hier um die Ecke am Gärtnerplatz noch das Restaurant Tomate. Dem bei Witzigmann in München geschulten  Besitzer hatten die An“wohner“ so lange und immer wieder Motorenöl über die Travertinstufen seines Restaurants gekippt, bis er, traurig geworden, das Stadtviertel verlassen mußte.

An der Litfaßsäule: Plakate für die Tap Dogs, Melissa Etheridge, Lord of the Dance. Ein halber Liter Jever kostet zweisechzig.

Die Gäste der Herberge sitzen an den spanischen Tischen und diskutieren leise das Quiz im TV. Alufolie wird von den außer Haus gekauften Mahlzeiten gekrempelt.

Die belgischen Paare werden die Cafeteria nicht mehr betreten. Auch die bekannten Zimmergenossen, die Schlafende und der Mann mit dem Wecker tauchen nicht auf. Die Runde der sich mit Weizenbier betrinkenden Kanadierinnen (überwiegend mit Zahnspangen, wie als Ordenszeichen) löst sich schon bald nach dem Ende der Quizsendung auf. Aus den Übrigen, den Essenden, werden Trinkende, dann Schweigende, ins Spiel mit Bierdeckeln und Aschenbechern Vertiefte.

Der Fahrsimulator „Scud Race“ durchbricht die Gedanken der Sitzenden mit seinem Lärm. Dann wieder:

„Gescheuerte Kiefer. Die Möbel in der Cafeteria sind aus gescheuerter Kiefer (oder Tanne)“

„…Pinie?“

Der unermüdliche Fernseher auf dem Schwenkarm in der Ecke des Raumes.

Die „irgendwie“ melierten Böden, deren Muster sich wiederfinden läßt im Kiesbelag des Hofes zur Stunde des Zwielichts, in der sich tatsächlich zweierlei Licht mischen wird: Das von der bald aufgehenden Sonne, in blau und grau und das aus den Fensterbögen der Herberge, von den Zimmerdecken dort, das nicht minder kalte. Kein Mensch ist dort oben zu sehen. Nicht einmal ein Schatten. Kein Hahn kräht nach so einer Nacht. Nie wieder.