Lovetrain

Essay
zuerst erschienen im Juli 2000 in der BZ am Sonntag

Herr Geisler betreut den Lovetrain aus München jetzt schon im neunten Jahr. Ein altersloser Herr, ein Eisenbahner aus innerstem Drang. Seine Tochter arbeitet auch bei der Bahn, ist sonst jedes Jahr dabei gewesen bei der Fahrt zur Loveparade nach Berlin, nur dieses Jahr fehlt sie, hat Urlaub genommen.

Herr Geisler liebt die Raver und ihre Parade. Er mag die Verkleidungen, die Schuhe aus buntem Fell, die Hüte und Brillen und besonders ihre Pfeifen. Mit diesen Trillerpfeifen, gestiftet von der Firma Alete, klingeln sie ihm in den Ohren. Herr Geisler lacht und macht mit: „Das muss hier so sein!“.

Meli ist 16 und steigt ein in Augsburg. Das Trillerpfeifen liebt sie, sie sagt: „Es ist ein Drang. Dann geht innerlich ein Stoß von mir weg. Ein Glückstoß. Ein Glücksgefühl pfeift man dann raus. Und damit grüßt man auch die anderen Raver“.

Zum Beispiel die Raver im Tanzwagen in der Mitte des Lovetrains, dort wo bei gewöhnlichen Zügen der Speisewagen hängt. Am Tresen steht DJ Louda von Radio Gong aus München und spielt Hardtrance. Der Rhythmus klingt wie das Würgen aus einem verstopften Kehlkopf, aber Glockengeräusche und Delphinstimmen bringen die gute Laune in Schwung. Der Zug fährt noch keine zwei Stunden, es ist kurz vor Mitternacht und noch siebeneinhalb Stunden bis Spandau, aber die Tänzer jubeln und trillern, als müssten sie gleich schon wieder nach Hause. Aber das müssen sie nicht. Das können sie auch nicht. Denn der Lovetrain rollt. Und wenn der Lovetrain rollt, dann hält er so schnell nicht mehr an.

Für manche der Raver ist das ein Privileg. Denn in Diskos dürften sie so spät überhaupt nicht mehr sein. Dazu wären sie zu jung, sind vierzehn erst oder fünfzehn. Manche von ihnen waren schon 1995 auf der Parade, also mit 10.

„Sagt mal, nehmt ihr Drogen, habt ihr schon was genommen?“

„Noch nicht“, sagt Sophia, 16, aus Augsburg „Bis jetzt nur Alkohol, Sekt. Aber wir haben es fest vor.“

„Was sucht ihr? Was wollt ihr nehmen?“

„Ecstasy“, sagt Meli mit der Trillerpfeife „Aber nur eine halbe.“

„Und wenn die nicht wirkt?“

„Dann warte ich, bis ich wieder normal bin – und nehme noch eine.“

Keiner kann so richtig schlafen im Lovetrain. Es gibt keine Betten, die Abteile sind überbelegt. Wer zu lange getanzt hat, dämmert im Gang auf dem Boden. Dann Ankommen in Berlin. Dann die Parade. Der Lovetrain fährt zurück nach München Sonntag früh, zehn vor Fünf.

„Wie halten die Raver das aus, zwei Tage ohne Schlaf und mit Tanzen?“

Dazu die Dame von Alete, dem Sponsor des Lovetrain: „Wahrscheinlich, weil sie alle gut drauf sind. Die sind ja alle so super gelaunt hier. Außerdem natürlich mit unserem Fruchtmus, das wir hier gratis verteilen. Da ist alles drin und es ist leicht zu handlen“.

„Was heißt das: ‚handlen‘?“

„Es geht gut runter. Lässt sich leicht essen.“

Als die Sonne dann aufgeht über dem Lovetrain, stampfen noch zehn Raver im Tanzwagen auf der Stelle zum Hardtrance. Sehr viele Fruchtmusbecher liegen zertreten am Boden. Die Tänzer haben ihre Sonnenbrillen auf und beschreiben mit den Händen die Delphingeräusche, die sie hören. Eine von ihnen setzt noch eine Brille auf und schreit begeistert, dass sie jetzt alles in 3D sehen könne. Das konnte sie auch schon vorher, das kann jeder Mensch, aber das hatte die rosahaarige Raverin gerade nur kurz vergessen.

Gedankensplitter:

„In der S-Bahn nach Pankow sehe ich die ersten Raver zur Siegesäule pilgern, es ist kurz vor acht, die Parade beginnt um 14 Uhr. Beim Aussteigen an der Wollankstraße sehe ich die Trinker vor der Molle, es ist kurz nach Acht. Vor der Molle ist jeden Tag Parade. So ist Berlin!“