Rot Rouge Red

Essay
zuerst erschienen in Numéro Berlin 05, AW 2018
Fassung des Autors
Versuch über eine Farbe.

Unter der Nummer 32 16 8 geht heute in München freilich niemand mehr an den Apparat. Der Anschluß hat vermutlich sogar noch nie existiert. Die Telephonnummer war fiktiv, Teil eines Liedtextes der Spider Murphy Gang in den achtziger Jahren, als Deutschland noch viel kleiner war, und die Hauptstadt war Bonn. Der Titel dieses Liedes war Skandal im Sperrbezirk.

Gibt es mittlerweile auch nicht mehr, den Münchner Sperrbezirk. Das war das Gegenteil eines Rotlichtviertels. Also ein Viertel, in dem die Prostitution verboten ist. Dass es soetwas gegeben hat, vor wenigen Jahrzehnten erst, ist heute kaum noch vorstellbar.

Zu dieser Zeit war die Farbe Rot noch etwas besonderes. Ging man beispielsweise am Abend durch eine Siedlung mit hohen Häusern, die natürlich viele Fenster, dahinter viele Wohnungen hatten, und man sah eines, in dem ein roter Schein den Raum erleuchtete, dann wußte man: dort arbeitet eine Prostituierte. Oder es waren Amateure am Werk. Also hatten zwei Geschlechtsverkehr. Das kannte man so aus den Filmen im Fernsehen. Wann immer sich zwei die Kleider ganz auszogen, knipste jemand die rote Glühbirne an. Oder das rote Licht wurde improvisiert hergestellt, in dem die Nachttischleuchte mit einem roten Seidentuch verhängt wurde. Rot aber hatte das Licht zu sein, man kann sich das im Nachhinein nicht mehr genau erklären, warum. Im roten Licht sieht man sich gegenseitig wie in Schwarzweiß. Das könnte also ein Grund sein, weil die Menschen zu jener Zeit ja noch von ihren Erinnerungsbildern her aus der Schwarzweißära kamen.  

Dann wußte man aber auch, dass Nachtclubs und Bordelle von innen her rot waren. Die Kinos übrigens auch, nicht nur die samtigen Sitze. Wenn jemand ein rotgestrichenes Schlafzimmer hatte, galt das als extrem gewagt. Der stand zu seinen Leidenschaften, und sein Schlafzimmer war nicht nur ein sogenanntes Schlafzimmer, dort trieb man es, wurde gevögelt, gebumst.

Das alles ist, wie gesagt, noch nicht allzu lange her, und schon kann man es sich nicht mehr vorstellen. Aber wenn man es erleben durfte, dann hat dieser Farbton dadurch eine Bedeutung erhalten, die sich nur ganz wenig abnutzt. Vergleichbar vielleicht mit jemandem aus dem Mittelalter, denn in der Hölle, das sagte man, ist es ja auch komplett rouge.

In dem Zusammenhang ist es freilich interessant, dass der Inbegriff der Sündigkeit in meiner Kindheit Paris war, und dort die sogenannte Moulin Rouge. Ein Freudenhaus, so hieß es immer, was zu jener Zeit schon nicht mehr stimmte, es war ja immer eine Art Theater gewesen, in dem das Publikum trinken konnte und essen, übrigens gar nicht mal schlecht. Aber warum hieß es nach einer Mühle?

Als noch viel gemahlen wurde, in jener Zeit als die Mehrzahl der Menschen Agrarwirtschaft treiben mußten, um sich zu ernähren, war der Müller eine sagenumwobene Gestalt. Man glaubte, er stünde mit dem Teufel im Bunde. Vor allem weil die Bauern sich häufig betrogen fühlten von ihrem Müller, der ihnen, manchmal wird es auch so gewesen sein, zu wenig Mehl zurückgab von den Säcken voll Getreide, die sie ihm gebracht hatten. Dadurch galten die Töchter des Müllers als verrufen. Der Müller verdiente sich sozusagen ein Zubrot mit dem Angebot, es mit seinen Töchtern zu treiben gegen Geld. Und das Quietschen der Betten in der Mühle und das Donnern des Mühlrades am rauschenden Bach, das Malmen der Mühlsteine brachte das Gebälk der Mühle, die oft an einsamen Orten aufgesucht werden mußte, zum Beben. Ein durch und durch unheimlicher, dabei doch unumgänglich wichtiger Ort. 

Wenn dann noch die Sonne unterging, färbte sich die Landschaft bis zum östlichen Horizont in rot ein. Der Osten ist rot, hat Holger Czukay von Can ein Album benannt, das nur wenig später nach dem Hit mit dem Sperrbezirk auf den Markt gekommen war. Damit war freilich auf eine gewisse Weise die politische Sphäre gemeint. Damals gab es ja noch die UDSSR und den Eisernen Vorhang. Die DDR war von einer Mauer umgeben und es herrschte Kalter Krieg. Die Erkennungsfarbe der kommunistischen Reiche war Rot. Man nannte sie Die Roten. Die Rote von Alfred Andersch, ein Roman aus den fünfziger Jahren, handelte aber auf extrem unpolitischer Weise von einer interessanten Frau.

Frauen und Rot: Das gehörte lange Zeit zusammen wie Butter und Brot. Frauen bemalten sich die Lippen mit rotem Lippenstift, das galt als das höchste der Gefühle, schmeckte aber abscheulich und schaut bis heute nur bei ganz wenigen Sonderfrauen gut aus. Frauen trugen auch mal rote Schuhe, sogar rote Kleider. Chris de Burgh hatte dazu ein Lied geschrieben, vielleicht hatte er Alfred Andersch gelesen, das hieß Lady in Red. Es war natürlich ganz schauderhaft, wie alles von Chris de Burgh bis hin zu seiner Frisur, aber für viele andere wurde dieses Lied zum höchsten der Gefühle und wann immer ein Mensch diese Platte auflegte, holte der andere schon mal das rotseidene Tuch aus dem Schrank.

Zur Not ging auch die Deutsche Flagge. Über die kann man beinahe nichts schönes sagen, weil die drei Farben wirklich nur aus tiefer Symbolik heraus als zueinander passend verstanden werden können. Das ist halt so und damit müssen wir leben. Aber der Mittelstreifen, mit dem man zur Not die Nachttischlampe verhängen könnte, ist von einem tiefen Rot. Ein röteres Rot kann man sich nicht vorstellen. Es ist das Rot schlechthin. Ein Bilderbuchrot. Interessant in dem Zusammenhang ist aber, dass es im wiedervereinigten Deutschland erst relativ sehr spät, nämlich kurz vor dem Anfang des neuen Jahrhunderts dazu kommen konnte, diesen Rotton zu vereinheitlichen. Weil erst nach einem Beschluß im Bundestag des Jahres 1999 ein Corporate Design der Bundesrepublik Deutschland entwickelt wurde. Seitdem ist dieses Rot nicht einfach nur irgendein Rot, sondern es wird gemäß der Vorschrift bezifferbar. Auf der Skala RAL heißt der Farbton 3020, bei Pantone 485. Lustigerweise heißt das »Verkehrsrot«.

Wer allerdings beim Anblick der Flagge in Wallung gerät, hegt Leidenschaften, die ich nicht mehr nachvollziehen kann. Mein Höhepunkt, gewissermaßen der Inbegriff des Erotischen an sich, stammt aus dem Film Paris Texas von Wim Wenders. Und darin hat er, für mich sogar noch besser als Nagisa Ōshima mit seiner schönen Strangulationsarie im roten Raum, diese Farbe zu einem superoptimalen Auslöser gemacht, wie es in der Entwicklungspsychologie so schön heißt. Da sitzt dann Nastassja Kinski in einem mit Silberfolie tapezierten Raum hinter Glas und sie hat einen herrlich flauschigen Pullover an, rot natürlich, der ein spektakuläres Decolletée hat. 

Das war für mich ein religionsstiftender Moment. Da ging es dann los mit dem Pop. Wird vor allem an dem Pullover gelegen haben.