Trans Europa Express

Reportage
zuerst erschienen 1998 im Studentenfanzine Academix

Unsere Kamera fällt aus einhundertzwanzigtausend Metern Höhe auf die Erde, auf Europa, auf Frankreich, auf Bordeaux. Dort, in Hüfthöhe über den heißen Pflastersteinen des Bahnhofsvorplatzes bleibt sie in der Luft hängen und dreht sich einmal um sich selbst. Nur wenige Einwohner der hübschen Stadt an der Garonne sind zu sehen, einige von ihnen dösen in der Mittagshitze unter den Markisen der Cafés, aus den Fenstern in den darübergelegenen Stockwerken hängen schlaffe Vorhänge. In der prallen Sonne, mitten auf dem Platz lagert eine Gruppe deutscher Inter-Railer auf den flachen Stufen eines säulenartigen Monuments. 

Die Kamera zoomt sich an die Sitzenden heran, sie trinken Sangria aus einer großen Flasche, die herumgereicht wird. 

Ein tragbarer Kassettenrekorder kommt jetzt groß ins Bild, eine Hand mit abgekauten Fingernägeln drückt auf die Play-Taste. Ein Stehbass spielt eine fröhliche Melodie, Fingeschnippen – es könnte ein Rockabilly-Stück sein, aber es ist von den „Ärzten“, es heißt „Du willst mich küssen“, so geht auch der Refrain und nach dieser Zeile kommt dann noch ein Halbsatz und den singen jetzt alle Sangria-Trinker mit und dieser Halbsatz heißt „mitten ins Gesicht“.

Es ist Sommer in Europa und die jungen Europäer reisen mit dem Inter-Rail-Ticket durch den Sommer, durch alle Länder aber am liebsten durch Frankreich und Spanien nach Portugal. Portugal ist ein armes Land, es gilt sogar als das Armenhaus Europas, wo neunjährige Kinder unter dem freien Himmel Ziegelsteine gießen und Schuhsolen machen aus alten Autoreifen, anstatt zur Schule zu gehen. Aber Portugal ist auch ein schönes Land, mit zwei sehr schönen Städten, Porto und Lissabon, mit frischem Fisch und eben Portwein und das alles für sehr wenig Geld, aber dazu kommen wir später.

In Bordeaux ist es jetzt ein wenig kühler, es ist früher Abend, so gegen 19 Uhr und der Platz füllt sich langsam mit den Einheimischen. Sie grüßen sich, halten ein Schwätzchen, rauchen filterlose Zigaretten. Die Treppenstufen am Monument sind leer, nur die Knuste eines Weißbrots und der leere Plastikbehälter eines Kräuterstreichkäses erinnern hier noch an den Besuch aus Deutschland. Im warmen Abendlicht wirft die Säule des Denkmals einen langen Schatten bis hinüber zum Bahnhof. Dorthin sind auch unsere Freunde von heute mittag verschwunden, denn nach sechs Stunden Aufenthalt ist es jetzt bald soweit –  ihr Anschlußzug nach Valensia in Spanien trifft ein. Sie haben ihre vollgestopften Rucksäcke mit den aufgerollten Iso-Matten aus der Aufbewahrung geholt, noch etwas Musik aus dem Rekorder gehört und jetzt steigen sie in den Zug, der viel zu kurz ist, und wegen der Ferienzeit auch vollbesetzt, vollgestopft ist mit Familien und anderen InterRailern. Aber es gibt hier keine lauten Begrüßungen, kein großes Hallo, denn sie kennen sich alle nicht, werden sich auf der nun folgenden Fahrt auch kaum kennenlernen können, denn alle sind sie hundemüde, aber es gibt leider nur noch Stehplätze. 

Mitten in der Nacht schauen wir dann noch einmal kurz in den fahrenden Zug hinein und passieren gemeinsam mit unseren Freunden die kurze Strecke über die Pyräneen. Zwei Kandier haben gerade entdeckt, daß man in der Seitenlage auf den schmalen Gepäckablageleisten aus Plexiglas schlafen kann. Auf dem klebrigen Gang unter ihnen liegen die InterRailer kreuz und quer herum. Manche haben sich in ihren Schlafsack gezwängt, manche nicht. Joints werden herumgereicht. Es riecht nach Marihuana, nach Schlaf und nach Menschen. Der spanische Schaffner beschaut sich schinkenbrotkauend dieses grünbeleuchtete Szenario und stakst dann kopfschüttelnd über die Liegenden in sein Personalabteil zurück. Den weinroten Plissee-Vorhang vor seinem Fenster zum Gang zieht er leise fluchend mit einem kräftigen Ruck zu.

Unsere Kamera schwebt wieder hoch über Europa. Überall winden sich dort unten Züge wie leuchtende Würmer durch die sternenklare Nacht. In jedem dieser Züge liegen InterRailer, sie nennen sich selbst Railer, das klingt wie Raver oder Waver, auf jeden Fall nach Jugend. Aber der Kodex der Railer hat weniger mit Musik zu tun und noch weniger mit Kleidung, denn ihre Ehre heißt Reisen. Und Reisen, das heißt für einen echten Railer irgendwie unterwegs sein, Kilometer herunterreißen. Der Rest ist egal, hauptsache es kostet nichts.

Es ist noch nicht einmal Mittag am nächsten Tag und in Valencia ist es schon unerträglich heiß, fast 40 Grad. Die Luft über den Gleisen des kleinen Bahnhofs ist ein ölig pulsierendes Gasgemisch und auf den Bahnsteigen ist niemand zu sehen. Hier hält der Zug unserer Freunde, hier müssen sie umsteigen, wenn sie nach Portugal wollen. Völlig übernächtigt steigen sie aus den Waggons, seit ihrer Abreise in Münster vor 26 Stunden haben sie sich nicht mehr geduscht. Ihre Haut klebt, in ihren Frisuren hängen Brösel. Sie tragen Sonnenbrillen und schauen sich um. Der Zug nach Porto, das finden sie bald auch ohne spanische Sprachkenntnisse heraus, ist ersatzlos gestrichen. Der nächste kommt erst heute abend, angeblich. Sie haben Hunger, die mitgeführten Vorräte sind schon lange aufgebraucht. Im Kiosk auf dem Bahnsteig gibt es frisch belegte Brote und Mineralwasser und auch Kaffee, aber sie beschließen lieber in kleinen Abordnungen ins Stadtzentrum auszuschwärmen, einen Supermarkt suchen, denn da kostet alles nur die Hälfte.

Wir begleiten die Verpflegungstrupps und sehen zwei unserer Freunde, die in einer Seitenstraße überfallen und ausgeraubt werden. Sie betreten eine Polizeistation um eine Anzeige zu erstatten, aber bei ihnen wird ein Butterfly-Messer (zum Dosenöffnen und Feuermachen) gefunden. Die Polizisten werden jetzt sehr unangenehm, denn Messer gelten in Spanien als illegale Waffen und der eine von ihnen muß in die Zelle, der andere darf zurück zum Bahnhof, um eine Kollekte für die Kaution durchzuführen.

Zur gleichen Zeit werden zwei andere von einem grauhaarigen Mann angesprochen und auf einen privaten Campingplatz gelockt. Um den Platz ist Stacheldraht, es gibt keine Zelte aber Hütten aus Pappe und Pferdedecken, aus denen laut Jimi Hendrix dröhnt und alle rauchen dort Heroin und schwangere Frauen wälzen sich in Krämpfen im Staub. Die beiden rauchen ein bißchen mit, ein kleines bißchen nur und verbringen dann ihren ganzen Urlaub dort.

Der Rest unseres Ferienfilms ist dann eine lange Montage aus Szenen von einem Zeltplatz an der portugiesischen Algarve, wo sich nachts alle um Lagerfeuer setzen und portugiesisches Bier trinken, Marke „Super Bock“. Wo eine hübsche Holländerin namens Nancy in ihrem Zelt jede Nacht einen anderen Railer empfängt und viele Herzen gebrochen werden und Telefonnumern ausgetauscht, die alle nicht stimmen.

Und eine zerfallene zugige Arena im Inneren des Landes, wo Peter Murphy, Sänger der Gothic-Rock-Gruppe „Bauhaus“ ein seltsames Solokonzert vor Railern und portugiesischen Transvestiten gibt und sich als Zugabe kreuzigen läßt, bei Fackelschein.

Und schlimme Bilder von der traditionellen und sehr preiswerten Besichtigungs- und Kostprobentour durch die Portweinkellereien von Porto. Es gibt davon nämlich unzählig viele, gute und sehr schlechte, und wer ohnmächtig wird oder aufgibt, weil er nicht mehr kann, wird von seinen Freunden nachts bei Ebbe im Schlafsack eingeschnürt an den Strand gelegt.     

Und von einer langen Rückfahrt nach Deutschland, vier Wochen später. Stunden im Zug, die wie der Morgen nach einem Rave sind – zunehmend grauer, zunehmend häßlicher und schuldbewußter und kurz vor Münster wird dann der ganze Zauber weg sein.