Ariane Sommer – Das geheime Tagebuch meiner Nächte
Freitag
Wenn mein Wecker klingelt, so gegen Sieben, bin ich längst auf. Ich habe eine Art eingebautes Ziffernblatt, ein inneres, das mir präzise anzeigt, wann ich aufstehen muß, um vor dem ersten Alarm im Bad zu sein.
Es stimmt ja nicht, daß jemand wie ich, der fast jede Nacht ausgeht – auf eine Party, einen Empfang, in ein Restaurant oder eine Bar – zwangsläufig ausschlafen muß bis Sonnenuntergang; ich bin kein Vampir oder so. Ich habe gelernt, jede Stunde zu nutzen. Sicher, sicher: ausgehen zehrt - arbeiten aber auch. Ich mache beides, und in beidem mußt du nur mögliche Ruhephasen erkennen und dich sofort daran anschließen. Wie sagte Joseph Beuys so schön?: „Ich ernähre mich durch Kräfteverschleiß“ – nur so!
Irrtum Nummer zwei: Wer jede Nacht ausgeht, sieht mit jedem Morgen schlimmer aus. Stimmt (in meinem Fall) einfach nicht. Ich muß mich auch nicht groß restaurieren oder Spuren verwischen: Ich dusche kalt, bügle mir die Haare, trage ein Two-in-One Makeup auf und plaxe zweimal – das wars dann auch schon. Während ich mir ein Kleid aussuche, trete ich den neuen Stepper, den mein Mann mir zum Valentinstag geschenkt hat. Mein Kleiderschrank ist ja nicht nur begehbar – er ist sogar drehbar: Die Kleider hängen in transparenten Hüllen an einem Motorkarussel, wie man es aus der chemischen Reinigung kennt, nur ist meines einen Tick kleiner. Habe ich dann alles beieinander, ist es viertel vor Acht und ich gehe aus dem Haus.
Meine Tage vergehen wie die aller anderen: Mit Telefonaten, Besprechungen, Arbeitsessen und Papierkram. Es wird schließlich wieder einmal 21 Uhr, als ich durch eine Schwingtür das Borchardts am Gendarmenmarkt betrete. Das Restaurant besuche ich unbegleitet. Heute bin ich allein, weil ich mir einmal in der Woche einen Abend für ein Selbstgespräch in guter Gesellschaft nehme. Bei gutem Essen und zur Hintergrundsmusik dieser Stadt – Gläsergeklimper, Tellergeklapper, Frauengelächter – genieße ich die Abgeschiedenheit meiner Sitznische aus wurstrotem Leder im hinteren Teil des Lokals.
Ich bestelle zehn Austern (ein Dutzend erscheint mir zu viel), Lammkoteletts mit einer doppelten Portion Pommes Frites, dazu etwas Ketchup und eine Flasche Tabasco. Nachtisch? Mal sehen. Ich feiere die Wiedergeburt des Kir Royal. Getränke können genausowenig aus der Mode kommen wie Menschen. Der Kir Royal ist quasi der Helmut Berger unter den Champagner Cocktails.
Ich muß an den vergangenen Nachmittag denken, an das Gespräch mit meinem Verleger wegen meines Buches, einer Benimmfibel für moderne Großstädter, das nun Ende März erscheinen soll. Eigentlich wollte ich nie ein Buch schreiben, und nun ist es da: ganze 240 Seiten dick. Zu den Lammkoteletts rühre ich Tabasco in die Schüssel mit Ketchup. Weil ich mehr davon brauche, als ein paar homöopathische Tropfen, habe ich vorher die Plastiknulpe des Pfeffersaftfläschchens mit der Austerngabel herausgepult. Nun suppt der scharfe Saft in Lachen heraus – zu rezent wird meine Eigenbautunke aber trotzdem nicht; das Ketchup schluckt in etwa eine dreiviertel Flasche, dann paßt es endlich vom Aroma her.
Es ist doch immer wieder unglaublich, was so alles in mich hineinpaßt! Nach Austern und Lamm habe ich immer noch Appetit. In meinem Magen ist noch eine winzige Lücke frei für mehrere Kugeln Fruchtsorbet und eine aromatisierte Crème Brulée. Roland, der Besitzer des Borchardts, rutscht zu mir in die Nische und will mir etwas Gutes tun. Bei ihm bestelle ich mir einen doppelten Espresso und dazu einen schmutzigen Witz, den ich aber schon während ich lache wieder verdränge. Meine Seele soll sauber bleiben. An einem Tische zur Straße werden Gäste fotografiert. Die Blitzlichter zucken quer über die Saaldecke bis zu mir herüber, aber ich bin gerade zu satt, um mich aufzurichten und nachzusehen, wer nun mit wem.
Ich winke schlaff aber bestimmt. Jemand hilft mir in den Mantel, ein Taxi wartet schon. Den Reichstag sehe ich durch angenehm Kir-farbene Schleier. Ich denke an mein Bett und den Kühlschrank daneben, einen Toploader, in dem meine Schokoladentäfelchen schlafen. Schokolade macht glücklich, mich jedenfalls.
Samstag
Vor ein paar Jahren dachte ich noch es sei ein Zeichen für das Altwerden, wenn jede deiner Nächte an einem Restauranttisch beginnt. Inzwischen sehe ich das anders: Ein Abendessen im Restaurant ist die Basis, ein Ende der Parabel (das andere ist mein Zuhause, das Bett) in deren Verlauf der ganze Wahnsinn des Nachtlebens einbeschrieben liegt. Stehe ich später dann irgendwo an einer Bar und alles schreit durcheinander, trägt komisch gefärbte Brillen oder steile Frisuren, lächle ich, lege eine Hand auf meinen flachen Bauch und atme leise ein – so höre ich in mich hinein, in mein Inneres, dort wo die Erinnerung schläft an den Tisch, die wachen Gespräche, das mildere Licht…
Heute sitze ich im Schell am Savigniplatz, an einem Tisch für zwölf Personen, die ich alle mehr oder weniger gut kenne. Mir gegenüber: der liebe Dr. Jürgen Griesbeck, ein Stammgast meiner Lieblingsdisko 90°, in der wir später noch landen werden. Griesbeck ist leider nicht in Hochform – in Singapur hatte er sich eine üble Grippe eingefangen, die er nun zwischen den Bissen mit großen Schlucken aus einem Schwenker voll Absolut Wodka herunterpegelt. Neben ihm einige namenlose Gesichter und am unteren Ende des Tisches der nette Marco, der bei Bonito in Köln arbeitet und sich dort um die Harald Schmidt Show kümmert.
Ich habe Linguine mit einem ganzen Hummer bestellt. Die normale Portion wird mit einem halben serviert, aber das Dutzend Austern zuvor hat mir etwas Appetit gemacht. Dazu trinke ich abwechselnd Cola-Light und große Apfelschorlen auf Eis. Dr. Griesbeck schwitzt – der Arme! Er mault, daß er wohl besser zu Hause geblieben wäre und versucht dabei – nicht ungeschickt – mit seiner Gabel einen Happen Hummer von meinem Tellerrand zu ziehen. Ich streiche ihm mitfühlend über den Oberarm und dränge dabei mit dem Messerrücken die feindliche Gabel dorthin zurück, wo sie hergekommen war. Marco macht einen Witz über den der ganze Tisch in Gelächter ausbricht. Ich war leider so in die Auswahl meines Desserts vertieft, daß ich nur noch die Pointe mitbekomme. Die Rheinländer haben schon einen unvergleichlichen Humor. Die Erdbeeren mit Sahne schmecken erstaunlich sommerlich, obwohl doch die Saison noch lange nicht begonnen hat.
Auf dem Weg ins 90° schaue ich noch schnell in der Paris Bar vorbei. Es ist proppenvoll – wie soll das nur erst werden, wenn Michel und Rainald im Nachbarhaus die zweite Paris Bar eröffnen? Die Schaufenster dort sind schon mit Abdeckplanen verhängt, es ist nur noch eine Frage von Wochen. Meanwhile in der Paris Bar I: Die Üblichen. Otto Sander, Rolf Eden - den Rest habe ich verdrängt. Ich setze mich an einen Tisch neben Michael Gaißmaier, aber bevor ich anfangen kann mit ihm zu reden, beugt sich ein Gesicht über meine Schulter an mein Ohr, spuckt erst etwas und haucht dann: „Sind Sie Ariane Sommer?“ Ich meine, was soll ich da sagen? Ja?, Nein? - Er möchte gerne ein Autogramm mit grünem Edding auf seine Krawatte (Stars and Stripes mit Freiheitsstatue - Polo Ralph Lauren wahrscheinlich), dann noch ein Foto mit seiner Cybershot von Sony und gibt mir zum Abschied seine Karte: „Dr. Deppe“. Er arbeitet bei der Treuhand. Daß es die noch gibt?… Dummerweise lasse ich seine Karte dann aber beim Bezahlen auf dem Trinkgeldteller liegen. Egal! Dr. Deppe weiß ja, wer ich bin.
Vor dem 90°: die Schlangen der Geduldigen. Ich gebe meinen Mantel nie ab, der Club ist für mich schließlich eine Art Wohnzimmer. Samstagabends wenigstens. Deshalb fallen mir dort auch weniger und weniger Details auf. Wer kommt denn schon abends in sein Wohnzimmer und schreit: „Hey! Wahnsinn, dieses Bild dort! Und dieses Sofa? So habe ich das ja noch nie gesehen!“? Eben. Genügsam schängele ich mich durch die Menge, an der Bar vorbei und ins Freie. Das geheizt ist von den Wärmestrahlern und wo man hinter roten Kordeln ganz gemütlich sitzen kann. In meiner Nische: Der witzige Marco von vorhin, Dr. Griesbeck natürlich, der hier seine Therapie fortsetzt und – endlich! – Mein Mann! Wie lange haben wir uns jetzt schon nicht mehr gesehen? Eine ganze Weile. Möglicherweise letzten Samstag. Ich kuschle mich in seine Armbeuge, nehme einen Schluck von seinem Cosmopolitan – meinem neuen Lieblingsdrink – und gebe, im Sitzen, einem Kamerateam von Pro Sieben ein kurzes Interview.
Ich freue mich auf mein Bett. Der Schokoladenkühlschrank bleibt heute zu. Männer machen glücklich, mich jedenfalls.
Sonntag
Es ist doch so: Ob Du nun getauft bist oder nicht – daß der Sonntag zur Entspannung gedacht wurde, das wirst Du dir niemals abtrainieren können. Ich vermute mal, daß dieser Ruhetag in einer Art genetischem Kalender programmiert ist. Deshalb habei ich mir seit neuestem einen Tick zugelegt, der mir trotz allem dreierlei möglich macht: Ausruhen, Training und Spaß (Ausgehen). Sonntagabends gehe ich Eislaufen.
Obwohl die Wilmersdorfer Eisbahn nur ein paar Querstraßen von meinem Haus entfernt liegt, schaffe ich es nie, vor halb sechs dort zu sein – Sonntag eben. Die letzte Laufzeit endet um Sechs. Jetzt ist Disziplin gefragt. Ich habe leichte Ausrüstung gepackt: Mein Lieblingspaar Schlittschuhe – weiß, aus weißem Kunstleder, ein koreanisches Modell; gebleichte Edwin-Jeans und einen hüftlangen Pelzmantel, den mir meine Mutter geschenkt hat. Das Umziehen dauert keine zehn Minuten, da bin ich geübt, bleiben volle zwanzig Minuten für mich und das Eis.
Eisbahnen sind ja dasselbe wie Auto-Scooter: Man rempelt sich andauernd mit wildfremden Menschen, und dazu läuft diese komische Ferienmusik. „Copacobana“ von Barry Manilow zum Beispiel, oder „Around the World“ von Daft Punk. Ich mache meinen Satz aufs Eis, das jetzt, im Flutlicht, dieses grüne Glühen bekommen hat und gleite davon. Mir ist nicht kalt, aber ich kann meinen Atem sehen. Wie jeden Sonntag denke ich in der Stille an meinen Lieblingsfilm „To Die For“ von Paul Verhoeven – diese Szene, in der Nicole Kidman unter einem zugefrorenen Teich treibt und die kleinen Mädchen drehen ihre Pirouetten über Nicoles Gesicht unter dem Eis. Eislaufen entspannt.Man hört endlich wieder einmal nur seinen Atem. Man keucht und schwitzt. Und bewegt sich trotzdem fast schwerelos, mühelos und elegant. So ähnlich muß es im Weltraum sein.
Vor den orangefarbenen Bürstenwagen hergetrieben, verlasse ich die Bahn. Im Umkleideraum riecht es nach Glücksschweiß, kleine Jungs reden auf ihre Mütter ein, die vor ihnen knien, um ihnen die Schlittschuhe abzuziehen. Ich denke an den Sportunterricht, früher im Internat. Und zum Glück bin ich jetzt noch mit zwei Freundinnen verabredet, die ich noch aus dieser Zeit, von Salem kenne. Allein, mit diesen nostalgischen Gefühlen im Bauch, hungrig nach Hause zu müssen, wäre nicht schön.
Wir treffen uns im Shima in der Schwäbischen Straße, Schöneberg. Das Lokal ist eine Mischung aus Restaurant und Wohnzimmer, mit großen Fenstern hinaus in dieses Viertel, in dem die schönsten Wohnhäuser stehen. Es ist also sehr wohnlich dort und damit das so bleibt, kann man an Wochentagen sein Mobiltelefon bei einem Aufpasser abgeben, der dann darauf wartet, das es klingelt, rangeht und ausrichtet, daß man gerade beim Essen ist.
Es ist aber Sonntag, noch sehr früh und das Shima ist beinhahe leer. Wir setzen uns in eine Ecke aus Tigerfellsofas und bestellen einige dieser Cosmopolitans. Die Mädchen reden auf mich ein, wir haben uns lange nicht gesehen und wir haben ja noch diese gemeinsame Zeit, an die wir uns immer erinnern können. Ich esse eine doppelte Portion Spareribs mit scharfer Sauce und dazu ein indisches Hefebrot, gefüllt mit Meeresbewohnern – Muscheln, Krabben, so diese Richtung.
Ganz zu Anfang, wenn du die ersten dreißig, vierzig Mal irgendwohin eingeladen wirst und denkst: Mann! Ist das jetzt festlich! Was hat die denn da an? Wer ist das denn noch mal schnell?, dann glaubst du ja wirklich, das es nichts aber auch gar nichts wichtigeres gibt auf der Welt als: Partys, Partys, Partys. Und vielleicht stimmt das auch. Zum Teil. Denn es stimmt eben auch, daß du dort deinen Platz finden mußt. Daß es nur darauf ankommst, was du dort suchst, und ob du es findest. Wenn es dir weiter Spaß machst, dann zieh dich gut an, schau glücklich aus und geh hin. Ich gehe hin. Immer wieder. Manchmal auch nicht - denn wenn du keine Lust hast, dann bleibe zuhaus. Du verpaßt nichts. Jedenfalls nicht dort, wo deine Freunde nicht sind.
Freunde machen mich glücklich. In jedem Fall.