Es ist heute schon Morgen

Essay
zuerst erschienen 2005 in der NZZ am Sonntag

James Doohan, ein Kanadier, der jahrzehntelang den Ingenieur des Raumschiffes Enterprise gespielt hatte, starb mitte letzter Woche an den Folgen von Alzheimer und einer Lungenentzündung. Er verfügte, daß seine Asche im Weltraum verstreut werden soll. Als „Scotty“ war Doohan hauptsächlich für das Beamen zuständig gewesen – jene superschnelle Form des Reisens, bei der sich der Reisende quasi auflöst, um am Zielort wieder zusammengesetzt zu werden. Doch Doohans Asche kann niemand hinaufbeamen. Noch im fünften Jahre nach 2000 muß ein teurer Raketenflug seine kleine Urne ins Weltall transportieren. Mittlerweile ist es sogar unvorstellbar geworden, daß in zehn oder fünfzig Jahren so etwas wie Beamen möglich sein wird; daß 2020 dann endlich die Zukunft beginnt.  

  Zu meinem Geburtstag bekam ich in diesem Jahr einen flachen Gegenstand aus leichtem Metall. Wenn ich die kleine Taste an der Seite des seifenförmigen Gerätes betätige, entfaltet sich ein dreigelenkiger Arm, an dessen schmaler Spitze daraufhin ein intensiv blaues Licht erstrahlt. Das Gerät ist im Grunde nichts weiter als eine batteriebetriebene Leselampe, doch die majestätische Ruhe, in der sich der Leuchtarm entfaltet sowie die eigenartige Lichtfarbe lassen nicht nur mich an etwas ganz anderes, an etwas viel hochwertigeres denken. Läßt man die Leselampe beispielsweise in der U-Bahn sich auffalten, dann wird schon recht gestaunt: Ist es ein chirurgisches Instrument – ein Laserskalpell? Oder ist das gar eine Waffe? Und: Wird denn überhaupt gestaunt? Ist es vielmehr nicht so, daß sogar die Kinder bloß einen Moment lang hinzusehen brauchen, um zu registrieren: Ach so, eine batteriebetriebene Leselampe. Ganz nett. Aber langweilig.

Für mich, geboren anfangs der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, bedeuten die billigen aber effektvollen Spielereien unserer Zeit noch immer die Zukunft. Es ist seltsam, denn diese Zukunft ist ja längst meine Gegenwart. Doch in der Vergangenheit, als ich ein Kind war, da gab es eine Ära, in der hatte „Zukunft“ einen ganz eigentümlichen Klang. Zukunft war nichts unbegrenztes, sondern klar umrissen: Die Zukunft befand sich um das Jahr 2000 herum. Wie es dann aussehen würde auf der Welt um 2000, das wurde bereits gezeigt: Science-Fiction-Filme spielten damals noch nicht in der post-apokalyptischen Wüste, sondern entweder in von Glasröhren durchzogenen Großstädten (häufig bei Nacht) oder gleich in den Fernen des Weltraumes (auch dunkel) an Bord der von Glasröhren durchzogenen Schiffe. Innenräume und Kleidung, nicht selten auch Nahrungsmittel waren entweder in keimfreiem Weiß gehalten oder in dem edlen Schwarz eines Konzertflügels. Jeder Raum war zu einem öffentlichen Raum geworden, Männer wie Frauen waren in Overalls gekleidet, und dennoch gab es noch immer die Liebe; ein jeder führte eine Waffe mit sich, und dennoch wurde der Kampf um den großen Frieden geführt – und anscheinend mußte niemand mehr auf die Toilette.

Letzterer Umstand, möglicherweise in Verbindung mit der zu erwartenden Keimfreiheit des öffentlichen Raumes, ließ selbst romantisch gesinnte Mädchen von unserer um das Jahr 2000 herum gelegenen Zukunft träumen (den uniformen Overall nahmen sie billigend in Kauf). Männliche Vergangenheitsbewohner ersehnten sich die Laserwaffen und die Sportgleiter des tankstellenfreien Jahrtausends (der Overall erschien als ein Bonbon obenauf). Kurz: Die Phantasie, das alles stünde gleichsam schlüsselfertig mit dem Silvesterfest des Jahres 1999 bereit, sie war innerhalb meiner Generation allgegenwärtig. Jedenfalls für eine gewisse Zeit. Auf jeden Fall noch in den achtziger Jahren. Da verblieben, nach just überwundener Ölkrise, für Forschung und Technik noch gute zwanzig Jahre, um diese Zukunft bereitszustellen; ganz so genau wollte man es ja mit der Zukunftsankunft nicht nehmen wollen – 2001 war durch den Film Stanley Kubricks zu einer Jahreszahl mit ähnlich magischer Kraft geworden. 

Industrie und Einzelhandel allerdings konzentrierten sich mehrheitlich auf das suggestive 2000: Gab es von einem Auto keine nennenswerten Innovationen zu berichten, wies diese Zahlenfolge innerhalb seiner Typenbezeichnung darauf hin, um welch ein zukunftsreifes Fahrzeug es sich zu handeln schien. In Deutschland wurde später sogar die Bahnhofsblumenhandlungskette „Blume 2000“ gegründet. Staubsauger und andere Haushaltshilfen hießen inzwischen ebenso mit Beinamen 2000 wie Wimperntuschen, Unterhaltungselektronika, Kebap-Buden. Die Vordatierung des Alltäglichen nach der ersehnten Zukunft brachte frischen Wind in das Geschäft.  

Forschung und Technik indes schritten ungeachtet dieses Budenzaubers voran. Längst hatte man sich an den Heimcomputer gewöhnt. Die Modelle wurden billiger, dabei auch noch schöner, vor allem aber kleiner mit jedem Halbjahr. Auch daß inzwischen jedermann filmen konnte – mit ebenfalls beständig schöner, billiger und kleiner ausfallenden Kameras -, telefonieren ja sowieso: es sind diese Markteinführungen für PCs, DigiCams und Handys alle noch nicht so lange her, doch schafft man es sich überhaupt noch vorzustellen, wie das Leben zuvor ausgesehen hatte? Dieses Leben in einem öffentlichen Raum, das ganz ohne Displays, ohne telefonierende Digicams und fotographierende Handys, ganz ohne DSL, ja: selbst ohne Internet und dennoch irgendwie funktioniert haben soll? 

Und daraufhin gleich die noch schwerer zu beantwortende Frage: Was eigentlich soll denn eigentlich in Zukunft noch kommen? Woran werden wir erkennen können, daß die Zukunft endlich angebrochen ist? Diese Zukunft nämlich, von der wir in den Siebziger Jahren geglaubt hatten, sie käme um das Jahr 2000 herum, vielleicht ja schon ab 2001?

Denn sie soll endlich kommen. Der Tunnel der Jahre, durch den wir auf das verheißungsvoll klare Datum zugesteuert kamen, er hatte sich bereits am Ende der achtziger Jahre dunkler eingetönt. AIDS, das Killervirus, die Störfälle in den Kernkraftwerken, das Treibhausklima, Terroristen und der Hunger in der Dritten Welt: diese Gegenwart erschien als immer problematischer, wo sie doch eigentlich, von nur noch wenigen Kinderkrankheiten geheilt, alsbald zu dieser weißen, aseptischen, Overalltragenden Friedenszukunft sich verwandeln sollte. Aber dann ging das Jahr 2000 zuende und auch das nächste, 2001, neue, noch kleinere Videokameras, eingebaut in winzige Telefone kamen auf den Markt.Und  Fernsehgeräte, mittlerweise so flach wie Bücher aber mit zwanzigmal so viel Bildschirmfläche für ein beständig flacher werdendes Programm; in jedem Auto ist inzwischen mindestens ein Computer eingebaut, selbst in jene Karrossen, die von außen wie von innen wieder den Kutschen ähnlich zu sehen beginnen; mit reichlich Lederausstattung und Wurzelholz und Instrumenten wie auf spanischen Galeeren. 

Der Tunnel in die Zukunft, er scheint unheimlich lang noch voranzuführen – viele sind mittlerweile entmutigt, sie haben das Ziel aus den Augen verloren und verkünden den „Retro-Trend“. Die Wortschöpfung ist so wiedersprüchlich wie das Gefühl heutzutage, bereits in der Zukunft angekommen zu sein, die jedoch enttäuschenderweise ganz anders aussieht als gedacht und im Grunde in vielem der Vergangenheit noch viel zu ähnlich geblieben ist. Doch ein Unternehmen wie „Manufactum“, das mit seiner rückwärts orientierten Produktpalette mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr umzusetzen schafft, gibt der Behauptung eines „Umkehrtrends“ recht. So als müßten wir uns zuerst an den Beginn unseres Tunnels in die Zukunft zurückbewegen, um, dort angelangt, eine andere Röhre besteigen zu können. Denn die vor Jahrzehnten gewählte hat sich als zu lang, als zu dunkel herausgestellt – und ihr gläsernes Ende scheint noch längst nicht in Sicht.    

Das aseptische Weiß, die Form eines Raumschiffes und die Potenz einer Waffe besitzt gegenwärtig auf sich vereint nur der I-Pod, ein Gerät, das sich zigtausende Musikstücke merken kann und diese auf Kommando in einen winzigen Kopfhörer spielt. Der I-Pod selbst ist auch klein. In die Hosentasche gesteckt läßt er sich überallhin mitnehmen.