Es leuchten zwei Buchstaben über der Stadt
Später an diesem Tag wird die Sonne untergehen wie über jedem anderen Ort in Deutschland auch, die Dämmerung bringt mildere Farben ein in das Bild der Stadt Wolfsburg und die Dunkelheit läßt die eineinhalb Kilometer breite Klinkerfront des Volkswagenwerkes mit dem Horizont verschmelzen, an dem als Himmelskörper in weiß und blau das VW-Signet erscheint. Es ist zum Unstern geworden – und das seit Wochen. Seit der Korruptionsskandal aufgedeckt wurde, stimmt das Bild von Beständigkeit und Bescheidenheit nicht mehr, das Europas größter Autokonzern von sich geprägt hat. Lustreisen der Betriebsräte in Bordelle, während die Belegschaft bei vier-Tage-Woche und Lohnverzicht, dem Konzern das Leben leichter macht: Volkswagen, wie keine andere deutsche Firma auch ein Spiegelbild der Bundesrepublik zeigt sich urplötzlich als Staat im Staate – korrupt und seltsam ausgehöhlt. An der Namensgebung der VW-Modellpalette kann man heute die ganze Hybris des Unternehmens aufschlüsseln: Von dem harmlosen „Käfer“ über die exotischen Winde Scirocco und Passat, die damaligen Elitesportarten Golf, Derby und Polo bis hin zu dem Sonnenwagen Phaeton und einer Familienkutsche namens Sharan – so heißen Asphaltschwalben allenfalls in schwülen Pay-TV-Operetten. An den Geschicken des im Zwielicht stehenden Konzernes allerdings hängen weltweit 350000 Arbeitsplätze. Die Stadt Wolfsburg, die noch in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts aus nichts mehr denn ein paar Bauernkäffern bestand, verdankt VW gleich alles – ihren Wohlstand zum einen; eine eigentümliche Mischung aus Prunksucht und Belanglosigkeit aber zum anderen.
Wenn nämlich der Unstern aufgeht über dem dunklen Strom des Mittellandkanales, dann hat sich die Innenstadt, die im wesentlichen aus einer Fußgängerzone durch die Porschestraße besteht, längst entvölkert. Die jüngeren Wolfsburger versammeln sich auf dem Vorplatz einer mexikanischen Cocktailbar, dem Sausalitos – im Grunde ist das eine Schwemme, die Happy Hour beginnt um 17 Uhr, dann wummst Musik aus dem dunklen Gastraum und die Kellner schleppen die Mischgetränke in Halblitergläsern mit viel Obst und Eis und schwarzen Plastikhalmen heran. In einer Seitengasse der Porschestraße markiert eine hohe Pforte aus Beton den Eingang zu dem sogenannten Kaufhof, einer Kneipengasse, die so auch auf Ibiza zu finden ist und an jedem anderen Ferienort auch: Bude reiht sich an Bude, davor die Sitzgruppen, die Sonnenschirme, aus dem Inneren wummst jeweils eine andere Musik, und ob die eine Bude jetzt „Alt Berlin Anno 1910“ heißt oder „Sonderbar“ und „Wunderbar“ - es bleibt egal: die Gäste sind junge Wolfsburger, darunter mischen sich die Touristen.
Urlaub in Wolfsburg? Das klingt seltsam, es ist für viele Deutsche aber keine abwegige Idee. Für sehr viele Deutsche übrigens: Allein seit dem 5. Juni 2000 reisten 10 Millionen Bundesbürger hierher. Die meisten zwar nur für einen Tag, die Mehrzahl hängt noch eine Übernachtung dran, dieser eine Tag aber hat es dafür in sich, es ist nämlich der Tag, an dem sie ihrem fabrikneuen Volkswagen gegenübertreten. Um dieses Erlebnis noch zu vertiefen, wurde von dem Volkswagenkonzern eine Landschaft angelegt namens Autostadt, der Fußgänger erreicht sie vom Bahnhof aus über eine Brücke, die den Mittellandkanal überquert. Er muß nicht selbst hinübergehen, Fließbänder befördern ihn auf den Eingang zu. Und es eröffnet sich ihm eine Halle, die noch höher ist und um vieles weiter als der gigantomane ICE-Bahnhof von Kassel-Wilhelmshöhe. Über ihm schwebt jetzt ein skelletiertes Modell unseres Planeten im Maßstab eins zu einer Million. Der Boden zu seinen Füßen ist aus Glas und darunter befinden sich weitere Modelle unseres Planeten. Ansonsten ist die großflächig verglaste Halle leer. An dem einen Ende befindet sich das Modell eines Ticketschalters im Maßstab eins zu eins. In zweihundert Metern Entfernung stehen winzige Automaten, die Eintrittskarten einsaugen sollen. Der Fußgänger, längst schon empfindet er sich als ein Modell seiner selbst im Maßstab eins zu hundert, betritt daraufhin die Landschaft namens Autostadt. Das Grün des Rasens ist perfekt, alles schwingt sich sanft zu Hügeln auf, darin eingebettet wölben sich Bauten aus Aluminum und Glas, allesamt in den Farben, die Menschen Zukunft bedeuten. Aus den Lagunen schnalzen dicke Zierkarpfen.
Bei dem Autostadteigenen Ritz Carlton stehen die beiden Glastürme, in denen jeweils vierhundert fabrikneue Volkswagenmodelle gelagert werden. Die bunten Autos stapeln sich in den Türmen wie Kaubonbons in ihren Spendern. Das ist die Tagesration der Autostadt. An den Wochenenden braucht es die eineinhalbfache Füllung, um den Autoappetit zu befrieden. Es gibt einen Dufttunnel, ein langes röhrenförmiges Regal, das sich dreht und in dessen Stellagen hunderte von Blumentöpfen mit schwach duftenden Grünpflanzen befestigt sind. Am Ende des Tunnels wartet eine wunderschöne junge Frau unter einem cremefarbenen Sonnenschirm. Sie wartet auf die Frage, die ihr jeder stellt, der aus dem Dufttunnel tritt. Die Pflanzen in den Töpfen heißen Bergminze. Und sie weiß es auch nicht, weshalb kein Schild darauf hinweisen könne, sondern nur sie. Eben aus dem selben Grund, weshalb die Autos nicht einfach aus der Fertigungshalle auf ihre Besitzer zugerollt kommen, sondern zunächst einmal in gläsernen Türmen ausgestellt werden; weshalb es auch hinter dem Ritz Carlton einen Swimming Pool aus gebürstetem Stahl gibt, der nicht nur in dem schwarzen Wasser des Hafenbeckens schwimmt, sondern dessen Wasser auch unwirklich türkisfarben strahlt, da es sich nicht um gewöhnliches Chlorwasser handelt, sondern um ionisiertes, mit Sauerstoff gesättigtes: Es geht in der Autostadt nicht um Vernunft, auch nicht um Volkswagen, um Skoda oder Bentley, den Golf oder den Phaeton, es geht um ein Erlebnis. Dieses Erlebnis allerdings ist – 10 Millionen Besucher hin oder her – vor allem skuril. Der Effekt, nämlich das Paradies geschaut zu haben, in dem die bunten Autos wachsen, er bleibt natürlich aus, wenn man die Autostadt zu Fuß verläßt. Dann transportiert einen das Fließband mit sanftem Schub in Richtung einer tristen Grauzone, der eigentlichen Autostadt namens Wolfsburg. Zur rechten entsteht hier gerade ein weiteres Großbauwerk, der Physikerlebnispark Phaeno, von seiner Architektin Zaha Hadid als eine Art Gürteltier entworfen, in dessen Form etwa 20000 Tonnen Beton gegossen wurden. Wolfsburg, eine Stadt von 120000 Einwohnern besitzt weiterhin eine Volkswagenarena für die Fußballspiele, ein Hauptstadtfähiges Multiplexkino, ein Kunstmuseum mit ausgezeichneter Sammlung und am 24. November eröffnet in Kooperation mit der Stanford University eine sogenannte Auto-Uni. Die Schmuckstücke eines großstädtischen Lebens zieren eine ansonsten uncharmante Ansammlung von Gebäuden. Die Fußgängerzone besteht aus einem Sammelsurium von niedrigen Behelfsbauten und Pavillions. Gegen das Warenangebot läßt sich nichts einwenden, sicher wird man davon satt und friert auch nicht mehr, aber es ist doch alles etwas einfallslos. Fragt man die Wolfsburger, die übrigens sehr freundliche Menschen sind, wo man etwas anderes finden könnte, als das in der Porschestraße angebotene, wird nach einigem Überlegen verläßlich der außerhalb liegende Stadtteil Fallersleben genannt. Dort gibt es wohl auch einen Herrenausstatter. Das in der Porschestraße befindliche Geschäft des Nicolaus Schulz kann nur einfach gearteten Wünschen entgegenkommen. Daß Peter Hartz seine Kiton-Anzüge bei H.B. Möller in Hannover kauft, wird angesichts der Marktlage in Wolfsburg ebenso verständlich wie einige andere Bedürfnisse, die bei vermögenden VW-Mitarbeitern nach Feierabend zwar aufkeimen mögen, in Wolfsburg selbst aber kaum erfüllt werden können. So hat zwar das Ritz Carlton in der Autostadt mit dem Aqua ein hervorragendes Restaurant zu bieten. Dessen ausgezeichneter Küchenchef Sven Elverfeld muß allerdings schwer überlegen, welche kulinarischen Institutionen Wolfburgs er darüberhinaus empfehlen könnte. Sicher, es gibt ein italienisches Viertel an der Goethestraße – an der „Piazza Italia“ steht die Trattoria Incontri. Nach der guten Pizza, gelöst von einem kühlen Bier, bittet man den Wirt um die Rechnung und fragt im Zuge dessen verschwörerisch nach „einer eventuell liegengebliebenen“, einer für zwölf bis fünfzehn Personen vielleicht, mit ordentlich Barolo und teuren Schnäpsen drauf? Doch die gibt es hier nicht. Und die Piazza ist genau genommen auch kein Platz, weil mitten hindurch eine zweispurige Straße führt. In – natürlich – Fallersleben gibt es mit dem La Fontaine ein Sternerestaurant.
Die Suche nach einem Bordell führt ausnahmsweise nicht nach Fallersleben. Unter den reichlich vorhandenen Anzeigen in den drei Wolfsburger Tageszeitungen – den Nachrichten, der Allgemeinen und dem Kurier – erscheint eine sachlich formulierte Werbung für allerlei erotische Massagen als besonders ansprechend. Die Taxifahrt an den Erfurter Ring dauert keine 10 Minuten. Während dieser der Fahrer von sich aus auf das heikle Thema zu sprechen kommt: Die Korruptionsaffäre sorge in der Stadt (Wolfsburg) für große Verunsicherung. Wut. Volkert müsse umziehen. Bisher wohne er ja in Fallersleben, aber die Kinder – was denen in der Schule entgegenschlage, das sei grausam. Das ganze Leben in Wolfsburg sei an die Volkswagenwerke gekettet. Die Wolfsburger hätten Angst, unterzugehen. Er selbst ist Mitglied im portugiesischen Freundeskreis, einmal im Jahr gebe es das große Sardinenessen. Da seien Hartz und die anderen immer selbstverständlich dazugestoßen. Er habe Hartz gesagt: „Einfach nur dabeisitzen gibt es nicht. Da müssen vier, fünf Flaschen Vinho Verde auf den Tisch.“ Der Wein sei dann auch gekommen – nur bezahlt worden sei der nie.
Der Massagesalon am Erfurter Ring befindet sich in einem Reihenhauskomplex, auf dessen Fassade mit schwarzer Farbe gemalt steht „Haus Wolfsburg“. Die brünierten Rolläden sind heruntergelassen und der Weg zu der Einganstür führt über den Parkplatz einer Kraftsporthalle, dem „Sportcenter Wolfsburg“. Auf dem Rasenstreifen vor dem Lärmschutzwall zur Autobahn hoppeln ziemlich viele Kaninchen herum. Überall in Wolfsburg zeigen sich um diese Zeit die Kaninchen, was erstaunlich ist, denn an Rasenflächen mangelt es. Dafür gibt es viele Straßen, Wege, die Fußgängerzone, das Kino und – natürlich - den Kaufhof. In dessen Bars soeben die Lichter angehen. Es wird schon wieder dunkel.
Die Autostadt schließt um acht.