Das Glasglockenspiel – Wie erkläre ich das meinem Kind?

Erzählung
zuerst erschienen 2002 in Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das Glasglockenspiel

- wie erkläre ich das meinem Kind?

Ein Mann quält sich durch den Mauerpark, sein Kind auf den Schultern. Es ist Sonntagnachmittag und kalt, der Schneematsch fällt den beiden in dicken Klumpen entgegen. Wer hat den Schnee so warm gemacht? Steckt da schon was vom nächsten Sommer drin oder nur die Erinnerung an den letzten?

Die Stadt geht weiter: vorbei an den Schaufenstern eines neulich noch leerstehenden Ladengeschäfts. Hier zieht wieder etwas ein. Das Kind sagt dazu nichts. Der Mann sieht das scharfe Plissee eines grünen Vorhangs, drei Pakete Haferflocken unter einer Glasglocke und Konferenzraumlampen auf der Mitte jeder Wand. Es wird also eine Bar oder Galerie, ein Ort jedenfalls.

Das Kind stimmt ein Lied auf lalala an, das Flöte heißt. Am Taxistand, später, ist es zuende.

Das Museum kommt dem Kind gleich bekannt vor, und es will schnell hinein. Vor einer versteinerten Urzeitschnecke sitzt die Kassenfrau und nimmt für Erwachsene dreifünfzig. Es gibt ein Gästebuch. Die Mäntel können kostenlos abgegeben werden. Da hinten, im Keller:

Der blasige Abguß eines Felsbrockens hinter Stellwänden aus Glas ist kein blasiger Abguß eines Felsbrockens, sondern ein

Karstschlotten im Gips von Sperenberg

hinter Stellwänden aus Glas. Also nicht einmal wenig, sondern nichts, wonach es ihn fragen, was er erklären oder überhaupt kennen muß. Weiter unten stehen sie bald vor einer Garderobe. Und vor der Garderobenfrau hinter ihrem Tresen. Sie bewegt sich langsam, behutsam hin und her, als sei ihr das Garderobengestänge wie Gerippe aus dem Rücken gewachsen und seither müsse sie ständig Acht geben, nirgends hängenzubleiben. Die Mäntel des Mannes und seines Kindes hakt sie hinter sich fest und macht dabei Stielaugen nach seinem Notizbuch, dem russischen Schriftzug darauf. Sie verharrt, entlässt die beiden ohne Gruß, die Treppen hinauf, am Karstschlotten vorbei, in den ersten Saal.

Saurier, Urvögel

Es geht gut los. Das Kind sieht das Skelett und sagt: Gorilla. Der Mann hält es waagerecht über das verspiegelte Podest, auf dem die Saurierknochen festgeschraubt sind. Darin sieht sich nun das Kind und dazu über sich die Rippenbögen und noch weiter darüber den Abendhimmel durch die verglaste Saaldecke, und es lacht. Der Mann dreht es hin und her um seine Längsachse, wie ein kleines Flugzeug, und nebenbei liest er auf den Erklärungstafeln:

…das größte Brachiosaurusskelett, das in einem Museum der Welt zu sehen ist.

Oberschenkelknochen 2 Meter 09

Oberarmknochen 2 Meter 13

Schulterblattknochen 1 Meter 93

Kopfhöhe 11 Meter 72

Schulterhöhe 6 Meter

Hüfthöhe 4 Meter 80

13 Hals-, 11 Rücken-, 5 Kreuzbein- und 55 Schwanzwirbel.

Der Mann hört das Quietschen des Kindes, wie es von der Saaldecke zurückgeworfen wird. Das Kind lotet sein Echo aus. Im Hinausgehen liest der Mann noch diesen Satz:

Wie das große Aussterben vor sich ging. Der anschließende Saal heißt:

Evolution

Und ist vollgestellt mit Schaukästen aus Glas, in denen Insekten zu Stammbäumen gruppiert wurden. Das Kind läuft unter den Schaukästen durch und ist gerade dabei, den Raum zu verlassen, da ruft der Mann es zu sich. Eine Schautafel hat sein Interesse erregt. Das schwarzweiße Foto eines dünnen Schnauzbartträgers ist darauf zu sehen, der an einem Plastikbrummer herumschnitzt. Darunter eine Menge Text. Der Text erzählt das Leben des abgebildeten Modellbauers Alfred Keller, geboren 1902 als neuntes Kind eines Schneidermeisters aus Leipzig, der nach seiner Ausbildung zum Meisterschüler der Bildhauerei eine Karriere in der sächsischen Lehrmittelfirma Osterloh beginnt. Dort spezialisiert er sich auf Modelle von Blüten und menschlichen Organen, bevor er 1930 am Naturkundemuseum in der Invalidenstraße angestellt wird. Seine erste Arbeit am Museum wird das Modell eines Menschenflohs, seine letzte, 1953, Vergrößerung einer Buckelzikade. Zwei Jahre danach stirbt Alfred Keller. Neben den Insekten schuf Keller in seiner Freizeit eine Anzahl von Kleinplastiken und Portraitbüsten. Ein Großteil seiner Arbeiten ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Das Naturkundemuseum stellt zur Zeit zehn seiner Modelle aus.

Während der Mann dies zuende liest, ist das Kind zur gegenübergelegenen Wand gelaufen. Er findet es vor einem Glaskasten stehend, verträumt Kellers letztes Werk betrachtend.

Buckelzikade, 100fache Vergrößerung, 1953

Der Mann starrt ratlos auf das abstoßende Käfertier aus braun angemaltem Gips. Die Buckelzikade ist sehr haarig und kommt ihm irgendwie unnatürlich, ausgedacht vor – was natürlich auch an der immensen Vergrößerung liegen kann. Er liest: Der bizarr gestaltete Aufsatz auf dem vorderen Brustabschnitt ist bei ausgewachsenen Tieren hohl. Welchen Zweck er erfüllt, ist noch ungeklärt.

Schweigend gehen Mann und Kind jetzt von Glaskasten zu Glaskasten.

Menschenfloh, 100fache Vergrößerung, 1930

Das dreiteilige Stechborstenbündel bildet je eine Röhre für Speichel und Blut. Es wird in voller Länge in die Haut gebohrt.

Hausmückenweibchen in Flughaltung, 60fache Vergrößerung, 1937

Zwei der Stechborsten dienen zum Bohren, die übrigen bilden ein Rohrbündel, durch das gleichzeitig Speichel eingespritzt und Blut aufgesaugt werden kann.

„Hmm-Hmh: da kannst du mal sehen, wie die durch Hosen und sonstnochwas kommen.“

Der Mann hört aus dem Raum hinter ihm Stimmen; oder ist es das Echo der Stimmen direkt neben ihm?

„Ja, hmh, die trinkt Blut. Das schmeckt denen ganz lecker!“

Eier, Larve (Made) und Puppen der Stubenfliege, 50fache Vergrößerung, 1932

Mehlmotte mit Eiern, Larve und Puppe, 30fache Vergrößerung, 1939

Rote Gartenameise mit Ahornblattlaus, 100fache Vergrößerung, 1947 (ein identisches Modell von 1944 wurde durch Kriegseinwirkung zerstört)

„Was ist das?“ Die Stimme seines Kindes holt den Mann aus Kellerschen Welten zurück ans Licht. Er blinzelt mit korngroßen Augen, kann nichts Kindgerechtes entdecken an Alfred Kellers Meisterwerk in dem Glaskasten, vor dem sie beide stehen. Also liest er:

Die Ameise ‚betrillert’ mit ihren Fühlern vorsichtig den Hinterteil der Blattlaus, die daraufhin die stark zuckerhaltigen Flüssigkeit Honigtau aus ihrem hochgereckten After ausscheidet.

„Was ist das?“

„Eine Ameise.“

„Was macht die?“

„Die isst.“

„Wo?“

„Da: die Perle aus dem Popo.“

„Hat die Hunger?“

Der Mann dreht sich weg und folgt seinem Kind. Der letzte Satz auf der Erklärtafel war:

Arbeiterinnen sind zeitlebens flügellos.

Hand in Hand betreten sie nun schweigend den nächsten Saal.

 Kleiner Kiri, unsterblich!

Das Kind wird wie magnetisch von einem sehr großen Glaskasten, dem Mittelpunkt dieses Raumes angezogen. Hinter dem Glaskasten sitzen sechs Kinder vor einem TV-Gerät. Und im Glaskasten steht der

Babyelefant auf Sand mit sonnengelbem Hopsball, Originalgröße, 2002

Das Kind des Mannes hat wieder gute Laune und haut mit der flachen Hand gegen den Glaskasten. Die anderen Kinder sehen im TV einen Film darüber, womit man die Haut eines toten  Babyelefanten ausstopft (mit seinen eigenen Knochen, die mit Gips zusammengeklebt werden). Der Mann liest auf einer Pinnwand neben dem Bildschirm:

Kiri im Spiegel der Presse

Kiri, du kleiner Trompeter – Im Elefantenhimmel lernst du jetzt deinen Papa kennen!

Toter Elefant Kiri kommt ins Naturkundemuseum – Jungbulle wird ausgestopft/Tod vermutlich durch Herpesinfektion

Kleiner Kiri, unsterblich! – Nur noch wenige Wochen, dann bekommt unser toter Zooliebling ein Denkmal für die Ewigkeit

Sorgenkind Kiri – Schwierige Präparation: Haut des Toten Elefantenbabys ist eingelaufen!

Exklusiv! Geschafft: Kiri wurde das Fell über die Ohren gezogen

Primaten

Seltsam. Der Mann hatte bisher daran geglaubt, nein, er hatte es sich bisher so gedacht, dass sich seine Welt und die Welt seines Kindes streng voneinander unterscheiden. Er hatte sich immer gedacht, dass sein Kind die Dinge, aus der die Welt des Mannes besteht zwar sieht, aber je nach deren Geeignetsein und seinem Interesse entweder für wahr nimmt, fürchtet oder ignoriert. Als geheime Eselsbrücke hatte sich der Mann ein grobes Zwei-Weltensystem zur Ordnung aller Dinge zurechtgeschnitzt: Geeignet im Sinne von kindgerecht ist alles Große und Kuschelige. Oder Kleine und Kuschelige. Oder einfach nur Kleine, nur Bunte…

Je länger er vor dem Glaskasten mit dem Gorilla Bobby stehend sein kindgerechtes Welteinteilungsystem nachzuvollziehen versucht, desto löcheriger, geradezu nur aus einem eklatanten Loch bestehender kommt es ihm vor. Das Loch dehnt sich rasch nach hinten weg aus, wird zu einem Tunnel…

Nur groß, denkt der Mann schnell und klammert sich an diesem Gedanken fest, ist jedenfalls nicht gut.

Sein Kind hat inzwischen zwei gleichgroße Kinder gefunden, zwei Jungs, und lässt sich von denen durch den Primatensaal jagen. Ihr Glücksquieken hallt von den Wänden wieder. Der Mann sieht sein Kind auf sich zu laufen, die Jungs dicht hinter ihm her. Von weitem hört er es rufen: „Auf den Arm, Auf den Arm!“ Er packt es, lupft es, rettet es vor seinen Altersgenossen. Die ausgestopften Affen sind uninteressant. Auf zu den anderen Tieren, in den nächsten Raum.

Huftiere

Hier reißt dann die Theorie des Mannes von allen Seiten her ein wie der sprichwörtliche Nylonstrumpf, der zu lange Zeit als Kaffeefilter gebraucht wurde: Das Kind interessiert sich nämlich plötzlich aber ausschließlich für drei Tiere:

Nashorn (sehr groß, schlimm grau und definitiv nicht kuschelig)
Flußpferdfamilie (riesengroß, Lebertranfarben, kuschelig wie ein Stapel Badezimmerfliesen)
Erdferkel (zwar kindgerechte Größe aber räudig verstaubtes Borstenfell in Fußabtreterfarben plus gemeingefährlich aussehender Steckdosenrüssel)

Irgendwie geschafft, seiner Theorie beraubt und sprachlos beugt sich der Mann und nimmt die Hand seines Kindes. Läßt sich von ihm entführen, folgt ihm nach in die Lüfte.

Einheimische Vögel

Vorbei an den Schaufenstern namens Durchzügler / Wintergäste / Zugvögel / Seltene Gäste / Vom Aussterben bedroht / jagdbare Vögel. Aber endlich anhalten will das Kind erst bei: Vögel der Stadt.

Wo Hausrotschwanz, Amsel, Haustaube, Lachmöwe und Haussperlinge sich balgen, um den bunten Inhalt einer bis über ihren Rand hinaus befüllten Mülltonne aus Eternit und Stahl. Gezerrt wird also an Doppelkeksen, Cola- und Fantadosen, halben Wurststullen in Stanniol, leeren Schachteln Club-Menthol, Camel Filter, St. Moritz Menthol, Kim blau, einer Bananenschale mit Aufkleber von Del Monte, einer Welt Am Sonntag, einer TV Hören und Sehen. Unter der Tonne haben sich zwei Mäuse um einen bereits heruntergefallenen Doppelkeks versammelt. Eine dritte kriecht gerade aus ihrem Spalt hinter einem Regenrohr, aus dem eine gelbe Flüssigkeit leckt.

Dem Mann wird schwindlig, so viele Fragen fallen ihm zum gerade Gesehenen ein. Zum Glück des Mannes hat sein Kind keine Fragen an ihn. Noch nicht. Aber kommen sie in zwei Jahren oder später noch wieder, wird er ihm zur Antwort auf egal welche seiner Fragen diesen Absatz der Erklärtafel vorlesen:

Die Stadt bietet Vögeln nur wenig natürliche Ausstattung, dagegen viele technische Strukturen, Unruhe und künstliche Zusatzbeleuchtung. Trotzdem können hier einige Vogelarten immer oder zeitweilig leben. Warum?

Einheimische Säuger

„Schau mal: die Hasen!“

„Wo denn?“

„Na da!“

„Wo?“

„Da?“

„Tut das weh?“

„…—…“

Ausgerottet/Eingebürgert

Dem Nerz wurde das Bindeband durch die leeren Augen gezogen/Das Wildkaninchen, seit der Eiszeit ausgestorben, hat nur in Spanien überlebt. 1924 wurden dien ersten Kaninchen auf Hiddensee ausgesetzt. 1962 auf Helgoland.

Kriechtiere/Nagetiere

Der Mann wird sich noch oft erinnern an Ratte und Hausmaus. An den ekligen See mit dem Seefrosch und den Libellenlarven. Den schlimmen Tümpel mit dem Schlammpeitziger und der Sprungfeder, dem Altöl, einem zerbrochenem Krug. An Grasfrosch und Springfrosch. An Gelbbauchunke, Geburtshelferkröte, Rotbauchunke, Teichfrosch, Wechselkröte, Erdkröte.

Und der Mann wird schon im Taxi („Ist das ein Bustaxi?“) anfangen zu hoffen, dass sein Gedächtnis viel besser ist, als das seines Kindes. Dass sein Kind nicht so naiv ist wie er und nicht alles glaubt, was es sieht. Nicht daran glaubt, dass etwas stimmt und wirklich so ist, ein Teil dieser Welt und des Lebens, nur weil es dort oder irgendwo in einem Museum steht. Und unter Glas.