Chris Dercon, Museumsdirektor

Interview
zuerst erschienen 2005 in 032c

Mit welcher Epoche aus der Kunstgeschichte läßt sich unsere Zeit am ehesten vergleichen?

Das finde ich eine ganz interessante Frage. Aber ich bin hierbei einer Meinung - die von Bruno Latour oder Peter Sloterdijk ebenfalls vertreten wird: daß unsere Gegenwart so dicht, so verdichtet ist, daß es schwierig geworden ist, überhaupt noch über Gegenwart zu sprechen. Kunst der Gegenwart oder Kunst, die gerade noch gegenwärtig war? Oder die Kunst des 19. Jahrhunderts?, noch ältere Kunst? Ich glaube, daß die extreme Verdichtung von Gegenwart, wie wir sie erstmals erfahren können, zur gleichen Zeit eine Art von Beschleunigung und eine Art der Verlangsamung mit sich bringt - für mich ist es deshalb auch extrem schwierig geworden, die Vergangenheit von der Gegenwart noch unterscheiden zu können. Im Zusammenhang mit der aktuellen Kunst brauche ich beispielsweise die Photographie des 19. Jahrhunderts, weil diese Bilder für mich eine Antwort bedeuten auf die Digitalen Bilder unserer Zeit, die überhaupt keine Fotos sind und auch keine Dokumente. Die Verdichtung der Gegenwart verursacht eine Schwächung unseres traditionellen Zeitkonzeptes mit seiner Abgrenzung nach Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.

Bedeutet das, daß es dennoch eine Art von Zeitfilm gibt, der sich voran bewegt, gleichzeitig aber eine Art von persönlicher Geschwindigkeit, mit der man lebt, erlebt und wahrnimmt?

Ja. Die Verlangsamung, mit der wir heute leben, ist natürlich nicht eine Verlangsamung wie zum Beispiel wenn man sagt: „Schau, die alte Dame! Sie braucht drei Stunden, um den Ausstellungsparcours zu schaffen“ - das bedeutet Verlangsamung nicht. Verlangsamung ist gerade, daß es keine Trennung mehr gibt zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Leute wie Peter Burg mit seinem Buch „Augenzeugenschaft“ oder Didier Huberman mit seiner Analyse was Bilder mit uns tun oder Bruno Latour mit seinen Theorien, die stellen mir mit ihren Texten die Werkzeuge zur Verfügung, um Ausstellungen machen zu können. Und dabei bin ich natürlich froh, daß wir uns hier im Haus der Kunst wenigstens die Frage zu stellen versuchen, was das eigentlich bedeutet, dieses Präsentieren von Bildern - die Frage lautet also: What is display? What is the question of presentation and representation? 

Wozu ist ein Museum heute da?

To display while allowing the question of display. Wie zeigt man was und: wem? Außerdem ist ein Museum noch immer aus demokratischen Gründen heraus da. Der Besucher soll eigentlich urteilen können: Ich finde, daß.- Wir leben aber noch immer in einer Epoche, in der die Besucher ihre Meinung aus den Berichten über die Ausstellung beziehen - oder aber das organisatorische Umfeld - das Schlangestehen und die baulichen Gegebenheiten in ihre Beurteilung der Ausstellung einbeziehen. Ich bin da eher ironisch, zynisch, skeptisch. Das Ende des Museums, wie es häufig behauptet wurde, bedeutet nichts weiter als daß wir uns in der Endzeit der öffentlichen Sphäre befinden. Das Ende der öffentlichen Sphäre bringt eine Art von Krise hervor, und diese Krise heißt dann „Ende des Museums“. Aber ich glaube, daß ein Museum heute die Chance hat, zu etwas anderem zu werden. Zu einer Art von Universität. Wo man Kenntnis nimmt von den Zeiten da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch existiert hatten. Wo man sein Urteilsvermögen wiedererlangen kann. Das meine ich mit dem „intellektuellen Museum“, das ausgeht von einer Theorie; und Theorie meint immer auch ein Theater vom Denken zu sein. Wer heute im Museum arbeitet, wer Ausstellungen macht, der produziert ausschließlich Kenntnisse und Erfahrungen. Wirkliche Kenntnis ist das aber nicht. Deswegen ist es Zeit, in die Ausstellungen wieder Arbeiten aufzunehmen wie die Experimente von Dorner. Experimente von Sandberg. Sachen die zu ihrer Zeit des Ausgestelltwerdens nicht ernstgenommen wurden. Hans-Ullrich Obrist und andere sprechen von dem Museum als Laboratorium, das finde ich zu ambitioniert. Ich spreche von dem Museum als Volksuniversität. 

Das würde auch bedeuten, daß Sie für ihre Ausstellungen immer auch viel an Kommentar und Kontext zur Verfügung stellen müßten - oder gehen Sie davon aus, daß das Volk ausreichend vorgebildet in das Museum kommt?

Das bedeutet eben nicht, daß ich auschließlich Texte zur Verfügung stelle. Die Frage, wie man eine Ausstellung zustande bringt - die Juxtapostionen - gerade das wird etwas mit den Zuschauern anstellen, daß Texte niemals fertigbringen werden. Meine größte Inspiration waren die Montagestrategien von Jean Luc Godard. Seitdem schauen wir die Bilder anders an! Ich imitiere sozusagen Texte plus Image. Für mich ist es relativ einfach mit Text und Bild zu arbeiten. Oder Bilder und Ton. Ich glaube es ist sehr schön, in einer Ausstellung herumzulaufen, die aussieht wie eine Oper und die sich aufführen läßt wie ein Film von Godard - das haben wir versucht mit „Partners“ von Eidessa Handelens, wir habe es versucht mit Droog-Design, wir versuchen es jetzt mit der Generali Foundation und mit der Fotosammlung von Peter Herzog. 

Haben Sie den Eindruck, daß das formale Vokabular der Videokunst ausgereizt ist?

Nein! Totally not. Ich glaube vielmehr, daß es eine Wiederbelebung der statischen Bilder geben wird. Denn wir leben mittlerweile in einem Alltag aus bewegten Bildern. Auch Künstler wie Bill Viola, die mit ultralangsamen Bildern arbeiten, verwenden trotzdem noch bewegte Bilder. Und ich glaube wenn soviel geredet wird von der Authentizität der Malerei - Neo Rauch oder Luc Thurmans - oder von der Authentizität der Photographie - Andreas Gursky oder Thomas Struth - dann sind erstens diese Malereien nur entstanden dank der Photographie und zweitens ist die Photographie, die wir heute kennen nur entstanden dank den Filmen der Nouvelle Vague. Anders kann ich mir die Renaissance des photographischen Bildes nicht erklären. Ohne dieses Wissen kann ich mir die Renaissance der Malerei absolut nicht erklären. Wir sehen in diesen statischen Bildern eine neue Art von Bild-Sein - weil sie unbewegt sind.

Wird dann demnächst noch die Farbe verschwinden? Als eine Gegenströmung zu der Buntheit unseres Alltages?

Das glaube ich nicht. Nein - es gibt viel wichtigere Fragen! Zum Beispiel glaube ich, daß wir endlich in der Lage sind, die Ikonographie, wie sie uns das Umfeld von Aby Warburg oder auch das von Erwin Panofsky geboten haben mit einem rein formalen Interpretationsansatz zu betrachten. Aby Warburg ist sehr aktuell. Seine Ikono-Texte und Symboliktexte, die wir ja längst kennen, mit ihnen können wir nun endlich zu arbeiten beginnen. Da gibt es noch sehr viel zu tun, weswegen es ganz wichtig sein wird, transhistorisch zu arbeiten. Transdisziplinär auch. 

Was bedeutet das: transhistorisch arbeiten?

Daß es eben möglich sein muß, in eine Ausstellung über Fotographie ein Bild von Chardin einzubringen. Das wäre auch der richtige Ansatz, um transdisziplinär zu arbeiten.

Ist dieser transhistorisch-transdisziplinäre Ansatz dadurch möglich geworden, daß wir uns nun an einem Zeitpunkt befinden, der weit genug von dem Ursprung der Kunstgeschichte entfernt liegt, um uns eine Art von überlegener Aussicht aneignen zu können? Hat es auch etwas damit zu tun, daß die großen Gesellschaften ihre moralischen Befangenheiten ablegen konnten; daß sie nunmehr nüchtern auf die Geschichte zurückblicken?

Es ist nicht nur nüchtern. Es bedeutet auch: unsere Limitiertheit zu akzeptieren. 

Welche Limitiertheit?

Wir vebinden implizit angenommene Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Aufgrund dieser Verdichtetheit unserer Gegenwart. Deshalb ist es für uns auch so schwierig, mit der just verstrichenen Vergangenheit umzugehen. Zum Beispiel: Kennen wir noch Strawberry Fields Forever? Haben wir dazu noch ein Bild? Das wird doch alles immer schwieriger! Ich finde diese Frage faszinierend: Was bedeutet uns ein Bild, das erst vor dreißig oder vierzig Jahren produziert wurde? 

Wo Sie die Beatles anführen: Bands wie die Strokes oder Franz Ferdinand klingen wie die Rolling Stones oder eben Roxy Music - es geht scheinbar aber nicht um ein Revival altmodischer Musik, eher um eine Fortsetzung.

Es ist kein Revival. Es ist kein Recycling. Es ist eine Zeitlupe. Die unendlich sich dehnt. Das Phänomen dieser unendlichen Zeitlupe sehe ich auch in der Mode, im Design. Sie sorgt für die Beschleunigung der Ströme unserer Gegenwart - die „Schnellebigkeit“. Letztenendes kommt aus dem Widerspruch von zugrundeliegender Zeitlupe und schnelllebiger Gegenwart die Verdichtetheit zustande. Es ist schade, aber von dem Konzept einer Vergangenheit müssen wir uns wohl verabschieden. Man muß sich heute eher die Frage stellen, wie wir mit unserem Kulturerbe umgehen sollen. Was uns das Kulturerbe noch bedeutet. Im 19. Jahrhundert war das noch ganz einfach: Restauration. Und andererseits Neo Stijl. Heute kann uns Rem Koolhaas damit blenden, indem er uns ein magisches St. Petersburg darstellt, so als ob es nie eine kommunistische Revolution gegeben hätte.

Wie wichtig ist Ihnen Rem Koolhaas?

Er ist mir von seiner Arbeitsmethode her wichtig. Seine Methode besteht aus dem Befragen und Reagieren. Deswegen nennt man ihn auch den Pseudosoziologen. Aber Koolhaas ist an allem interessiert. Und er versucht alles mit allem zu verknüpfen. Eine dahinterliegende Logik zu finden. Stets befragt er alles was er sieht. Das ist für Leute wie mich, der ich mit Deleuze aufgewachsen bin, eine pragmatische Herangehensweise nach Deleuze: Neugier, Interesse - gerade für das, was man nicht versteht. 

Was Sie vorhin über die Zeitlupen sagten, finde ich interessant. Bedeutet es, daß gewisse kulturelle Gründungsmomente sich gewissermaßen wie durch die Löcher eines Käses hindurch sich ewig fortspinnen - und das unabhängig von den Bewegungen der Zeit?

Macht es noch Sinn, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden? Sind uns nicht Anfang und Ende gleichgültig geworden? Sind wir nicht kurz davor, selbst zu Alpha und Omega zu werden - von Vergangenheit und Zukunft befreit? Wer solche Fragen stellt, der macht sich natürlich verdächtig, aus der Geschichte aussteigen zu wollen.

Sind wir überhaupt eingestiegen? Über unseren Ursprung ist doch kaum etwas gewiss.

Ich glaube ja, es geht nicht um das Aussteigen. Es geht vielmehr darum, innerhalb der Zeitlupen noch kleine Anmerkungen anbringen zu können, die das Ding entweder noch schneller oder noch langsamer laufen lassen werden. Das ist doch das einzige, was wir noch tun können. Und da spielen Bilder eine ganz ganz wichtige Rolle! Für mich sind Bilder Zeitsicherheitszonen. Heidegger! Vor allem Heidegger: „Zeit ist eine Form von Widerstand“.

Videokunst kann ja auch eine Zeitsicherheitszone bieten, da in den Videokunstwerken Zeit gespeichert ist: An einem Bild kann ich schnell vorbeigehen. Das  Videokunstwerk zwingt mir seine Verweildauer auf.

Aber ich rede doch nicht allein von bewegten Bildern. Für mich ist die Zeitlupe oder Zeitsicherheitszone ebenfalls spürbar gegenüber von Öl-Malerei. 

Ja?

Absolut. Von Fra Angelico bis Delacroix bis zu dem, was ich bei Luc Therman sehe. 

Wo ist da die Zeit?

Die Zeit bin ich. Ich-Zeit-Souveränität. 

Achso!

Die Zeit befindet sich nicht in den Bildern. Das ist das größte Mißverständnis. Es geht um eine Ich-Zeit-Souveränität. Das ist ja der Ursprung des Kinos: In den ersten Kinosälen konnte man noch aufstehen und sitzenbleiben, wann man es wollte. Es gab noch keinen Film mit Anfang und Ende sozusagen. Solche Ich-Zeit-Souveränität ist für die Kunstbetrachtung mittlerweile dringend vonnöten. Für ein Museum der Zukunft schlage ich deshalb auch vor, nicht länger von einer Ästhetik der Räume auszugehen, sondern eine an der Zeit orientierte Architektur zu versuchen. 

Wie soll die aussehen?

Die besten Vorbilder für zukünftige Museen sind für mich die Bibliotheken. Forschungslaboratorien. Mediatheken. Und die Ausstellungen müssen konzipiert werden nach der Maßgabe einer Ich-Zeit-Souveränität. Und nicht mehr nach der kollektiven Zeit.  Vergrößerungen und Verkleinerungen von Bildern. Und und und. Vielleicht kommen wir dann so wieder an die Frage „Was bedeutet das Ausstellen eines Bildes?“ Diese Frage wird ja überhaupt nicht mehr gestellt. 

Ist es denn für ein solch intellektuelles Museum noch wichtig, die Originale der Bilder zu zeigen? 

Auch nicht. Es wird ja ohnehin immer schwieriger, das Original zu zeigen. Von Dürer hängen in der Albertina auch keine Originale, es sind Faksimiles. Ich finde es auch wichtig, meinem Publikum zu zeigen, was ein Original ist und was ein Faksimile. 

Auf welche Fragen antwortet denn die Kunst unserer Gegenwart?

Ich glaube, daß die Bildende Kunst heute eine sehr sehr schwache Disziplin ist. Weil Sie nur noch reagiert. Es ist ein Faktum, daß die Bildende Kunst immense Schwierigkeiten hat, sich noch einen eigenen kulturellen Raum zu schaffen. Deswegen ist man doch gerade so froh, daß es wieder einmal die Malerei gibt. Aber dabei wird auch schon wieder vergessen, daß die Malerei nie aufgehört hatte, ihr eigenes Ende zu verkünden. Die Malerei kann auch nur weiterexistieren, solange es das Wort „wieder“ gibt. Die Malerei läßt sich nämlich definieren als Ende eines Kontinuums: Sie predigt ihr eigenes Ende und währenddessen passiert auch schon „wieder“ die Geburt der Malerei. 

Wird die Wiedergeburt oder dieses „Fortsterben“ der Malerei eben dadurch erleichtert, daß bei Malerei wirklich jeder mitreden kann? 

Ja absolut! Jeder malt ja irgendwann. Das ist wiederum ganz schön, daß es keine  Kriterien mehr gibt. Das mit der „schwachen Disziplin“ meine ich übrigens nicht negativ. Es ist wie mit einem Schwamm: Die Bildende Kunst saugt alles auf, bezieht sich auf andere Disziplinen ohne etwas zurückzugeben. Deswegen kann Foster auch von dem „anthropomorphen Fetischismus“ reden. Er analysiert ein Titelblatt des „Art Forum“ - ich glaube von 1987 - und sieht darauf Calvin-Klein-Unterhosen, kombiniert mit Architektur von Koolhaas und Boogie-Woogie von Mondrian und eine Silhouette von Anne Demeulemester… und die Bildende Kunst funktioniert wie Bildende Kunst + Film / Bildende Kunst + Design - Bildende Kunst +. Dieses Pluszeichen symbolisiert es ja schon in einer Art von Grabkreuz: Das Fortsterben der Malerei kann durchaus auch von dem Fortsterben der Bildenden Kunst künden. 

Früher gab es doch noch einige recht kitschige Definitionsversuche, was Kunst sein könnte: eine hieß „Kunst kommt von Können“, die andere „Kunst kommt von Müssen“. Wissen Sie, warum es Kunst überhaupt noch gibt?

Ja, das kann ich erklären: Wir leben in einer Freizeitgesellschaft unter einer Diktatur der Kreativität. Unsere Umgebung ist demnach geworden: Alles ist gestaltet. In einem solchen, ästhetisch übersättigten Raum, entstehen immer wieder Nischen für den Widerstand. Und gerade das leistet die gute Kunst - nämlich diese Nischen zu bespielen. Deswegen kann man heute sagen: „Aha!“, diese altmodische Diaprojektion von James Coleman oder diese altmodische Zeichentechniken von William Kindridge: „Das sieht authentisch aus!“ Wiederum ein gutes Beispiel für die Verdichtetheit der Gegenwart: Um Widerstand zu schaffen, kommen veraltete Dinge in Betracht.

In Kunst und Literatur können sowohl Authentizität aber auch Qualität erst lange nach dem Zeitpunkt der ersten Präsentation beurteilt werden.

Ich spüre, daß heute neue Erzählstrategien eine ganz wichtige Rolle spielen werden. Wenn Sie die Bilder sehen von Neo Rauch, Martin Eder, Florian Süssmeyer oder Amelie von Wülfen undsoweiter - das sind ja alles Leute mit eigenen Erzählstrukturen. Ich glaube, daß die jungen Künstler hiervon ausgehen.

Macht es nicht auch einfach nur Spaß, zu malen?

Ja. Das macht auch Spaß. Die behaupten ja, daß sie Augenzeugen sind. 

Wenn jemand als junger Mensch Künstler ist, dann will er sich auch innerhalb eines Feldes von Tradition bewegen. Malerei bietet sich hierfür eben an.

Das glaube ich nicht. Wissen Sie, daß die Hälfte der Deutschen Abiturienten „etwas mit Kunst machen“ wollen? 

Ja, aber die wollen auch immer „etwas mit Tieren machen“ - das kann von Metzger bishin zum Fotographen vieles sein. 

Ich glaube daß die Idiome „Freier Künstler“ und „Radikaler Künstler“ unwichtig geworden sind. Das große Problem der Bildenden Kunst ist es doch nicht nur, daß sie zu einem Schwamm geworden ist. Problematischer ist es noch, daß ein Künstler heute nur noch vier, fünf Jahre lang Zeit hat, um sich zu etablieren. Es gibt keine Einzelausstellungen mehr. Es gibt nur noch Gruppen-Shows. Sogenannte Flughafenausstellungen, Biennalen. Und den jungen Künstlern bleibt nur sehr wenig Zeit, um in diese Zusammenhänge hineinzukommen - ansonsten schaffen sie es überhaupt nie.

Ist dieser Erfolgsmechanismus mit dem der Musikbranche vergleichbar?

Absolut. Auch erfolgreiche Musikgruppen haben heute nur noch vier bis maximal sieben Jahre Zeit, um Geld zu verdienen. 

Woher kommt das eigentlich? 

Es gibt eben keine Kontinuität mehr. Ich finde die Ideologie der Kontinuität auch im Grunde falsch. Susan Sonntag konnte das ganz schön beschreiben: „Es gibt nur noch Diskontinuität, diese ganz schnellen Transformationen - oder: Silence“. Aber Kontinuität, wie Sie das sehen - eine blaue Periode, eine rosa Periode, erst das Konkrete, dann abstrakt, dann minimal - das ist vorbei.

Rührt das von der Zerstörung der Synchronizität des Zeitgefühles?

Absolut ja. Es bringt uns zurück zu Heidegger und den anderen, die über Zeit nachgedacht haben: Die Kunst läßt sich sehen als ein Boot, das in den Wellen schaukelt. Ein Boot gefüllt mit Zeit, sozusagen. Aber die Chronos-Zeit, die exisiert nicht mehr. Nun gilt Synchro-Zeit.