Die Entdeckung der Langeweile

Essay
unveröffentlicht

Seit ich ein Jahr allein in Äthiopien gelebt habe, kenne ich die Langeweile; zwar hatten wir uns dort erst, in meinem 41. Lebensjahr, kennengelernt, aber von da an wußte ich: wir lassen einander niemals wieder ziehen.

Bis dahin war es ja so gewesen, daß ich beim Gedanken an die Gestalt der Langeweile lediglich ein kleines Kind vor Augen hatte, das aus dem Fenster schaut. Die Scheibe ist beschlagen, Regen läuft herunter, das Bild wird durch diese von Regen und Dunst beschlagene Scheibe hindurch gezeigt. Schemenhaft das Gesicht des Kindes – ich glaube, es war die Erinnerung an eine Szene aus einem Werbespot. Eigene Erinnerungen, echte Erfahrungen mit Langeweile hatte ich offenbar keine zu bieten. Das erschien mir einst noch als Privileg. Schließlich fanden sich in meinem Kiefer auch keine Anlagen für Weisheitszähne. Mein Zahnarzt nahm an, daß ich mich bereits auf einer nächsten Stufe der Evolution befand. Mit zunehmendem Alter aber empfand ich den Mangel – schließlich hatte doch Martin Heidegger hunderte Seiten zur Langeweile verfasst. Kant irgendwie auch. Und Richard David Precht sogar behauptet, bei der Langeweile handelte es sich um den Ursprung der Philosophie. Ohne eine derart existentielle Erfahrung sterben zu müssen, erschien mir als verfehlt. Vergleichbar mit diesem Jungen in dem Märchen von Einem, der auszog das Fürchten zu lernen, wollte ich unbedingt erfahren dürfen, wie sich das anfühlte, wenn man sich langweilt. Im Sommer meines 41. Lebensjahres ging es los.

Als ich das Terminalgebäude in Addis Ababa verließ, ging gerade die Sonne auf, es war sechs Uhr. Von meiner neuen Heimatstadt war nicht viel zu sehen. Was aber nicht an den dortigen Lichtverhältnissen lag, da war einfach wenig. Und, das was es gab, sah eintönig aus. Unspektakulär.

In Filmen, zum Beispiel in Lost in Translation, in Emil und die Detektive wird die neue Welt, werden das nächtliche Tokyo, wird Berlin als Wunderwerk vorgeführt. Die Stadt als Schatz. Das Deutsche kennt keine Entsprechung zum amerikanischen underwhelming, aber die Anblicke während meiner Taxifahrt durch das frühmorgendliche Addis Ababa waren allesamt für mich so: unterwältigend. Ahnungsvoll stellte ich meine inneren Ohren auf, um zu lauschen, ob mir eventuell bereits langweilig war.

Negativ, es gab ab und an etwas zu sehen, was mich beschäftigt hielt. Kleine Herden von Tieren, Ziegen, Schafe, Esel etwa. Ein Café, das Facebook hieß. Das daneben: Google. Eine Ampel mit ausgebauten Leuchten. Noch eine. Und noch eine. Und – ach, egal.

Für mein Forschungsprojekt hatte ich mir die ideale Jahreszeit ausgesucht. Im Hochland von Äthiopien fällt die Regenzeit in die Monate Juli und August. Dann regnet es vor allem im August ohne Unterlaß. Und zwar in Mengen, von denen man sich in Europa nur dann einen Begriff machen kann, falls man schon einmal den Monsun in einem subtropischen Land miterlebt hat.

So also, bloß dazu noch kalt (Addis liegt auf 2500 Metern) würde es nun noch vier Wochen lang gehen. Ich hasse es, zu frieren. In der folgenden Zeit verließ ich mein Hotelzimmer nur selten, das Hotel selbst überhaupt nie und machte, was ich schon mein ganzes Leben lang am liebsten getan hatte: Im Bett liegen und lesen. Im Bett liegen und Musik hören. Im Bett liegen und liegen. Das Zimmer war fünf mal fünf mal fünf Meter groß. Ein Würfel, aus dem zwei hohe Türen auf einen ebenfalls fünf Meter breiten Balkon führten. Da mein Hotel als erstes Hotel auf dem afrikanischen Kontinent überhaupt von Kaiserin Taitu an einem Steilhang errichtet worden war, hatte ich von diesem Balkon aus zumindest theoretisch einen phänomenalen Ausblick über die gesamte Stadt, die sich unter mir in die Senke ergossen hatte wie Pfannkuchenteig. Durch die Regenschleier erkannte ich so gut wie nichts. Nachts wurde es extrem dunkel, weil es in Addis Abeba nicht nur keine Ampeln, sondern auch keine Straßenbeleuchtung gibt. Nur so war es überhaupt zu erklären, wie der ugandische Betreiber des Palasthotels darauf kommen konnte, sein Haus als komfortabel auszuweisen. Selbst mein feuchtes Zimmer mit den Möbeln an denen sämtliche Griffe und Knäufe längst gestohlen waren (wie auch auf den Straßen sämtliche Gullideckel längst eingeschmolzen), mit den nichtexistenten Steckdosen (stattdessen ragten aus den Wänden die blanken Kabelenden, was aber weniger gefährlich war, als es den Anschein machte, denn es herrschte sowieso andauernd Stromausfall) und einem fehlenden Waschbecken, von dessen Existenz einzig die Rohranschlüsse, die gußeisernen Halterungen und der darüber angebrachte Spiegel noch zeugten, selbst also diese insgesamt desolaten, feuchten und kalten 125 Kubikmeter waren noch immer sozusagen Gold im Vergleich mit den Lebensumständen vor meinem Balkon und hinter meiner Zimmertür. Zum Beispiel in Sachen Zugang zum Internet. Selbst wenn es einmal Strom gab, dann lag die Verbindungsgeschwindigkeit bei maximal 61 Kilobit in der Sekunde. Das reicht noch nicht einmal aus, um die eingegangene E-Mail herunterzuladen. Ich hatte in eine Simcard der Ethio Telekom investiert, aber auf dem iPhone erschien das Symbol für 3G-Geschwindigkeit so gut wie nie. Eine liebgewonnene Quelle der Zerstreuung war somit versiegt. Allmählich erkannte ich, daß ich in meinem alten Leben geschätzte sechs Stunden am Tag mindestens im Internet verbracht haben musste. Denn diese Stunden hatte ich jetzt sozusagen frei.

Weitere Stunden meiner Tage hatte ich bislang in Cafés und Bars verbracht. Einige Zeit dort überlappend mit Internetkonsum. Auch viel und gerne Leute beobachtet. Und jeden Tag drei Tageszeitungen. Allerdings gab es in der ganzen Hauptstadt Äthiopiens weder einen ernstzunehmenden Buchladen, noch gab es Tageszeitungen. Lesen galt als gefährlich. Leute beobachten war aber okay (»staring is for free«). Die kleine Hotelbar war einer der trostlosesten Orte, an dem ich jemals zu Gast gewesen war. Nun war es ja so, daß in der Regenzeit sich kaum jemand nach Äthiopien verirrte. Noch nicht einmal die üblichen Anthropologen, Religionswissenschaftler (die orthodoxe Kirche Äthiopiens bietet ein interessantes Forschungsgebiet), erst recht nicht die Bird Watcher (am sogenannten Horn von Afrika leben tausende endemische Vogelarten). Folglich saß ich dort ziemlich allein. Kaum hatte ich Platz genommen, setzte sich regelmäßig einer der Mirandaspione in meine Nähe. Also ein Regierungsbeamter in Zivilkleidung, der den ganzen Tag bei einer Flasche Miranda für acht Birr (30 Cent) ausharrt und dabei so tut, als surfe er mit seinem iPhone. Dabei macht er hin und wieder ein Foto von den Gästen und belauscht sie, so gut es seine Englischkenntnisse zulassen. Also nicht allzu sehr. Ich hatte aber erst gar niemanden, mit dem ich reden konnte. Spricht man Miranda-Spione an, bedanken sie sich und lächeln. Mehr kommt da nicht. Meine Unterhaltungen mit Megdes, der Barista, führten nie über Darlehenswünsche ihrerseits und fromme Belehrungen hinaus. Blöd für den Mirandaspion. Aber dann starb eines Tages der Ministerpräsident. Es gab Gerüchte, daß Meles Zenawi, dessen Vorname Schnecke bedeutet und der das Königreich der Langeweile 16 Jahre lang regiert hatte, bereits vor Monaten verstorben war und seitdem in einem Tiefkühlfach aufbewahrt wurde, weil die Kollegen in der Einheitspartei schlicht nicht wußten, wie er zu ersetzen sein könnte. Dann war aber kurz nach meiner Ankunft das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche entschlafen. Daß zu seiner Beerdigung im heiligen Ort Axum ausgerechnet der Landesvater nicht erscheinen konnte, wäre selbst in Äthiopien unmöglich zu erklären. Also mussten sie mit der Todesnachricht raus.

Umgehend wurde Staatstrauer verhängt. Das kleine Fernsehgerät, das am Ende des Speisesaals auf einem Tisch aufgebaut war und unter reichlich vom Dauerregen verursachten Interferenzen die Bilder des einzigen Kanals des äthiopischen Staatssenders abspielte, war mir nach einigen Tagen ans Herz gewachsen. Ich mochte jene Dauersendung, in der ein Auto durch die Außenbezirke von Addis Abeba und Mekele fuhr. Eine hinter die Windschutzscheibe angesaute Kamera zeigte den unaufhörlichen Strom der Neubauten, die überall in den Vorzeigestädten Äthiopiens nach Vorlagen aus der DDR in Beton gegossen worden waren. Ich mochte auch die Kindersendung, in der ein Merlinartiger Priester mit weißem Spitzbart auf eindringliche Weise erzählte. Die Landessprache Amharisch klingt, als ob ein leierndes Band mit italienischen Phrasen rückwärts abgespielt wird. In der übrigen Sendezeit lief Volksmusik, unterbrochen von Traktorenwerbung (Ä ist ein Bauernstaat). Doch mit diesen von mir schon längst nicht mehr als billig empfundenen Freuden sollte es nun vorbei sein. Zwar wurde der Fernseher nicht abgeschaltet oder - transportiert, jedoch schaltete der Staatssender auf ein Standbild des geliebten Führers und dazu lief von sehr früh bis sehr spät eine von Interferenzen geplagte Flötenmusik. Auf Nachfrage erklärte mir der hundertdreizehn Jahre alte Oberkellner Seyo, daß die Staatstrauer zunächst auf vier Wochen angesetzt worden war. Was war schon Zeit („time is for free“)? Am Montag nach der Todesnachricht versuchte ich eine Telefonverbindung in die Redaktion des Londoner Internetradiosenders, für den ich als Korrespondent berichten sollte. Nachdem ich den im Stau befindlichen Cityboys meine Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse geliefert hatte, schaltete man seitens der Einheitstelefongesellschaft Ethio Telekom noch am selbigen Nachmittag meinen Anschluß ab. Was nicht weiter schlimm war, denn am Abend stahl man mir in der Warteschlange vor dem Kiosk mein iPhone. Das Ersatzgerät, das ich mit ins Land gebracht hatte, war bereits Tage zuvor aus meinem Zimmer verschwunden. Das traf mich jetzt hart, denn auf dem iPhone befand sich meine gesamte Musiksammlung. Die Polizeiwache befand sich dem Hotel gegenüber, man begrüßte mich freundlich. Das war noch die Zeit vor meinen Amharischstunden bei Mimi, also versuchte ich meine Anzeige in englischer Sprache an den Mann zu bringen. Der saß mir an seinem äthiopischen Schreibtisch gegenüber (ein abgebrochenes Tischbein war vor hundertdreizehn Jahren durch übereinandergestapelte Felsbrocken ersetzt worden). Von den sprachlichen Verständigungsproblemen abgesehen, gab es aber auch ein solches der prinzipiellen Art. Als ich meinen Kugelschreiber hervorholte, um einen Lageplan des fraglichen Kiosks zu skizzieren (es gibt davon Millionen, und die Straßen und Gassen von Addis tragen keine Namen), hellte sich die Miene des Polizeichefs auf: „Yes“, sagte er. „Draw a phantom picture!“

Und so und so ähnlich verging dann ein ganzes Jahr. Nach dem Ende der Staatstrauer hörte es auf zu regnen. Die Äthiopier leben nach einem anderen Kalender, sie feiern den Jahreswechsel am elften September, da wird dann auch traditionell das Wetter wieder besser. Sehr viel wärmer wurde es allerdings nicht. Auch lag es nicht an den Regenfällen, das Internet ist dort deshalb so langsam, weil in jede der vielen tausend Registrierkassen des Landes ein verplombter 3G-Chip eingebaut ist, der die Umsätze vollautomatisch an die Finanzbehörden petzt. Dadurch wird die ohnehin schwache Netzkapazität bis knapp vor den Anschlag ausgereizt.

Um nicht vollkommen wahnsinnig zu werden vor lauter Zeithaben, begann ich zu basteln. Ich habe hübsche Dinge aus Perlen hergestellt. Auf dem heiligen Entoto habe ich Kuhörner aus den gebleichten Schädeln der Opfertiere gesägt und mit Sandpapier und Möbelpolitur so lange behandelt, bis sie vorzeigbar wurden.

Auf Briefpost gewartet. Manchmal welche bekommen. Viele Collagen gemacht. Filme gedreht. Kleidung repariert. Schönes aus Zahnpasta. Möbelgriffe aus geflochtener Wolle. Amharisch gelernt (Sprache und Schrift). Viel gezeichnet. Viel fotografiert. Noch mehr geschrieben. Wenn die Sonne um sechs aufgeht, man keinen Alkohol trinkt und dann noch zwölf Stunden herumzubringen hat, kriegt man eine ganze Menge hin. So kannte ich mich zwar, aber das war lange her gewesen. Ich hatte es vergessen, damals war ich noch ein Kind.

Seit ich ein Jahr allein in Äthiopien gelebt habe, ist die Langeweile zu einem Grundzug meiner Persönlichkeit geworden. Ich suche dieses Gefühl, das eben so ganz anders ist als die Furcht in dem Märchen. Und mir hat dort auch keiner einen Eimer mit Fischen ins Bett geschüttet. Man hatte mir lediglich weggenommen, was mich bis dato daran gehindert hatte, etwas mit mir selbst anzufangen.