Diana Spencer, Leben nach dem Crash

Phantasieerzählung
zuerst erschienen 2001 in der BZ am Sonntag

Ein schreckliches Geräusch hat uns alle aus dem Schlaf gerissen. Das Geräusch gab es schon öfter hier, aber noch nie war es so laut, so nah. Gewehrsalven, kurze knatternde Stöße zuerst, dann endloses Stakkato, Querschläger und gleich darauf eine Stille, so unheimlich, dunkel und groß, als hätte es zuvor nie etwas anderes gegeben als diesen peitschenden Lärm.

Noun meint, es seien bestimmt Amerikaner gewesen. Vielleicht ja, um einen schönen Casinogewinn zu feiern. Von einem Soldaten die MP geliehen gegen 130 Dollar und dann ein paar Freudenstöße in die sternensatte Nacht über dem Mekong. Und niemand wurde getroffen, keiner verletzt.

Ich schlürfe etwas von dem Kräutertee, den Noun gemacht hat, wir lehnen uns nebeneinander an die Anrichte und pusten in unsere Tassen. Ein schnelles „Pitsch, Pitsch, Patsch“ nähert sich von draußen auf dem Gang. Wir nicken uns zu: „Chim“. Chim, seit vorletzter Woche Sprecher der Schlafsäale 1-3, ist auf dem Weg zu uns. In der gebotenen Eile ohne seine Beinprothese. Hüpfend, auf einem Bein. Alle zwei Hüpfer klatscht er mit einer Hand gegen die Wand. Pitsch, Pitsch, Patsch.

Er ist so aufgeregt, daß er noch im Türrahmen beginnt loszusprudeln. Auf Kambodschanisch, und ich verstehe kaum etwas. Noun beruhigt ihn. Dann legt er sich den kleinen Mann über die Schulter und bringt ihn leise flüsternd zurück ins Bett.

Seit zwei Jahren bin ich jetzt schon hier in Phnom Penh und noch immer habe ich mich nicht daran gewöhnt, daß manchmal Schüsse fallen. Daß die Explosion einer Mine die Vögel auffliegen läßt mitten im Tag. Ich ärgere mich wahnsinnig über meine Schreckhaftigkeit. Ich habe hier doch nichts zu befürchten. Ich habe doch nichts zu verlieren. Ich habe alles richtig gemacht.

Wenn das hier nicht mein Leben wäre, sondern ein Roman, dann würde ich inmitten jeder Nacht laut schreiend hochschrecken. Von meinem eigenen Schrei würde ich erwachen und sofort erinnern, was ich gerade gesehen hatte:

Eine Drehtür aus Glas mit goldenen Griffen; Blitzlichter, Menschen und mich selbst, mit kurzem, blondem Haar, gespiegelt im dunklen Fenster eines Mercedes Benz; schwarzes Leder, die Mütze des Fahrers hinter der Kopfstütze; Dodi, wie er sich wütend nach vorne lehnt und etwas befiehlt; die grell verstreuten Punkte der Motorradscheinwerfer hinter uns; ein dumpfer Aufschrei, etwas Dunkles, Glas, Schwarz, Licht, Glas, Blut, Schwarz.

Schlimmer als das ist nur, wenn du aufwachst und weißt: Es waren keine Geister. All das ist genau so passiert.

Und die Erinnerung an den ersten Menschen nach dem Koma: Die Stimme des Professors, meinen Namen, sein Mundgeruch wie ein altes Buch. Wie lange er gebraucht hatte, nein, wie lange ich gebraucht hatte, zu verstehen. Daß ich überlebt hatte. Was ich überlebt hatte. Wie ich überlebt hatte.

Meine Familie! Aus dem braunroten Kokon des Dreimonatsschlafs hinübergeschoben zu werden in diesen Gefrierschrank meines alten Lebens. Das Bewußtsein wieder zu erlangen - zwei, drei Stunden nur davon und du weißt: Es ist selbstverständlich nicht wie bei normalen Menschen – daß von nun nichts mehr so ist, wie vorher. Nein, es ist um so vieles unendlich schlimmer: Alles wird für immer und genau so sein wie vorher. Als hätte ich Buße getan für etwas; als hätte ich irgendeine Schuld auf mich geladen, und jetzt sei alles wieder gut. Als sei ich wiedergefunden, wieder das Mädchen vom Land mit den dicken Schenkeln aber ohne den durchscheinenden Rock. 

Das waren nicht meine Erinnerungen. Das war nicht ich. Ich sah mich nicht in St. Paul’s Cathedral, nicht in London, dem Palast. Nicht bei Elton im Garten, nicht im Ritz Carlton in Cannes. Nicht in Sidney oder Manhattan oder Paris. Nicht im Ritz. Nie wieder im Ritz.

Ich dachte an Freetown, Sierra Leone. An Battambang, Kambodscha. An UN-Jeeps und Magnetsuchgeräte. Und natürlich an Österreich und an China – wo heute noch die Landminen herkommen. Und ich sah mich unter dem Helm mit dem Sichtschutz auf einer Briefmarke der Royal Mail Cambodge aus dem Jahr 1998, dem Jahr, in dem plötzlich alles in mir zuende war, unterbrochen, mit einem Crash.

Wie von sehr weit oben sah ich die Einzelteile eines Puzzlespiels. Jemand hatte es mit dem Ellbogen vom Tisch gewischt, und jetzt lag alles am Boden vor mir in zigtausend Stücken.

War das alles ich?

Oder wo passte ich dort noch hinein?

Und die Antwort darauf gab ich mir selbst.

Ich kam mit leichtem Gepäck über Bangkok. Alles was ich noch brauchen wollte, paßte in eine kleine Tasche: Meine Lieblingsplatten von Duran Duran und R.E.M, zwei getragene Pullis von William und Henry, eine Streichholzschachtel voll Sand. 

Als sich die Kabinentür öffnete und mir jemand die Hand reichte, um mich die Gangway hinunterzuführen, drückte sich mir die Luft entgegen wie ein heißes Kampfertuch. Die Sonne knallte auf mich herunter, das Gestell meiner Sonnenbrille heizte sich minutenschnell auf, aber am Fußweg über das Rollfeld zum Flughafengebäude wartete kein Caddy, um mich zu bringen; und niemand hielt mir einen Schirm. Hier war ich niemand. Vielleicht konnte ich hier wieder zu jemandem werden.

Noun hatte wohl nie daran gezweifelt, daß ich es ernst meinte. Daß ich es wahr machte und zu ihm kommen würde. Zu ihm und seinem Kinderheim Khjoom in Phnom Penh, Kambodscha. Er nahm mich einfach in den Arm, wie ich da stand, unter dem Dach der Veranda. Durchgeschwitzt und erledigt von Fahrt und Flug, vom Abschied und dem schon vormittags sehr schwülen Tag.

Langsam, mahnte er mich. Immerzu: Langsam. Zu Anfang kam es nämlich noch oft vor, daß ich zuviel auf einmal wollte. Daß ich mir wünschte, ich käme schon besser zurecht mit allem, daß ich so helfen konnte wie Noun. Aber er erklärte mir immer wieder geduldig, daß niemand etwas von mir erwarten würde. Daß es von nun an keine offenen Forderungen mehr gäbe. Daß alles was ich heute täte, was ich schaffen könne – auch das mindeste – ein großes Geschenk sei. An die Kinder und auch: an mich selbst.

Als ich das Fieber bekam, wachten sie Tag und Nacht an meinem Bett. Ich spürte ihre Hände mit den kühlen Lappen, die mir den Schweiß wegtupften. Und die mir die Waden und Oberarme massierten, als die schlimmen Krämpfe kamen.

Und zum ersten Mal hatte ich wieder das Gefühl dazuzugehören. Ein Teil von etwas zu sein, Mensch unter Menschen. Das macht es mir leicht auf so viele Andere zu verzichten. Auf meine Söhne, meine Freunde.

Das macht es mir auch leichter, William oder Henry oder Nuong nie sehen zu können, sondern nur zu fühlen und zu hören und zu riechen. Ich finde es nicht mehr schlimm, daß ich blind bin. Ich bin trotzdem ein Mensch.

Niemand hier hat mich an meiner Stimme erkannt, oder an meiner Art zu gehen, die immer noch dieselbe ist. Keine Fotografen am Flughafen. Keine Homestory in der Phnom Penh Post. Es gibt auch keine Wohnung, keine Möbel, für die sich hier irgendjemand interessiert. Ich schlafe in einem Zimmer und esse mit den anderen im Saal. 

Ich bin wie alle anderen hier. Aber mir fehlt eben kein Arm oder ein Bein oder beides (was auch häufig ist), sondern – wie sagte der Professor es damals: Meinen Augen fehlt das Licht. Aber eben nicht, weil ich bei der Reisernte auf eine alte Tretmine von 1975 getappt bin, oder weil einer der Touristen auf der Shooting-Range den Abzug seiner gemieteten Kalaschnikow zu weit durchgezogen hat und eine seiner Garben in mein Reisfeld hinter der Range peitschte.

Ich bin blind, weil der betrunkene Fahrer unserer Limousine nachts zu schnell in einen Pariser Tunnel gefahren ist. Und er ist zu schnell gefahren, weil er zehn Fotografen abhängen wollte, die uns auf Motorrädern verfolgten. Und die verfolgten uns nur, weil sie sehr viel Geld bekommen hätten für ein unscharfes Bild von meinem Gesicht.

Es interessiert mich nicht, wie ich heute aussehe. Die Kinder sagen, ich sei wunderschön.