Herfried Münkler, Kriegstheoretiker

Interview
zuerst erschienen 2006 in 032c
Der Grund, weshalb Thomas Pynchon seine Erzählung „Entropie“ nach Jahren endlich als seinen mißlungensten Text betrachten wollte, dürfte darin zu finden sein, daß dessen zentrales Motiv – das thermodynamische Prinzip titelgebenden Namens – sich mit der Motivation des Autoren, sich dieser Geschichte zu entledigen, allzu offensichtlich in Deckung bringen läßt: Mit seinem Text hatte der Autor offensichtlich einen ihm innewohnenden Hitzestau in seinen Text lenken können – selbst erkaltet kann er das so entstandene Produkt nicht mehr anders erachten als: zu heiß (die entropische Reaktion hierauf läßt sich in der einsetzenden Schamesröte auf seinem Gesicht, dem heiß und kalten Schauer über seiner Hautoberfläche beschreiben). Ein ernüchternder Schrecken, der, in weitergefasstem Maßstab betrachtet, analog erscheint zu dem Entsetzen von Gesellschaften angesichts eines vom kalten Gefechtsrauch überwehten Schlachtfeldes – die inzwischen und plötzlich inmitten unserer öffentlichen Räume eröffnet sind. Der thermodynamische Prozeß der Entropie hat mit dem von den Gesellschaften produzierten Outbursts ihrer Kriege ja eines gemein: Die Prozeßverläufe werden irreversibel sein. Das Erstaunen hernach ist somit vergebens. Mit dem deutschen Theoretiker des Krieges, Professor Herfried Münkler, sprach ich unter anderem auch hierüber in Berlin. Sein Büro an der Humboldt Universität ist klein, seine Sekretärin vermeidet es, mit den Besuchern zu sprechen. Herfried Münklers Begriff von den Postheroischen Gesellschaften, in denen wir, seiner Ansicht nach seit den Outbursts des 19. Jahrhunderts leben, erschien mir als Equvivalent zur Beschreibung eines thermodynamischen Prozesses der Menschheit – gesellschaftlich gesehen.

Wäre es für unsere postheroischen Gesellschaften, die Ihrer Theorie zufolge nicht mehr in der Lage sind, Opfer zu bringen, nicht günstiger, sich zu einer abkühlten Haltung gegenüber des Islamismusses durchzuringen – anstelle sich in einem „War on Terror“ zu verschleißen?

Postheroische Gesellschaften, das ist richtig, haben eine natürliche Neigung zum Zurückweichen, aber das Problem ist, dass die Gegenseite dies nach einiger Zeit bemerkt. Sie erhöht dann den Druck, um ein weiteres Zurückweichen zu erzwingen usw. Irgendwann steht die postheroische Gesellschaft dann mit dem Rücken an der Wand und hat keine Optionen mehr. Insofern sollte man hier nicht eine kurzfristig nahe liegende Reaktionsform – das Abkühlen – mit einer langfristigen Strategie verwechseln. Damit will ich ausdrücklich nicht sagen, dass wir die Konfrontation mit dem Islamismus bzw. Dschihadismus unter allen Umständen suchen sollten. Aber es ist auch gefährlich, um des lieben Friedens willen jedes nur denkbare Zugeständnis zu machen. Eine solche Appeasementpolitik haben die Franzosen und Briten in den dreißiger Jahren gegenüber Hitler betrieben – auch in dem Bewusstsein, dass sie nicht in der Lage seien, die Opfer und Verluste des Ersten Weltkrieges ein zweites Mal zu tragen. Wie wir wissen, ist Hitler dadurch weder saturiert noch pazifiziert worden. Ich will den Vergleich zwischen Hitler und dem Dschihadismus nicht überbetonen und hänge auch nicht der Vorstellung vom Islamofaschismus an – aber dass man durch Zurückweichen und Appeasementpolitik die Sachen auf längere Sicht auch schlimmer machen kann – das lässt sich aus der europäischen Geschichte schon lernen.

Im Kalten Krieg lag unser Augenmerk auf einer Bedrohung aus dem Norden, der Sowjetunion konkret – was hat sich durch eine Konzentration auf das Phantomterritorium verändert, jene heißen Regionen, in denen der „War on Terror“ geführt wird?

Die Konfrontation mit der Sowjetunion war symmetrischer Art. Beide Seiten verfügten über gleichartige Bedrohungsinstrumentarien, und insofern konnten sie sich wechselseitig abschrecken bzw. in Zaum halten. Das genau gilt für die neuen Kriege nicht. Hier ist die Konfrontation wesentlich asymmetrisch, das heißt, wir haben es mit keinem nuklearen Patt zu tun, sondern mit tendenziell offenen Räumen, in die der Westen (wie etwa im Falle des Irak) militärisch einzudringen vermag, in denen er dann aber einem Ermattungskrieg ausgesetzt ist. Dementsprechend andere Regeln gelten hier. Im Übrigen ist unser Problem ja auch, dass wir aus diesen Gebieten heraus, wie etwa am 11. September, attackiert werden. Kurzum: Die Konstellationen des Ost-West-Konflikts sind denen der neuen weltpolitischen Asymmetrie völlig fremd. Wir müssen umlernen.

Wie hat sich durch die Tatsache, dass nicht mehr nur auf Schlachtfeldern gekämpft wird, sondern öffentliche Einrichtungen zu Schauplätzen des Krieges werden, unsere Wahrnehmung von politischen Konflikten verändert?

Politische Konflikte, die eigentlich sehr, sehr weit von uns entfernt angesiedelt waren, sind uns auf diese Weise brenzlig nahe gekommen. In Goethes „Faust“, im Osterspaziergang, ist noch davon die Rede, man könne ein Gläschen Wein trinken, wenn „fern in der Türkei“ die Waffen aufeinanderschlügen. Davon kann heute, da die Waffen nicht auf das Gefechtsfeld begrenzt sind, nicht mehr die Rede sein. Deswegen auch konnten wir uns angesichts der afghanischen Herausforderung nicht zurücklehnen und darauf bestehen, Afghanistan sei ja noch um einiges ferner als die Türkei. Die Formel des früheren Verteidigungsministers Struck, Deutschland werde – auch – in Afghanistan verteidigt, hat diesen Punkt aufgenommen.

Das zweifelhafte Vorbild für solch hitzige, und auch allein rhetorisch uferlosen Verteidigungstrategien fern der Heimat bleiben die USA. Francis Fukuyama behauptet, dass Amerika sich nach dem Prinzip des Superlativen modelliert – führt das nicht zu einer Erstarrung durch Gleichförmigkeit? Und bewegen wir uns damit insgesamt auf einen Zustand politischer Entropie zu, aus dem womöglich alleine die heroischen Gesellschaften auszubrechen versuchen?

Nun ja, das ist Fukuyamas bekannte These vom Ende der Geschichte, die daraus erwächst, dass es keine fundamentale Alternative zur liberaldemokratischen Politik und kapitalistischen Gesellschaftsordnung mehr gebe. Aber derlei war, wenn Sie mich das etwas zugespitzt formulieren lassen, nichts anderes als die Selbstberuhigung einer postheroischen Gesellschaft, die sich dadurch in Sicherheit wähnte, dass es um sie herum nur ihresgleichen gab. Man sah in den Spiegel und meinte, man schaue in die Ferne. Aber die islamistisch dschihadistischen Durchbrechungen zeigen, dass das Ende der Geschichte doch noch nicht gekommen ist, auch keine Entropie im Sinne eines Ausgleichs der Energieunterschiede, sondern hier stehen prinzipielle gesellschaftliche und politische Alternativen gegeneinander und dieses Gegeneinander ist wohl kaum mit den Mitteln des Gesprächs zu entscheiden. Pflegen wir den Dialog, solange er zum Ziel führt, aber stellen wir uns auch darauf ein, dass dies nicht der Fall sein könnte und wir unsere Form zu Leben anders als mit Worten verteidigen müssen.

Was uns – Ihrer These von den postheroischen Gesellschaften zufolge, zunehmend schwerfallen wird. An welchem Punkt der jüngsten Geschichte wird es für sie ablesbar, daß hier aus einer einsmals heroischen Gesellschaft eine postheroische geworden war?

Einer der ersten Indikatoren für das politische Dominantwerden der postheroischen Gesellschaft war die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in den USA am Ende des Vietnamkriegs. Die politische Führung hatte begriffen, dass man militärisch nicht durchhaltefähig bleiben würde, wenn man den Wählern die Verluste ihrer Angehörigen zumuten mußte. Während des Vietnamkrieges hatte man in den USA erstmals die Erfahrung gemacht, dass sich ein relevanter und politisch einflussreicher Teil der Bevölkerung gegen die Kriegspolitik der Regierung wandte. Die Berufsarmee, die an die Stelle der Wehrpflichtigenarmee getreten war, ist aber eben nicht mehr die bewaffnete Nation, sondern eine nach bestimmten Kriterien erfolgte Auswahl, nicht selten aus den Bevölkerungsgruppen, die keine anderen Chancen des sozialen Aufstiegs hatten. Sie wurden und werden auch heute noch zu einer heroischen Gemeinschaft gedrillt. Aber das ist etwas anderes als eine heroische Gesellschaft. Von postheroischen Gesellschaften spreche ich im Anschluß an eine Begrifflichkeit, die aus dem Bereich der Kriegstheorie auftaucht: Nämlich postheroische Kriegführung. Als eine Form der systematischen Opfervermeidung durch den Einsatz von Equipment. Nun hat mich das Postheroische auch hinsichtlich der Gesellschaften interessiert und ihrem Problem, welche Opfer sie für ihre Werte, für ihre Durchsetzungfähigkeit noch bringen können. Nach längerem Nachdenken über dieses Problem bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß Europa eine Entwicklung durchgemacht hat, beginnend mit der Französischen Revolution, in der sich seine Gesellschaften selbst heroisiert haben. Indem sie also Zumutungen, die zuvor nur eine professionell ausdifferenzierte Gruppe, die Krieger, geleistet hatten auf jeden männlichen Bürger einer bestimmten Altersrate übertragen haben. Das ist ein Vorgang, den offenbar alle europäischen Gesellschaften durchmachen mußten, weil sonst diejenigen, die ihn durchgemacht hatten gegenüber denjenigen, die ihn noch nicht durchgemacht hatten, einen uneinholbaren Fortschritt bekommen hätten. In gewisser Hinsicht endet diese Heroisierung 1914/1918. Als die europäischen Gesellschaften den Krieg zu gewinnen versuchten, indem sie sich gegenseitig in Opferbereitschaft übertrumpfen wollten. 

Waren die Gesellschaften unter Mussolini und Hitler demnach schon postheroisch? 

Das waren keine heroischen Gesellschaften mehr. Das waren Versuche der Stiftung von heroischen Gemeinschaften. Da konnte man schon nicht mehr darauf vertrauen, daß aus der Gesellschaft heraus diese Energie, diese Opferbereitschaft kommt. Sondern man muß sie systematisch in Form von Orden – der SS beispielsweise – oder auch von hochgradiger Professionalisierung – Entwicklung von Reichswehr zu Wehrmacht – generieren. 

Dazu half die Mitgliedschaft in der Einheitspartei.

Nach dem Outburst des Ersten Weltkrieges waren nur noch totalitäre Regime als große heroische Gemeinschaft organisierbar. Das gilt für Italien, für das kaiserliche Japan, das nationalsozialistische Deutschland und insbesondere für die Sowietunion. Die westlichen Demokratien mußten von nun an ihre Durchsetzungsfähigkeit mit viel Equipment sicherstellen. Oder aber sie kapitulierten früh – wie Frankreich. In dieser Phase befinden wir uns mittlerweile alle. Jedenfalls im Norden. Das hat Gründe, von denen ich glaube, sie haben etwas mit Geburtenraten zu tun – so es die materielle Seite anbetrifft. Auf der ideelen Seite gibt es eine gewisse Variabilität: Je stärker eine Gesellschaft polarisiert ist, desto weniger spielt die Religion, das heißt die genuine Form der Opferbereitschaft eine Rolle. Das macht die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA aus. Aber im Großen und Ganzen sind wir postheroische Gesellschaften – das heißt: Opfer und Ehre spielen bei uns im Selbstverständnis keine Rolle. Es gibt sicherlich Rituale der Ehrung von Opfern. Aber die sind, verglichen mit dem, was die alten Heroischen Gesellschaften Europas zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkrieges ausmachte – jenem langen 19. Jahrhundert – keine zentrale Rolle. 

Wohin ist eigentlich der Wunsch, ein Held zu sein, verschwunden? Oder wird er bloß aufgestaut?

Ich glaube, daß er bei uns nicht mehr vorhanden ist. 

Ehrlich?

Man möchte natürlich ein Held sein – nicht aber mehr im eigentlichen Sinne von Selbstopferung. Bis auf ganz wenige, in der Gesellschaft auch als pathologisch kommunizierte Ausnahmen, ist  davon nichts mehr zu finden. „Held“ hat sich gleichsam minimiert zu „Star“. Im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen hat sich ja auch in Hinblick auf die Genderfrage ausdifferenziert und ist nun für Männer wie Frauen in gleicher Weise attraktiv. Ich denke, das ist die Form, in der postheroische Gesellschaften ihre Aufmerksamkeitsökonomie organisieren.

Also gilt das Ein Star für Viele“?

„Einer für Alle“ im Sinne des Arnold von Rinkelried, der auf der Brücke die Speere in seine Brust lenkt, damit der Vorstoß der Schweizerischen Fußtruppen gegen die Habsburger Ritterschaft erfolgreich ist – darin läßt sich noch ein heroisches Ideal erkennen. Zentral für den heroischen Gedanken ist die Idee, daß man als Einzelner oder als kleine Gruppe durch das Opfer des Einzelnen den Fortbestand oder die Willendurchsetzung der größeren Gemeinschaft ermöglicht. Das Opfer hat immer etwas stellvertretendes. Das sind die sakralen Wurzeln des Prinzipes. Aber das hat sich natürlich unter den Bedingungen der Nuklearstrategie als unhaltbar erweisen müssen. Da war es ja im Ernst nicht mehr denkbar, daß ein Soldat durch das Opfer seines Lebens die Leben der Vielen rettet und schützt. Schon technologisch war das nun nicht mehr möglich. Eine Nuklearauseinandersetzung in Europa hätte sicherlich dazu geführt, daß die Zivilbevölkerung vor dem Militär zu Tode gekommen wäre; weil das Militär immerhin noch gewisses Equipment besaß. Und dazu kam noch die Erinnerung daran, was es die Europäer gekostet hatte, über das lange Jahrhundert hinweg heroische Gesellschaften gewesen zu sein. Daß es nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Großen Gesellschaften keine Familien mehr gab, in denen es keine Opfer gegeben hatte. Das waren Gesellschaften, in denen die Familien noch viele Knaben gehabt hatten – so daß das emotionale Kapital der Eltern nicht in einem Sohn gebündelt lag. Wo das aber erst der Fall ist, dort sind heroische Gesellschaften nicht mehr möglich. Wenn wir an die Familien aus dem Gaza-Streifen denken, bei denen die Väter – aber auch sehr oft die Mütter – Videotapes produzieren, auf denen sie erklären, warum sie stolz sind, daß eines ihrer Kinder – aber eines von sehr vielen Kindern eben - diesen Gang als Suizid-Bomber gegangen ist. Daraus besteht der harte materielle Kern der Differenz zwischen heroischen und postheroischen Gesellschaften. Ich glaube ja nicht, daß die Theorie des demokratischen Friedens in dieser Form richtig ist, wenn sie besagt, daß Demokratien gegeneinander keine Kriege führen – weil sie Demokratien sind. 

Wer behauptet das denn?

Das leitet sich aus Immanuel Kants Friedensschrift her und ist zum breiten Theorem der vornehmlich amerikanischen Politikwissenschaft geworden. Dadurch hat sich die Idee verbreitet, wenn erst alle Länder demokratisch regiert werden, wird der Krieg verschwunden sein. 

Das geht ja allen Ernstes von dem Glauben aus, die Menschen seien zueinander gut, bloß die Herrschenden treiben sie in den Krieg. 

So ist das. So begründet es auch Kant. 

Worin liegen denn aus historischer Sicht die meisten Kriege begründet?

Kants Überlegung ist: Für die meisten sind die Kosten des Krieges höher als sein Nutzen. Im Vorfeld muß die Staatskasse durch Steuern gefüllt werden, nach dem Krieg drücken die Schulden aufs Volk. Obendrein müssen die Bürger es auch noch selbst ausfechten, so daß, wenn sie selber darüber entscheiden könnten, ob Krieg sei oder nicht sei, „sie sich es gar wohl bedenken werden ein so schlimmes Spiel anzufangen“ – sagt Kant. Dieser Idee liegt die Annahme zugrunde, daß es rationale Interessensmaximierer gibt, die kalkuliert zwischen Kosten und Nutzen unterscheiden und die anschließend zum Ergebnis kommen: Der Krieg ist teurer als jede seiner möglichen Nutzen – also lassen wir die Finger davon! Daran hat Kant geglaubt. Nun ist aber gerade das lange 19. Jahrhundert zur Epoche der Outbursts geworden. Woran Kant nicht gedacht hatte, waren zum Beispiel kollektive Eitelkeiten wie Ehre. Wenn nach dem Ersten Weltkrieg die westlichen Siegermächte hätten realisieren müssen, daß dieser Krieg sie mehr gekostet hatte als er einbrachte – Großbritanien ist vor dem Ersten Weltkrieg die kapitalstärkste Macht. Der größte Gläubiger. Nach dem Krieg sind sie bei den USA verschuldet, und die USA konnten diese Rolle des Kapitalriesen übernehmen. Heute ist es klar: Wer solche Kriege führt, verliert. Egal ob er militärisch gewinnt oder unterliegt. Aus Kants Überlegung entstand die Idee: wenn überall die Bevölkerung, die ja die Kosten zu tragen hat, entscheiden kann, wird der Krieg verschwinden. Im Prinzip glaube ich sogar, daß diese Rechnung aufgehen kann. Ich glaube aber, daß diese Sichtweise sich erst durchsetzen konnte, seit die demographische Entwicklung einen solchen Knick aufweist. Seit man sich nämlich die Vorstellung der Ehrbedürftigkeit gar nicht mehr leisten kann – aus materiellen Gründen. Das Kosten/Nutzen-Kalkül entsteht heute aufgrund knapper Resourcen – zu wenigen Knaben, in diesem Fall. Das gilt aber nicht für Gesellschaften, die, aus welchen Gründen auch immer, rapide demographische Raten haben. Die es sich sozusagen leisten können, Opfer zu bringen – und zwar im großen Stil. Und die möglicherweise auch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Unterlegenheit.

Meinen Sie jetzt konkret den Gaza-Streifen?

Meinetwegen auch Bangladesch. Wenn der UN-Generalsekretär für irgendein Krisengebiet Truppen braucht, steht Bangladesch als erstes auf der Matte und ruft: „Bitte hier!“ Weil die nämlich ihr Militär gar nicht aus dem eigenen Staatshaushalt finanzieren können. Und es sich über die Weltgemeinschaft mitfinanzieren lassen. Deshalb sind immer ein paar Bangladeshis mit dabei. Natürlich auch vor dem Hintergrund: „Und wenn ein paar bleiben… wir sind doch so viele…“ Für uns, als postheroische Gesellschaft wäre das ein Problem. Für uns wird es vor allem dann problematisch, wenn wir von Todesvirtuosen bedroht werden. Von Selbstmordattentätern. Vor allem auch weil die jüngeren Formen des Terrorismus nicht mehr so beschaffen sind, wie Clausewitz das noch prägnant formulieren konnte: Bei ihm war der Krieg noch „ein Messen der moralischen und physischen Kräfte - mithilfe der letzteren“. Der Terrorismus zielt heute aber allein auf die Moral – die ja das einzige ist, woran sich eine in Postheroismus erstarrte Gesellschaft noch festhält.

Wird diese Erstarrung von den heroischen Gesellschaften als Schwäche erkannt?

Durch moralische Tiefschläge läßt sich der Schrecken optimal anzapfen. Postheroische Gesellschaften erschrecken nämlich in besonderer Weise. Wo bei anderen der zentrale Imperativ in Ehre und Opfer formuliert ist, geht es bei uns um Verlängerung des Lebens um jeden Preis. Koste es, was es wolle! Buchstäblich. Deshalb ist die Androhung der Beendigung des Lebens über eine Imaginationsquelle, über Bilder, die uns verfolgen – ob wir nun U-Bahn fahren, ins Flugzeug steigen, in Hochhäusern leben – durch solche uns Tag und Nacht begleitenden Bilder werden wir weich wie Butter gemacht. Dann überlegen wir plötzlich tatsächlich, ob wir nicht besser vor der libanesischen Küste Patrouille fahren sollten, damit die nicht zu uns kommen. Dann setzen wir eine Oper lieber ab, bevor sie ein Mißverständnis provoziert. Wir weichen dann lieber zurück. Wir reden ja ganz gerne über unsere Werte, aber wenn es ernst wird, dann sind wir im hohen Maße bereit, vieles an Werten einzusetzen, damit man uns in Ruhe läßt. Das ist die Schwäche der postheroischen Gesellschaft!

Worin liegt ihre Stärke?

Daß sie sich nicht mehr in furchtbaren Auseinandersetzungen wie dem Ersten Weltkrieg zerreibt. Die Schwäche der Heroischen Gesellschaft war es, daß sie in einen Prozeß der Selbstzerstörung  eingetreten war. Ohne den Ersten Weltkrieg, die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, wäre der Zweite undenkbar. Historisch ist daran nichts neues. Ich glaube, daß man die Welt der griechischen Polis des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, bis ins 4. im Falle von Athen hinein, so ähnlich beschreiben kann. Das heroische Ideal der hellenischen Adelsgesellschaft, das sich in der Ilias noch beschrieben findet, hatte sich verbürgerlicht und in den Bürgerstädten des klassischen Griechenlandes hatte jeder Bürger ein solcher Held zu sein. Was dann aber im Großen Peleponesischen Krieg aufgerieben wurde. 

In der Antike wird es doch aber deutlich, wie das Kriegertum in den Lebensläufen der Männer die Zäsur bringt zwischen Jugend und Erwachsenheit. Das fällt heute ja weitgehend aus. Es leisten ja nur noch bestimmte Teile des Volkes ihren Militärdienst. Der Rest wird Zivildiener. Wenn die postheroische Gesellschaft fortwährend zurückweicht, steht sie irgendwann mit dem Rücken an der Wand. Sind wir eigentlich noch in der Lage, zu schlagen?

Ja, aber wir brauchen jede Menge teures Equipment dazu. Die Interventionen im Kosovo-Krieg geben das beste Beispiel hierzu: Wenn wir uns unerreichbar und unverletzlich machen, indem wir außerhalb der Reichweite von gegenerischen Waffensystemen uns bewegen und das Gefechtsfeld von oben bewirtschaften, also nicht in einer symmetrischen Konstellation fechten, sondern asymmetrisch unsere überlegenen technischen Potentiale einbringen, dann kriegen wir  das schon noch hin. Die Amerikaner sind hierfür die Spezialisten. Der Golfkrieg 1991 war ein geniales Beispiel: Die Verluste der Iraker und der amerikanisch geführten Koalition auf dem Gefechtsfeld standen in einer Relation, das gelegentlich in den Kolonialkriegen noch vorgekommen war. 1898, in der Schlacht von Om Dur Nan, hatten die Briten ein paar Verluste aber die Truppen des Mahdi von Kartum, sudanesische Verbände, starben in den Zehntausendern, weil sie in das Feuer der Maxim-Maschinengewehre hineingeritten und niedergemäht worden waren. Ja, technologische Überlegenheit demonstrieren: Das können wir. Aber jeder, der sich auf dem Schulhof geprügelt hat, weiß: Die eigene Durchsetzungsfähigkeit hängt auch von der des anderen ab. 

Von dessen Kampfgeist?

Wenn der andere sagt „Wir haben zwar keine F16 und auch keine F18, keine Flugzeugträger und keine Cruise Missiles – aber dafür haben wir furchtbar viele junge Männer, die bereit sind, sich in die Luft zu sprengen“, dann wird das für uns zu einem echten Problem. 

Ein Symbol für diesen Heroismus war der unerschöpflich sprudelnde Blutbrunnen, den es in Teheran während des Krieges Iran gegen Irak gab.

Diese Kinder im Iran, die ihre kleinen goldenen Schlüsselchen zum Paradies um den Hals gehängt trugen, um in die Minenfelder der Iraker zu marschieren, Schneisen zu schlagen, in die dann die Iranischen Truppen hineinstoßen konnten – das ist für unsere postheroische Gesellschaften schon aus moralischen Gründen unvorstellbar. Aber selbst wenn dem nicht so wäre: Wir könnten das auch gar nicht leisten – wir haben die Kinder dazu nämlich nicht mehr. 

Und wenn wir diese hätten – ließen sich den Kinderkommandos im postheroischen Europa oder in den USA überhaupt etablieren? 

Nein.

Wer würde dann protestieren - die Kirche?

Na ja: alle. Es wäre ein einziger Aufschrei.

Warum?

Natürlich hat es Kinderkreuzzüge gegeben. Aber das war im 12. Jahrhundert. Und dann gibt es erstens eine starke Vorstellung von der Ineffizienz. Wir sind in ganz anderer Weise darauf geschult, Kriegshandlungen mit Effizienzkriterien zu messen. Das ist das Ergebnis dessen, was Max Weber den Rationalisierungsprozess nennt. Dazu kommt unsere starke Vorstellung von Menschenwürde. Die vielleicht ja religiöse Wurzeln hat, sich aber längst gegen den religiösen Opfergedanken gewandt hat. Unsere Vorstellung von Menschenwürde ist sozusagen die moralische Versicherung gegen die religiöse Zumutung des Aufgeopfertwerdens. Aber das ist bei uns  nun noch nicht so lange her: Langemarck, im November 1914, da hatten wir schlecht ausgebildete Reserveregimenter, die aus Kriegsfreiwilligen und Studenten aufgestellt waren und die gegen britische Berufssoldaten angetreten waren. Die sollten mit ihrem Kampfgeist wettmachen, was Ernst Jünger „das Spiel der Maschinengewehre“ nennt. Nach Kriegsende konnten die Deutschen immerhin einen Opferkult um Langemarck inszenieren. Die Franzosen hatten dafür Verdun, die Briten die Somme. Das waren alles verlustreiche Schlachten, die ohne jede Effizienz viele Opfer gefordert hatten. Das Übermaß der Verluste hat unsere einst noch heroischen Gesellschaften tiefgreifend verändert. Nun gibt es ja kluge Beobachter, die sagen: Wir wollen einmal in die Iranische Gesellschaft hineinschauen und nachsehen, wie es dort mehr als 20 Jahren nach diesen Opfergängen der Kinder ausschaut. Wie sieht die Besuchsfrequenz auf den Märtyrer-Friedhöfen aus? Und diejenigen, die etwas optimistischer sind – auch im Hinblick auf die Durchhaltefähigkeit des Iran in der gegenwärtigen Frage der nuklearen Option – die sagen: Auch im Iran hat das Opfern seine Spuren hinterlassen. Die Angehörigen wissen, jetzt, wo das religiöse Feuer allmählich erkaltet ist, nicht mehr genau, wofür ihre Kinder sich geopfert haben. Von daher könnte man auch vermuten, daß solche Outbursts an Opferbereitsschaft und Heroismus dann hinterher mit einer gewissen Zwangsläufigkeit Gesellschaften hervorbringen, die erstarrt bleiben. Die sozusagen mit Opfern geizen. In der Wirtschaftstheorie gibt es die These von den langen Zyklen. Daß Gesellschaften sich sehr lange auf Gemeinwohl konzentrieren, aber dann stellen sich die guten Effekte des menschlichen Gutseins nicht ein.

Die Belohnungen bleiben aus?

Enttäuschung macht sich breit. Es wird möglicherweise sogar beobachtet, daß Gemeinwohlorientierung dysfunktional ist. Weil es zuviele gibt, die sich als Nutznießer betätigen. Und damit tritt das Gegenteil ein: Die Gesellschaft steuert in eine Phase der verstärkten Orientierung auf Eigennutz. Wenn wir das auf die postheroische Gesellschaft und ihre Furcht vor der Opferung übertragen, würde das allerdings bedeuten, daß nach einiger Zeit auch wir wieder in der Lage wären in die Phase einer heroischen Gesellschaft zurückzukehren. Dann wären wir lange genug im Tal der Opferlosigkeit gewesen, man hisste die Fahne und – wiederum „Koste es, was es wolle“ - würde die „Höhe 215“ genommen. Ich glaube da allerdings nicht daran. Denn als Voraussetzung dafür bräuchten wir andere demographische Reproduktionsraten. Insofern ist, was Europa und die USA betrifft, ein Ende der postheroischen Gesellschaften nicht absehbar. 

Aber die Franzosen zum Beispiel vermehren sich doch munter!

Ja, die Abstände zwischen den Franzosen und den Deutschen sind im Hinblick auf die sozialen Sicherungssysteme bemerkenswert. Aber sie sind im Hinblick auf die Konkurrenzen der heroischen Gesellschaften irrelevant. Im Gaza-Streifen, auch bei den arabischen Israelis, insbesondere bei den Beduinen im inneren Israels, liegt die Reproduktionsrate bei sieben oder acht Kindern pro Familie! 

Ist denn die Reproduktionsrate der Schlüssel zu allem?

Sie ist jedenfalls ein Faktor, den wir lange unterschätzt haben. Das hätten wir nicht tun müssen. Wir hätten ja beispielsweise wissen können, daß die Reroduktionsrate am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch höher war als in Frankreich. Daß die Franzosen deshalb große Angst vor einem weiteren deutschen Angriff hatten und allein deshalb die Militärdienstzeit auf drei Jahre verlängert haben. Daß wiederum das Deutsche Reich dies als einen Akt der Aggression interpretieren mußte: In Deutschland ging man davon aus, demnächst mit einem französischen Präventivschlag rechnen zu müssen. All das war aus der Beobachtung der deutschen Reproduktionsrate entstanden. In Frankreich war sie damals schon unter der Modernisierung der Gesellschaft zurückgegangen. Städte haben ihre Bevölkerung eigentlich nie reproduzieren können. Die Städte des späten Mittelalters und der Renaissance hatten immer die Erfordernis des permanenten Zuzuges. Nun ist Europa im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer einzigen großen Stadt geworden. Wir können uns heute nicht mehr selbst reproduzieren. Die Frage lautet heute: Bekommen wir genügend an geeignetem Zuzug? Natürlich waren früher die Leute aus den bäuerlichen Milieus nicht sofort reif für die Spitzenpositionen in der Stadt. Das dauerte über ein paar Generationen, bis sie soweit zivilisiert und urbanisiert waren, daß sie in die kleinbürgerlichen Schichten einrücken konnten. Vermutlich war das in den orientalischen Großreichen ähnlich – Babylon, Ninive: diese Städte, die sich nicht selbst reproduzieren konnten, weswegen es auch hieß sie seine so sündhaft, dort herrschten Sexualpraktiken, die nicht auf demographische Reproduktion aus sind, sondern eben Sodomie… Insofern halte ich die Reproduktionsrate für einen ganz entscheidenden Faktor. Und bezeichnenderweise reden wir als postheroische Gesellschaft darüber nur in der Frage der Alterssicherung, der Sozial- und Gesundheitssysteme. Aber es spielt auch die Interventionsfähigkeit eine Rolle. Und die sehr viel cooleren Amerikaner halten uns Europäern das gelegentlich auch vor: daß wir aufgrund unserer sinkenden Reproduktionsraten überhaupt nicht mehr in der Lage sein werden, als weltpolitische Akteure diese Rolle auszufüllen, die wir im Reich der moralischen Kommunikation noch glauben, innezuhaben. 

Verliert man denn zwangsläufig seine moralische Hoheit, wenn man nicht mehr intervenieren kann?

Klar. Über lange Zeit ist die moralische Hoheit eine Kompensation dessen, daß man nicht mehr zupacken kann - oder will. Solange die Imagination noch wirkt, daß man ja zupacken könnte, besitzt die moralische Rolle noch Überzeugungskraft. In dem Augenblick, wo man sich nicht mehr entscheiden kann, wirkt die Moral aber nicht mehr überzeugend. Dann wirkt die Tugend aus der Not heraus gemacht. Wer hinter der Tugend die Not erkennt, der lacht nur noch. In der Diskussion mit amerikanischen Intellektuellen und Politikberatern wird das gelegentlich zum europäischen Problem: In einer Diskussion auf Schloß Elmau um die Intervention der USA im Irak sagte Walter Russel Mead zu mir: „Warum sollen wir uns eigentlich Vorschriften machen lassen, über das was wir zu können haben, von Leuten, die selbst überhaupt nichts können?“ Das ist natürlich der Amerikanische Blick auf die Europäer. Die Vermutung ist, wir raten ab, weil wir selbst dazu keinerlei Fähigkeiten haben.

Was wirkt es sich eigentlich auf die Psyche der männlichen Jugendlichen einer postheroischen Gesellschaft aus, daß sie keine Sozialisation im Militärdienst mehr durchmachen müssen? 

Ich bin überhaupt kein Freund der Wehrpflicht. Erstens funktioniert sie nicht nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten – nur noch wenige leisten den Dienst, ungeheuer viele werden ausgemustert. Für Auslandseinsätze kann man sowieso keine Wehrpflichtigen abkommandieren, dafür werden Freiwillige gebraucht. Dazu fehlt uns aber die Einsicht in die Notwendigkeit des Militärs. Helmut Kohl hatte das auf einer Sicherheitskonferenz schön formuliert: „Wir sind umzingelt von Freunden“ - von daher brauchen wir das Militär eigentlich gar nicht. Außer, man ist in den Krisenregionen der Welt engagiert. Von daher glaube ich, daß die Zeit der Wehrpflichtarmeen, die auch eine typische Institution heroischer Gesellschaften war, vorbei ist. Die Amerikaner merkten in der Schlußphase von Vietnam, daß eine solche Intervention mit Wehrpflichtigen nicht zu schaffen ist. Die merkten, daß ihre weiße Mittelschicht zu postheroisch war. Die schlauen Briten hatten die Wehrpflicht schon nach dem Zweiten Weltkrieg wieder abgeschafft. Inzwischen hat das Erfinderland der allgemeinen Wehrpflicht, Frankreich, sie ebenfalls abgeschafft. Das hat dann aber schon Kosten! In Israel beispielsweise hat die Armee in hohem Maße die Funktion, eine ethnisch und kulturell hochgradig disparate Gesellschaft zu integrieren. Das Militär schafft dort gemeinsame Erfahrungen quer durch die Milieus. Die russischen Einwanderer oder die Äthiopier bilden dort ihre eigenen Communities, nicht selten mit einer eigenen politischen Partei, und haben mit dem Rest der Gesellschaft nicht mehr sehr viel zu tun. Und da das Militär in Israel Männer und Frauen in gleicher Weise erfasst, integriert es die Gesellschaft als Ganzes. Man könnte darüber nachdenken, inwieweit wir in unseren Gesellschaften mit den sich entwickelnden Suburbs, eigentlich eine solche integrative Institution nötig hätten. 

Auch als Arbeitsmarkt?

Den jungen Männern nordöstlich von Berlin bleibt ja mittlerweile nichts anderes mehr als ein Job bei der Armee. Und in der Armee ist ja die Phase des Fordismus, des nicht weiter spezialisierten Massenarbeiters, vorbei. Der gewöhnliche Infanterist, das Kanonenfutter, wird nicht mehr gebraucht. Jeder Soldat braucht nun gewisse Fähigkeiten, was dazu führt, daß man viele zuerst sozialisieren oder resozialisieren müßte, um sie einsatzfähig zu machen. Aufgrund ihrer relativ niedrigen Intelligenz bei reichlich sozialen Auffälligkeiten. Die werden gar nicht mehr in die Streitkräfte hereingeholt, weil die Streitkräfte sich nicht mehr als die Agentur der Nachsozialisierung verstehen – die wollen gut ausgebildete, fähige Leute. Das ist in den Vereinigten Staaten übrigens etwas anders. Vor allem dort bei der Marineinfanterie. In Amerika werden Delinquenten teilweise noch vor die Alternative gestellt, entweder in den Knast zu gehen – oder zum Militär. Ich glaube allerdings nicht, daß wir als deutsche Gesellschaft diesen amerikanischen Weg gehen könnten. Soviel an Calvinismus haben wir in Europa nicht intus. Dafür könnten wir keinen Konsens in der Gesellschaft herstellen, daß wir Straffällige zu Panzergrenadieren ausbilden, die wir dann nach Afghanistan oder in den Kongo schicken und wenn sie ich dort bewährt haben – dann haben sie den Weg in unsere Gesellschaft zurückgefunden. Das wird uns leider unmöglich bleiben. Leider, weil wir in unserer Gesellschaft andererseits auch kein Funktionsequivalent dafür haben. Aus den fehlenden Möglichkeiten zur Sozialisierung junger Menschen entsteht uns allmählich ein Riesenproblem. Das Militär hat diese Funktion lange Zeit geleistet. Es kommt nicht von ungefähr, daß die preussischen Lehrer keine der an unseren Schulen mittlerweile üblichen Autoritätskonflikte austragen mußten, da sie noch die Korporäle des großen Königs gewesen waren. Als Unteroffiziere mußten sie ja Lesen und Schreiben können, Disziplin herstellen konnten sie auch – also zog man sie heran, um das Volk zu alphabetisieren. Das ist bitteschön eine Leistung in innerer Staatsbildung, die man nicht unterschätzen darf! 

Mir scheint es augenfällig, wie sehr die Entwicklung der Waffentechnik als Geburtshilfe der Outbursts eine Rolle gespielt haben wird.

Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann heißt das erstens, daß wir nicht mehr rüsten und neue Waffensysteme einführen, weil es einen beobachtbaren Gegner gibt - sondern wir rüsten gegen unsere eigene Angst. Es muß gar keinen Gegner geben. Wir müssen aber soviel Überlegenheit besitzen, daß wir die neuen Barbaren auf Distanz halten können und besiegen können. Auch wenn wir tendenziell nicht mehr in der Lage dazu sind, Opfer zu bringen. Also müssen neue Generationen von Fahrzeugen angeschafft werden – nicht weil irgendein Gegner die angeschafft hat, sondern weil wir sie brauchen. Die Formel heißt dann: Wir müssen für die Sicherheit unserer Soldaten Sorge tragen. 

Waffensysteme sind die Krücken und Prothesen, mit denen postheroische Gesellschaften sich ausstatten, um weiterhin gehen zu können. Das hat gewisse Folgen: Zunächst, daß wir in hohem Maße auf diese Prothesen vertrauen. Donald Rumsfeld war im Unterschied zu Colin Powell der Prophet dessen. Den zweiten Golfkrieg wollte er mit nur noch wenigen Soldaten führen und stattdessen die technische Überlegenheit des amerikanischen Militäres zur Geltung bringen – am Schluß hatte er dann aber viel zu wenige boots on the ground, um den Prozeß der Rekonstruktion in Gang zu bringen. Unter diesen Umständen haben wir zwar große Destruktionsqualität, aber wir haben geringe Konstruktionsfähigkeit. Wir können alles und jeden zerstören. Aber wir können nur in sehr geringem Maße noch positive Ziele durchsetzen. Das konnte man im letzten Irakkrieg sehr gut sehen: Erste Phase, als es darum ging, das Regime zu zerschlagen: genial! Aber danach? Schlecht. Vertrauensbildung besteht nämlich nicht darin, daß man in 12000 Metern Höhe eine Kampfmaschine mit Eiskristallen ihre Kondensstreifen an den Himmel malen läßt – und unten stehen alle in großer Ergriffenheit. Sondern man muß sich am Boden durchsetzen. Neue Strukturen schaffen. Was ungeheuer mühselig ist. Vor allem wird man dort angreifbar. 

Waffensysteme scheinen den Sprachsystemen ähnlich. Wenn der andere unsere Sprache nicht spricht – mit einer Passagiermaschine in eins unserer Kernkraftwerke sich stürzt beispielsweise – läßt uns das hilflos, machtlos, ohne eine Idee auf angemessene Antwort zurück.

Wahrscheinlich könnten wir noch nicht einmal antworten, wenn wir dieses Kernkraftwerk durch entsprechende Luftabwehrbatterien gesichert hätten – was beispielsweise in Italien immer wieder einmal gemacht worden ist. 

Vor allem ist es ja die Gesellschaft, die angegriffen würde. Es wäre unser Atomkraftwerk – und nicht eines in Militärbesitz, das angegriffen wurde von jemandem, der sich selbst aber in keine Gesellschaft zurückverfolgen ließe. Seine Spur verlöre sich im irgendwo eines Phantomes wie Al Kaida. Zurückschlagen könnten wir dorthin aber nicht. 

Als alle politischen und kriegsführenden Akteure noch Staaten waren, als die Verhältnisse noch symmetrisch, vor allem aber überschaubar waren – insofern ein Staat einen Körper ausbilden konnte, der in Territorium, Bevölkerung und verantwortlicher Souveränität bestand – war es noch klar, daß wenn von dem einen Territorium eine Rakete aufstieg, dann wurde dieses Territorium zum Ziel des Gegenschlages, kurzum: gegenseitige Geiselnahme. Man hat es Abschreckung genannt – zu deren Symbol der Kalte Krieg geworden ist. Die Erfindung der entterritorialisierung politischer Akteure in Gestalt von sogenannten Netzen – das ist ja nicht nur Al Kaida. Al Kaida ist eine bewaffnete NGO. Greenpeace ist dem Prinzip nach ein ähnlicher Akteur. Die auf ganz andere Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nutzen, Events produzieren – Brent Spar – darüber natürlich auch Spendenströme in Gang bringen, was bei Al Kaida nach dem 11. September in der arabischen Welt zumindest so ähnlich funktioniert hatte. Das sind Akteure, die in der Tiefe des sozialen Raumes verschwinden. Die deshalb gegen Abschreckung resistent sind. Bei Al Kaida gab es wenigstens noch diese Lager in Afghanistan…

Meinen Sie das „Höhlensystem von Tora Bora“ – gibt es das überhaupt?

Eben! Man weiß es ja nicht. Okay, es hat Ausbildungslager gegeben. Aber wenn die in keiner Weise in den Tiefen unserer eigenen Gesellschaften eingelagert sind – die Hamburger Zelle der Al Kaida war ja ein Beispiel dafür: Man konnte ja deswegen schlecht das Territorium von Hamburg bombardieren…

Für die Bürger von Hamburg war es wohl unbegreiflich, wie ein Vorort ihrer Stadt mit dem 11. September zusammenhing.

Und was sollen die Briten machen mit den Leuten, die ihre U-Bahn attackiert haben? Da haben wir nun unsere Hände mit viel Equipment stark und eisern gemacht – aber es fehlt uns nun der Gegenstand, den wir damit fassen könnten. Denn es gibt ihn in keiner der uns vertrauten Formen. 

Auf einer Europakarte wären wir postheroischen Gesellschaften alle auf den Territorien ausglühender Staaten zu erkennen, als dunkelrote bis schon beinahe schlackschwarze Flecken auf der Landkarte gemäß ihrem Bild. Aber mittendrin ist diese Schweiz – weißglühend entweder oder gefroren? Und in der Schweiz ist ja alles anders: Da hat jeder Mann sein Gewehr im Schrank. Und die Gesellschaft dort ist beides: erstarrt und Heroisch zugleich. 

Man darf der Imagination der Schweizer nicht zum Opfer fallen. Ich bin gelegentlich dort und habe auch mit höheren Offizieren und dem Generalstab des Schweizer Militäres zu tun. Die Schweiz hat ja nun schon seit Jahrhunderten keine aktive Kriegserfahrung mehr gemacht. Der Heroismus der Schweizer Gesellschaft besteht in einer rührenden Imagination – wobei: lange Zeit hat die Schweiz die zahlenmäßig stärkste Armee in Europa unterhalten. Nur in der kurzen Phase als Bundeswehr und Nationale Volksarmee zusammengeführt wurden, und Deutschland auf einen Schlag 800000 Mann unter Waffen hatte, hatten wir mehr als die Schweiz. Keiner von uns kann es sagen, was diese Armee unter Gefechtsbedingungen taugen würde. Vor allem: Gegen wen? Das sind lediglich Imaginationen! Bis 1989 wäre der Feind die Glorreiche Rote Armee gewesen. Die hätten aber die Schweiz gar nicht zu erobern brauchen – in dem Augenblick, wo man die Schweiz von ihrer kapitalistischen Umgebung abgetrennt hätte, wie hätte sich diese Gesellschaft noch erhalten sollen? Die Schweizer hätten sich ihre Sturmgewehre aus dem Schrank holen können – aber mit den gewohnten Verhältnissen wäre es vorbei gewesen. Dazu kommt ein Problem angesichts der neuartigen Bedrohung durch entterritorialisierten Terrorismus: Die Schweizer Soldaten durften ja, sobald sie die Schweiz verlassen hatten, keine Waffen tragen. Das heißt, wenn sie irgendwo auf dem Balkan eingesetzt waren, dann mußten sie von Österreichern bewacht oder beschützt werden. Mit Verlaub: darunter haben die Schweizer Offiziere natürlich gelitten. Das war eine Situation der operativen Demütigung. Das Waffenverbot wurde inzwischen aufgehoben, aber auch das nur sehr zurückhaltend. Die Schweiz verbirgt sich ja hinter ihrem Neutralitätsstatus auf eine Weise, daß man sich gelegentlich schon fragt: „Jungs, meint Ihr das eigentlich ernst?“ Daß man sich nirgendwo in ernsteren Auseinandersetzungen blicken läßt, weil man sich darauf beruft, neutral zu sein. Die Schweiz hat aufgrund der europäischen Geschichte und ihrer Lage eine Luxusposition als Kapitalsammelstelle gepaart mit kriegerischen Imaginationen.

Das scheint diese Gesellschaft aber lebendig zu halten. Vor allem stiftet es eine Gemeinschaft. Das Gewehr im Schrank erinnert ja auch daran, was es kosten wird, ein Schweizer zu sein.

Ja, aber die Selbstmordrate in der Schweiz ist doch verblüffend hoch. In Zürich werden in einem normalen Jahr mehr als doppelt soviele  Selbstmorde beklagt als in Berlin. Und Berlin ist in Deutschland die Hauptstadt der Selbstmörder. Vor allem aber ist Zürich zwanzig Mal kleiner als Berlin – und Berlin hat im Vergleich zu Zürich tatsächlich andersgeartete soziale Probleme! Von daher müßte man in der Schweiz ernstlich darüber nachdenken, ob man das Gewehr zuhause weiterhin zulassen sollte. Zumal es ja wirklich keinen denkbaren Bedrohungsfall gibt, indem eine so rasche Mobilisierung ihrer Streitkräfte erforderlich wäre. Im Falle der Schweiz handelt es sich eher um Folklore und Traditionalismus als daß es etwas mit Effektivität zu tun hat. 

Wenn die Schweiz aus einer imaginär heroischen Gesellschaft besteht, ist Amerika nicht dann nicht die heroische Gesellschaft schlechthin? Seit Vietnam leistet sich doch Amerika immer wieder Schlachten gegen moralische Feinde auf deren Terrain, die seine Gesellschaft unheimlich viel kostet.

Das ist schon richtig, aber es sind bloß ökonomische Kosten und keine Opfer, die gebracht werden. Die Verluste, die die Amerikaner in allen Kriegen nach dem Sezessionskrieg, der sehr blutig war, erlitten hat, sind so furchtbar hoch nicht. Am ersten Tag der Schlacht an der Somme sind so viele Männer gefallen, wie die Amerikaner sie im ganzen Vietnamkrieg verloren haben. Wo bei 1000 Deutschen Männern, die für den Ersten Weltkrieg mobilisiert worden waren 156 gefallen sind, waren es bei denen der Vietnamtruppen ein halber. Diese Relationen muß man sehen. Andererseits ist es richtig: Die Amerikaner verfügen über zwei Faktoren, die sie handlungsfähig halten. Erstens eine Unterschicht, die keine anderen Berufschancen hat als das Militär. Der ungeheuer hohe Anteil von Schwarzen bei der Marineinfanterie – natürlich nicht bei den F16-Fliegern! Und dann hat in Amerika die Religion eine andere Bedeutung, nämlich als Opfergenerator. Ihre Schwäche, die Welt in gut und böse einzuteilen – was eigentlich eine intellektuelle Blockade bedeutet - macht gleichzeitig ihre Stärke aus. Nämlich als motivationale Resource gegen das Böse zu kämpfen. Offenbar sehen wir Europäer alles sehr viel differenzierter und mit sehr viel geringeren intellektuellen Blockaden, weil wir uns dieses Gut-Böse-Schema abgewöhnt haben. Aber dadurch fehlen uns auch die motivationalen Resourcen. Kurzum: Wir sind erstarrt in Reflexivität, während bei den Amerikanern eine Naivität vorherrscht. In der Regel betrachten wir das nur als unsere Überlegenheit und amerikanische Unterlegenheit: „Ach, wie sind sie doch so dumm“ - aber so einfach ist es nicht! Es fallen ungleiche Kosten und Nutzen an. Insofern sind die Amerikaner heroischer. Aber sie sind zu keinem Zeitpunkt eine heroische Gesellschaft wie es Deutschland mal gewesen ist. 

Woran liegt das?

Sie hatten nie solche Formen eines symmetrischen Nationalismus ausgebildet. Die Intensität der Feindschaft von 1914 gegen die Russen, oder gegen die Franzosen als eine Form von Haßliebe, ist auf dem Kontinent Amerika, nachdem sich dort die Federalists durchgesetzt hatten, nicht denkbar gewesen. 

Geographisch ist die Lage Amerikas undankbar hinsichtlich des Heroischen: Man ist dort nicht umzingelt von Freunden - man ist es aber auch nicht von Feinden.

Sie haben es aber auch vermieden. Das Argument der Federalists war ja, daß die Föderation gestärkt werden muß, um nicht eine Entwicklung durchmachen zu müssen, bei der Maine gegen Conneticut Krieg führen wird – wie man es an Europa bezeugt hatte. Der einzige Zwischenfall war eben der Sezessionskrieg, der allerdings dann auch entsprechend blutig und kostenträchtig gewesen war. Die Konfrontationen mit Kanada und Mexiko liefen in ganz anderen Formen, als sie sich in Europa entwickelt hatten. Die Amerikaner haben durch das 19. und 20. Jahrhundert ja durchaus viele und viele kleine Kriege geführt. Gegen die Spanier und die Philipinen, vorher mußten noch die Indianer ausgerottet werden. Dann gegen die Mexikaner in Auseinandersetzungen um den Grenzverlauf. Das waren Kriege, die mit denen Deutschlands in Südwestafrika und Südostafrika vergleichbar sind. Da wurde ja in letzter Zeit wieder etwas darüber geredet, über den Herero-Aufstand und den Leutnant Lothar von Trotha. Das waren aber Kriege, die das damalige Deutschland nicht furchtbar beschäftigt haben; die haben zwar Verluste gekostet, aber die waren nicht so furchtbar hoch. Einen exotischen Krieg mit wenigen Opfern können sich unsere Gesellschaften auch heute noch leisten. 

Welche Krisengebiete kommen denn für die postheroischen Gesellschaften als zukünftige Schlachtfelder in Frage?

Der Gürtel, der sich um die Wohlstandszone herumzieht, der beginnt in Kolumbien, mit den dortigen Kämpfen der Drogenmafia, und zieht sich über eigentlich das gesamte Afrika. Früher hätte ich gesagt, es wird sich im wesentlichen auf das subsaharische Afrika beschränken. Inzwischen zeigt sich aber, Dafour ist hierfür ein Beispiel, die Instabilität der Gesamtsituation: Zunächst der Tschad, es geht dann weit in die Sahara hinein, wird wahrscheinlich auch irgendwann den nördlichen Rand erreichen. Dann wird es noch um Zentralasien gehen, Südasien, dann sorgt der große Pazifik für Frieden aber jenseits dessen liegt wiederum Kolumbien. In dieser doch recht weiträumigen Region, in der Reichtum und Armut unvermittelt aufeinanderprallen; in der teilweise durch das Vorhandensein von Bodenschätzen potentiell gewaltiger Reichtum vorhanden ist, der aber in der Regel ungerecht verteilt werden wird; auch sind es Regionen, wo trotz großer Armut nach wie vor ungeheure demographische Zuwachsraten gezählt werden, so daß alles was vielleicht an Wirtschaftswachstum entsteht, sofort wieder vom Bevölkerungswachstum aufgefressen wird. Saudi Arabien ist ein interessanter Fall: Die waren ja in den 70er Jahren noch schwerreich. Ärmer sind sie heute nicht etwa deshalb, weil der Ölpreis gefallen wäre, sondern weil sie sich zu stark vermehrt haben. Das ist diese Zone, in der die Kriege mittlerweile endemisch geworden sind. Im Unterschied zu den klassischen Kriegen, die mit einer Kriegserklärung eröffnet und mit einem Friedensschluß beendet worden sind, schwelen die Kriege in dieser Zone dahin. Man weiß nicht mehr so genau, wann sie begonnen haben. Der Krieg in Afghanistan hatte nicht mit dem Einmarsch der Glorreichen Roten Armee 1970 begonnen – man weiß es aber nicht so genau, wann denn dann. Oder ob er inzwischen zuende ist? Angola ist wahrscheinlich zuende. Oder es ist dort nur Pause? Gut, Savimbi ist tot – aber wenn wieder so ein Savimbi kommt? Im Kongo, bei den großen Seen, daß das der verlustreichste Krieg in der Nachkriegsgeschichte war, hat sich bis zu uns auch nur sehr langsam herumgesprochen: 2,9 Millionen Tote im Kongo. Manche wissen das bis heute noch nicht. Das ist der Kern des künftigen Problemes: die Kriege haben sich entdifferenziert, es ist auch nicht immer ganz klar, wo die Grenze zwischen organisierter Kriminalität und Kriegführung liegt. 

Die Kriege haben ja scheinbar auch keinen Ort mehr. Sie haben einen Austragungsort. Aber in Black Hawk Down sehe ich eine afrikanische Stadt, in der ein amerikanischer Helikopter landet.  Und daraus entsteht eine kriegerische Auseinandersetzung. Aber es ist ja nicht mehr der Krieg, in den ich ziehe, um mich an einer Front zu schlagen. Und die Amerikaner konnten ja auch geradezu abrupt wieder abreisen, als es ihnen zu heiß wurde.

Dazu zwei Punkte. Der erste: Frontbildung und Schlachtfeld waren abhängig von symmetrischen Akteuren. Gleichartige Akteure, die sich getroffen hatten, um die Sache auszumachen. Asymmetrie besteht genau darin, diese direkte Konfrontation zu verweigern. Das haben die Spanier im Guerillakrieg gegen Napoleon erfunden. Indem sie einfach nicht auf dem Schlachtfeld erschienen waren. Sie verkündigten: Wir dehnen den Krieg über ganz Spanien aus. Und wir dehnen ihn in die Zeit aus. Mao Tse Tung nannte das später „den lange auszuhaltenden Krieg“. So daß die Armee und die Marschälle Napoleons mit all ihren Fähigkeiten keinen Gegner zu greifen bekamen. Sie wurden ermattet. Asymmetrische Kriegführung besteht immer darin, dem Gegner die Konfrontation dort zu verweigern, wo seine Fähigkeiten ausgebildet sind. Und ihn dort zu attackieren, wo er schwach ist. Im klassischen Partisanenkrieg sind das die Nachschublinien und die Verbindungswege. Und im Terrorismus ist es die notorische psychische Inlabilität postheroischer Gesellschaften. Und zweitens: Das abrupte Abreisen ist natürlich nicht ganz unproblematisch. Als die Amerikaner nämlich nach dem Scheitern der Festnahme des Warlords Mohammed Aidid in Mogadischu – wovon Black Hawk Down ja berichtet – die Bilder dieses einen durch den Straßenstaub geschleiften Rangers sehen, da wird Clinton und seiner Entourage klar: Wir müssen hier raus. Und daraufhin waren sie auch relativ abrupt fort. Aber es gibt ein wichtiges Interview, das ein britischer Korrespondent des Independent damals mit Osama Bin Laden geführt hatte, indem dieser sagt: „Wir hätten nicht gedacht, daß die Amerikaner so feige sind.“ Das abrupte Abreisen nach nur 18 Opfern wurde nämlich von denen als Feigheit perzepiert. Daraus folgte für sie: Wenn wir ihnen noch etwas näher aufs Fell rücken, ein paar mehr Verluste produzieren, dann werden sie noch weiter zurückweichen. Da begann die Strategie des Bombings. Zunächst in den Botschaften Ostafrikas – immer in der Vorstellung: Die hauen einfach ab. Und mit dem 11. September wurde es für die amerikanische Politik zum entscheidenden Punkt, etwas zu unternehmen. Weiter zurück konnten sie nicht mehr – das Bombing hatte ja nun die Heimat erreicht. Insofern hat Mogadischu  die Amerikaner furchtbar viel gekostet. Weil so der Gegenseite gezeigt wurde: Ihr könnt bei uns mit ein paar wenigen Mann an Verlusten ganz erhebliche politische Effekte erzielen. Deswegen ist die U-Bahn in Berlin ein tendenzielles Angriffsziel. Terroristen würden vermutlich nicht das militärische Führungszentrum in Potsdam angreifen – wozu? Das würde doch niemanden so furchtbar aufregen. Da würde man doch sagen „Na ja – ist halt deren Berufsrisiko!“ Mit einer U-Bahn treffen sie uns aber wirklich.

Das war doch aber seinerzeit bei uns im Lande genauso, als die RAF – fünfzehn Leute im harten Kern -, relativ kleine Schäden im zivilen Bereich angerichtet haben und dadurch die Gesellschaft erstarren ließen für mehrere Jahre. Das hätte man ja auch nicht gedacht, daß der deutsche Staat sich da so feige verhält.

Der Staat war es aber. So um die Hälfte der siebziger Jahre verhielt er sich feige. Man hatte in München nach dem Anschlag der Palästinenser auf die israelische Olympiamannschaft ein paar Attentäter festgenommen. Die ließ man aber sofort wieder laufen, nachdem die eine Lufthansamaschine entführt hatten – sofort wurde ausgetauscht. Das Verhalten änderte sich erst mit der Botschaftsbesetzung in Stockholm. Und es erreicht seinen Höhepunkt bei Schleyer und in Helmut Schmidts Entscheidung, auch nachdem die Lufthansamaschine „Landshut“ entführt worden war, nicht zu verhandeln, sondern das Kommando der GSG9 hinterherzuschicken und die Sache bewaffnet auszutragen. Das war eine ungeheuer entschlossene Reaktionsform. Ich glaube nicht, daß ein Bundeskanzler Willy Brandt auf heroischer Grundlage entschieden hätte. Hanns Martin Schleyer wurde von Schmidt geopfert – das muß man sehen. Ein Opfer für die Staatsraison. Friedrich Zimmermann, der für die CSU im Krisenstab saß, bekannte, man habe sich dort ganz gut verstanden, weil es alles ehemalige Wehrmachtsleutnants gewesen waren. Daß die sich in dieser Situation in einen Gefechtsstand zurückversetzt sahen, und in eine Lage unter feindlichem Beschuß haben hineinimaginieren können, war der heroischen Haltung dienlich. Diese Generation ist aber nicht mehr in der Politik. Und ob wir solche Nervenstärke heute überhaupt noch aufbringen können – ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Für Schmidt zumindest und einige andere war die Erinnerung des Zweiten Weltkrieges eine Resource der Nervenberuhigung, des cool down. 

Das erscheint mir als ein wesentlicher, dritter Faktor für die Zukuft postheroischer Gesellschaften: Die künftigen Generationen leben ja immer weiter entfernt von der heroischen Vergangenheit. Gibt es da überhaupt noch einen Weg zurück?

Es gibt eine Form des Festhaltens der Vergangenheit in institutionell aufgespeicherter Klugheit. Was wir Deutsche ja gerne als „Lernprozesse aus der Geschichte“ bezeichnen. Trotzdem hat jede Gesellschaft die Chance neu anzufangen, neue Entscheidungen zu treffen. Aber je länger Generationen leben, und je höher der Anteil der Alten in einer Gesellschaft sind, je geringer sind die Spielräume des Neubeginnens. Das ist eine Sache, die man nicht unterschätzen sollte: Die Erfahrung einer Gesellschaft, eine große Herausforderung bestanden zu haben. Das sind Resourcen des kollektiven Gedächtnisses, auf die man sich positiv bezieht. In Form von Erinnerungen, in Gründungsmythen. Zur alten Bundesrepublik gehört ja „Der Tag von Bern“, 1954, als Deutschland Fußballweltmeister wurde. Das wird als die eigentliche Gründung der Bundesrepublik Deutschland gespürt – das Wirtschaftswunder war nur Substruktur und die Bindekraft. Aber sagen zu können: „Ja, okay, wir können auch bestehen, wenn wir zu fairen Bedingungen gegen einen gleichartigen Gegner antreten. Wir sind nicht auf ewig die Geschlagenen von ‚45.“ Wenn man dazu bedenkt, daß ja viele aus der Weltmeistermannschaft von ‚54 noch bis ‚45 die Uniformen der Wehrmacht getragen hatten, dann erkennt man in diesem Fußballsieg sozusagen eine Form der psychischen Regenerierung. Und über lange Zeit hat dieser Sieg eine Bedeutung gehabt, den spätere Erfolge der deutschen Mannschaft nie mehr einholen konnten. 

Versucht wurde es aber zumindest, den Tag des Mauerfalls am 9. November ‚89 zu einem Mythos zu erklären. Das funktioniert aber überhaupt nicht. Das Heroische an diesem geschichtlichen Moment wird doch nur ganz, ganz verhalten gespürt.

Ja, nun wurde aber auch der 9. November nicht zum Naionalfeiertag gemacht, sondern wir sind auf den 3. Oktober ausgewichen. Was, im Nachhinein betrachtet, keine glückliche Entscheidung gewesen ist. Wir haben auch nicht die Fähigkeit besessen, den 9. November so gut zu erzählen, daß er die Qualität eines Gründungsmythischen Ereignisses bekommen konnte. 

Stattdessen wurde erklärt, daß die Mauer ja sowieso aufgegangen wäre.

Ja! Und die DDR sei ohnehin pleite gewesen, und die Russen hätten auch keine Lust mehr gehabt – insofern hat die Bewegung an sich keine große Rolle mehr gespielt. Das muß man sich schon vor Augen halten: Das mag ja alles wahr sein! Die DDR war wirklich pleite, die Russen hatten wirklich keine Lust mehr, aber der Sturm auf die Bastille war ja auch nicht das, wozu er erklärt wurde. Da sind ein paar invalide Soldaten gewesen - Gefangene gab es längst keine mehr in der Bastille - und am Schluß haben sie die armen Wächter nach deren Kapitulation auch noch massakriert. Aber welche Geschichte haben die Franzosen sich daraus gemacht! Welche Geschichte! Das haben wir verabsäumt. Man hat das aber versucht: Erstmals in der Deutschen Geschichte hatten wir eine gelungene Revolution – 1830/32 das war nichts, ‚48/‘49 auch nichts, ‚18/‘19 auch wieder nichts – 1989: endlich und jetzt! Aber wie soll ich sagen? Die Skepsis und der Dekonstruktivismus, die waren zu mächtig. Es hätte einer zutiefst postheroischen Gesellschaft auch zuviel zugemutet, sich ein solch heroisches Epos ins Zentrum rücken. Deswegen hat es eben nicht geklappt.