Kanzlerstadt Hannover

Reportage
zuerst erschienen 2006 in der Welt am Sonntag

Die Adenauerallee führt am Rande des sogenannten Zooviertels von Hannover entlang. Der namensgebende Zoo erstreckt auf der anderen Seite, hinter den Gleisen der Straßenbahn. In den Villen der Adenauerallee haben sich vornehmlich Rechtsanwälte  und Notare, sowie Steuerberater niedergelassen. In dem weißen Haus mit der Nummer 10 firmiert die Kanzlei „Götz Werner von Fromberg und Collegen“. Auf dem gläsernen Firmenschild wird als Untermieter der Rechtsanwalt Gerhard Schröder aufgeführt. Hinter seinem Namen befinden sich vier kleine Sterne, die auf eine Unterzeile hinweisen: „**** Übt seinen Beruf z.Z. nicht aus (Art. 66 GG)“. Der Artikel 66 des Grundgesetzes wurde 2002 geändert und erklärt es seitdem für unzulässig, daß der Bundeskanzler ein besoldetes Amt, ein Gewerbe oder einen Beruf ausübt.

Was aber wird sein, wenn die vier kleinen Sterne mitsamt ihrer Unterzeile entfernt werden? Wenn Gerhard Schröder nicht mehr Bundeskanzler sein wird und als Rechtsanwalt wieder Gewerbe treiben darf? Was wird dann aus Hannover, der Kanzlerstadt? Eine Stadt der Anwälte, Notare und Steuerberater ist sie ja seit längerem schon. Leidet Hannover eigentlich unter diesem drohenden Bedeutungsverlust?

Die Plathnerstraße führt durch die Mitte des Zooviertels bis hin zu dem Braunschweiger Platz. Es ist eine zunächst kleine Straße, die von beiden Seiten mit Platanen bestanden ist, eine kurze Allee. Vor dem Getränkemarkt, dessen Gebäude der Talstation einer Seilbahn ähnlich ist, hat die Ortsgruppe der SPD ein Schild aufgestellt. Das Plakat ist mit bunten Filzstiften gestaltet, darauf steht: „Hannover ist: Messestadt Expostadt Kanzlerstadt“. Die Expo fand statt vor fünf Jahren. Das Messegelände mit eigenem ICE-Bahnsteig liegt etwas außerhalb und wäre wohl längst in Vergessenheit geraten, wenn nicht kürzlich in einer holländischen Zeitung ein empörter Artikel erschienen wäre, wie schamlos die Hannoveraner den holländischen Pavillion herunterkommen ließen. 

Bleibt dann noch Messestadt. Die Messen in Hannover gibt es seit 1947. Über die Messen in Hannover ist ja viel zu wenig bekannt. Bekannt ist, daß es in Hannover sogenannte Messemuttis gibt: Alleinstehende Frauen, ganze Familien, die zu Messezeiten einen Teil ihrer Wohnung an Handlungsreisende vermieten. Und in der Innenstadt, rund um das Steintor, gibt es Nachtbars und Peepshows, die ebenfalls von den Besuchen der Handlungsreisenden zehren wollen. 

Im Mai war Hannover die Stadt des 50. Kirchentages, die Messemuttis vermieteten an die Kirchentagsreisenden und nicht wenige von ihnen stromerten tagsüber durch die Plathnerstraße, aber nicht um zur schönen Friedenskirche zu pilgern, sondern um sich das Wohnhaus ihres Bundeskanzlers aus der Nähe anzusehen. Das Haus ist bekanntlich ein Reihenhaus, der Block steht in Nachbarschaft zu der Talstation. Eine recht hohe Mauer nimmt einen Großteil der Sicht, dennoch stellten sich die Christenmenschen auf der gegenüberliegenden Straßenecke auf, um sich gegenseitig vor dem Hintergrund dieser Mauer mit ihren Telefonen zu fotografieren. 

Solche Szenen finden selten statt in der Plathnerstraße. Die Bewohner des Zooviertels mögen ja ansonsten vieles sein – schaulustig sind sie nicht. Der Korridor aus Sichtblenden, der anläßlich des Besuches von Vladimir Putin vor dem Eingang des Kanzlerhauses aufgestellt worden war, es hätte ihn eigentlich nicht gebraucht; überdimensioniert wie der Wagen des russischen Präsidenten, der beinahe zu lang gewesen war, um noch in die Plathnerstraße einbiegen zu können.

Der abendliche Staatsbesuch hat damals für Unmut gesorgt. Die Bewohner des Zooviertels konnten die Plathnerstraße schon frühmorgens nur noch unter Vorlage ihres Personalausweises betreten. Die Plathnerstraße hat aber neben dem Wohnort des Kanzlers noch eine wesentliche Funktion: Gegenüber der Talstation nämlich befindet sich der einzige Supermarkt des Viertels. Der berühmte „Kasper“, ein Edeka, in dessen kurios engen Gängen sich tatsächlich alles finden läßt, was man zum Leben braucht – sogar Torf. Kasper ist berühmt, seit dem 31. Januar 2002, als in der 1035. Ausgabe der Harald-Schmidt-Show ein Interview mit Frau Kasper gezeigt wurde. Frau Kasper aber findet den  Kult um den Kanzler-Markt völlig überzogen: Familie Schröder kauft dort nämlich nichts „Die fahren zu HL“. 

Neben Kasper auf dem Verteilerkasten sitzend, läßt sich an jedem neuen Tag eine bis auf die Minute pünktliche Prozession der Laufkundschaft beobachten. Einige schieben den Gehwagen, das Zooviertel ist von der Überalterung seiner Bevölkerung gezeichnet. Es ist leicht vorzustellen, welche Aufregung ein auch nur stundenweise verhängtes Durchgangsverbot der Plathnerstraße mit sich bringt. 

Das Wohnen der Familie Schröder in der Plathnerstraße provoziert die Hannoveraner aber noch in seiner stillsten Form. Das hat mit einer speziellen Gemütslage zu tun und einer Gesinnung, die waschecht und eben hannöversch ist. Theodor Fontane drückte es in seiner Novelle „Schach von Wuthenow“ folgendermaßen aus: „Hannover ist der Sitz der Stagnation, eine Brutstätte der Vorurteile“- der Text ist aus dem Jahr 1882, aber Fontane hat damit bis heute Recht. Das wird den Fontane-Fan Marcel Reich-Ranicki freuen, ein anderer Literaturkritiker, Hans Mayer war einige Jahre an der Hannöverschen Universität bestallt und zeitlebens bestand er darauf, sich als „Hannoveraner auf Widerruf“zu bezeichnen. Vielleicht ist Hans Mayer ja oft mit dem Taxi gefahren, vielleicht aber wurde es ihm zugetragen, wie die Taxifahrer über ihn geredet haben. Steigt man heute am Hauptbahnhof in ein Taxi und nennt dem Fahrer die Plathnerstraße als Ziel, kann man sich während der Fahrt von sieben Minuten auf ein krudes Gemisch aus Privatquatsch und Mutmaßungen über, bishin zur Pöbelei gegen Familie Schröder gefasst machen. Der Bundeskanzler wohnt zwar lediglich dort, glaubt man aber den Taxifahrern oder einigen Anwohnern, dann hat er das Zooviertel auf dem Gewissen. Die Baustelle am Emmichplatz ist eine von ihm ausgeheckte Sabotage am schönen Straßenverkehr. Das Halteverbot in der Plathnerstraße ist Wichtigtuerei. Dazu haufenweise Einbahnstraßen und das alles nur wegen eines Mannes. 

Stagnation bedeutet, das alles so bleibt wie es ist. Vorurteile entstehen aus der Furcht heraus, daß sich die eigene Lebensart als falsch erweisen könnte. Die tadellos gepflegte und gekleidete Frau in ihren sechzigern überrascht als Passantin mit Hund durch ihre hemmungslos geäußerte Meinung: Gerade noch spricht sie über ihren Labrador, schon kommt sie auf eine Begegnung mit einem hundehaltenden Türken zu sprechen, neulich nachmittag im Stadtwald, der Eilenriede am Anfang der Adenauerallee. Mit ihm war sie ihn Streit über die Leinenpflicht geraten, ihm hatte sie gedroht, daß er als erstes „in den Gasofen“ geworfen werden wird. Sie erzählt es ganz ernsthaft, sie erwartet nun Zustimmung und als diese ausbleibt, zeigt sie sich enttäuscht.

Hannover besteht aus mehr als dem Zooviertel. Es ist eine Provinzstadt, deren Geschäfte ein verblüffend komfortables Angebot zu bieten haben. Die Sache hat nur einen Haken: Es gibt in Hannover keinen Ort, an dem Sie ihre neuen Kleider vorzeigen können. Es gibt keinen Platz, kein Café, kein Restaurant, in dem sie ihre Leseerlebnisse diskutieren können, wo man sich trifft. In Hannover gibt es dieses man nämlich nicht. Gewiß, die Stadt ist kultiviert. Viele ihrer Häuser sind schön. Das Britische ist noch stark zu spüren. Aber die Bewohner der Stadt pflegen keine Kultur – von dem größten Schützenfest Europas einmal abgesehen, von dem Maschseefest und ein bißchen Museum und Theater hier und da. 

Ricus Aschemann, der in der Innenstadt zwei schöne Stehcafés betreibt, sagt, daß es in Hannover schon immer so war. Aschemann ist 41 Jahre alt und hat lange in Paris und Berlin gelebt. Nach Hannover ist er zurückgekommen, weil diese Stadt seine Heimat ist. Daß Hannover einen Bedeutungsverlust erleben wird, wenn Schröder nicht mehr Kanzler ist, das glaubt er nicht. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie Gerhard vor zehn Jahren mit seiner Frau Hiltrud auf Konzerte kam. Ohne Bodyguards. Wenn der jetzt wieder Anwalt würde, dann sei er wie alle anderen. Ein 96er Fan. 

Das ist nämlich das eigenartige an Hannover: Außer der Ortsgruppe fürchtet hier niemand den Bedeutungsverlust. Im Gegenteil: Sie können es kaum noch erwarten.