Suppenküche auf dem Viktualienmarkt

Reportage
zuerst erschienen 2000 in der Regionalausgabe der Welt am Sonntag (München)

Der Stadtmensch redet allgemein weniger als der auf dem Land. Der Fotograf zum Beispiel ist in Laim aufgewachsen und so hieß dann auch einmal eine Ausstellung seiner Bilder in der Galerie Mosel & Tschechov: „Laim“. Er fotografiert bekanntlich viel und gerne, der Fotograf; das Reden ist nicht so seine Sache. Wo aber trifft sich der Stadtmensch, wenn er reden will? In der Gaststätte – klar, aber was ist, wenn er mal tagsüber, so zwischendurch, vielleicht mitten auf der Straße oder beim Überqueren derselben ein sehr starkes Redebedürfnis spürt? Bleibt er dann etwa einfach stehen und klopft irgendwem Wildfremden an die gepolsterte Schulter, räuspert sich dem ins Gesicht und fängt sofort an mit: „So! Und WIR reden jetzt einfach!“?

Klar auch, das es so einfach nicht sein kann. Völlig klar, dass einem so einer als komplett irr oder noch schlimmer: gemeingefährlich, vorkommen würde. Wegschubsen würde man ihn. Einen Bogen machen um ihn, immer wenn er wieder auftaucht.

Wo also, bitte, geht’s hier zum Reden?

Bei Woody Allen kann man unter anderem lernen, dass der Stadtmensch nur mit seinem Analytiker redet. Mit Frauen und Freunden wird auschließlich gestritten. Mit wem der Fotograf redet? Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Zum Reden gehe ich jedenfalls immer zum Metzger. Der heißt Walter Steininger und sein Geschäft in der schönen Kanalstraße „Walters Wurstladen“. Das klingt schön ehrlich und täuscht nichts vor, was man hinter der Wurstladentür gleich wieder vermissen könnte. Im Gegenteil: Es gibt dort im Laden nicht nur die versprochene Wurst - aufgeschnitten oder am Stück, sondern auch Käse, Fanta, warme, von Walter und seiner Frau gekochte Mittagessen und Espresso – von Walter gebrüht und in Tassen serviert; zum Mitnehmen auch gemahlen oder in noch heilen Bohnen. Und das ist immer noch nicht alles: 

Steht in den Zeitungen nachts was vom Rinderwahn, gibt es am nächsten Morgen panierte Putenschnitzel im Wurstladen. Und darüber kann man dann ganz herrlich mit Walter Steininger diskutieren. Da schafft er nämlich mir eine natürliche Einladung zum Reden mit seinen reaktionsschnellen Putenschnitzeln (Die Analytiker nennen so etwas, glaube ich, „Goldene Brücke“).

Und falls das nicht reicht, kommt immer im richtigen Moment der immerselbe leicht übergewichtige und namenlose Speditionsmitarbeiter mit einem demonstrativen „Grüß Gott!!“ in den Laden und weiß etwas, oder redet einfach nur so herum. Neulich zum Beispiel hatte er einen Witz, der spielte in einer Bar, in die ein Mann kommt, der ein bierflaschenfarbenes Krokodil unter dem Arm dabeihat. Leider musste ich aber ausgerechnet da kurz vor der Pointe gehen, weil ich mit dem Fotografen auf dem Viktualienmarkt verabredet war.

Er saß hinter dem Planenfenster unter der Gästemarkise der Suppenküche. Selbstverständlich hatten wir uns auch genau dort verabredet, sonst hätte ich ihn ja niemals gefunden, bei dem Gewusel auf dem Markt! Ich nickte ihm grüßend zu, aber er telefonierte gerade und deshalb stellte ich mich gleich um Suppe an und bestellte ein Lüngerl für mich und Brokkolicreme für den Fotografen (er mag es nämlich nicht so gern sauer und Innereien eigentlich überhaupt nicht; am liebsten mag er italienisch, und wenn das nicht geht: dann cremig oder wenigstens sämig).

Gerade balancierte ich das Tablett auf den Tisch hinunter, da lenkte mich ein gurgelndes Erstickungsgeräusch ab: Am Stand der „Bäckerliesl“ gleich nebenan hatte sich ein verzweifelter Kunde fest ins Thekenbrett verbissen, weil ihm sein Vorgänger das letzte Bauernkrustenbrot (doppelt bekömmlich durch zwiefache Backzeit) vor der Nase weggekauft hatte – na ja, es war ja auch schon nach Mittag.

Der Fotograf, abgelenkt duch sein immer wichtiger werdendes Telefonat, biß krachsplitternd in seine Schnitte Bauernkrustenbrot, dass ja glücklicherweise in der Suppenküche Scheibenweise bis Ladenschluß zur Suppe verkauft wird. Ohne etwas vom nebenan Geschehenen mitbekommen zu haben, lachte er mit seinem Mund voller Bauernkrustenbrot ein höhnisches „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“ in Richtung seines Telefons.

Zuerst dachte ich, es seien Brotreste, die mir aus dem Fotografenmund um die Ohren fetzten. Aber es waren dann doch nur die Schneidezähne des am Tresen Festgebissenen, die durch den einsetzenden Veitstanz zersplitterten und in alle Richtungen davon spritzten.

„Hmm“, sagte der Fotograf nach seinem ersten Löffel Suppe „Das schmeckt ja wie Laim!“

„Was bedeutet dir eigentlich Laim?“, fragte ich mit einem Mund voll des besten Lüngerls der Stadt.

„Laim bedeutet Heimat“, schrie der Fotograf gegen die Martinshörner an „Heimat und Aufwuchs.“

Den Rest des Tages haben wir geschwiegen.