Als wär's ein Teil von dir, my love

Essay
zuerst erschienen am 6. Juni 2010 in Welt am Sonntag
Wenn wir jemanden vermissen, trösten wir uns mit Dingen, um mit der Sehnsucht zurechtzukommen. Mit Fetischismus hat das nichts zu tun.

Linus van Pelt erscheint interessanterweise als die am wenigsten neurotische Figur unter den Peanuts. Interessant deshalb, weil er nur in wenigen, extrem grausamen Szenen der Comics ohne sein Schnuffeltuch zu sehen ist. Die Beziehung von Linus und Schnuffeltuch ist sehr eng. In einer Episode, als seine Schwester Lucy eine feierliche Feuerbestattung des Tuches inszeniert, erleidet der hilflose Linus Qualen, die mit dem Schmerz des Vermissens eines geliebten Menschen identisch sind.

Unter Erwachsenen würde Linus als Fetischist bezeichnet. Seine Liebe zu einem Objekt würde als fehlgeleitet empfunden. Zwar ist ungeklärt, wie alt Linus, wie alt Lucy oder Charlie Brown zur Erzählzeit der Comicstrips sind - doch dass sie als Kinder betrachtet werden dürfen, sichert ihnen den Bonus der Unschuldigkeit. Und ein Schnuffeltuch erscheint harmlos, nicht als ein Fetisch, der unterschwellig stets mit der Aura des Perversen verknüpft wird. Charles M. Schulz, der sich die alterslosen Peanuts ausgedacht hatte, erfand auch den hübschen Begriff „security blanket“, als das ein Schnuffeltuch im englischen Sprachraum seitdem bezeichnet wird.

Doch welche Sicherheit bietet Linus sein unverzichtbares Tuch?

Da vorausgesetzt werden kann, dass es sich bei Linus um ein Kind handelt, befindet er sich in einer Übergangsphase - noch nicht von der Mutter entkoppelt, in deren Leib er immerhin über neun Monate wohnte und schlief. Der frostige Begriff des seelischen Abnabelungsprozesses kommt hier zum Tragen. Ab einem gewissen Alter soll aus einem Mamakind ein „Nur-noch-Kind“ werden. Es ist gewissermaßen eine zweite Geburt, allerdings wird auch diese nicht von allen Kindern als problemlos empfunden. Zwar klingt der Begriff einer seelischen Abnabelung irritierend leicht durchführbar (durch einen klaren Schnitt) - doch ist es, da es längst keine materielle Verbindung zwischen Mutter und Kind mehr gibt, tatsächlich ein mitunter langwieriger Vorgang, der sich sogar traumatisch gestalten kann.

„Die Mutter bestreiche sich die Brust mit bitterer Salbe“, lautet einer der Erziehungstipps im Alten Testament: So, behauptet der Text, sei die seelische Abnabelung des Kindes von seiner Mutter durchzuführen. Von den Phantomschmerzen, die einem Kind entstehen können, ist freilich nicht die Rede. Die Psychologie ist eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts - als der Glaube nicht mehr weiterhalf.

Das „security blanket“ des Linus van Pelt wird im Vokabular dieser jungen Wissenschaft als „transitionales Objekt“ bezeichnet. Der Begriff beschreibt die Funktion zum Beispiel eines Schnuffeltuchs als Ersatz für die ersehnte Zuwendung der Mutter in jenem mulmigen Schwebezustand zwischen süßem Milchfluss und der Bitterkeit des Alleinseins (mutterseelenallein). Das Schnuffeltuch wird, trotzdem es nur ein Gegenstand ist, vom heranwachsenden Kind beatmet; dabei saugt es den Duft des Gewebes ein, es schmiegt sich in die Falten des Tuchs. Die Pfannkuchenhaftigkeit des Schnuffeltuchs lässt an eine schillernde Wortschöpfung des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan denken: Für die Gestalt des Begehrens erfand dieser den Begriff des „Hommelettes“ - einer Kreuzung aus Mensch und Pfannkuchen offenbar, der es mit den Mitteln von Schmiegsamkeit und flacher Form gelänge, unter der Tür hindurch ins Schlafzimmer einzudringen, um sich einem dort Träumenden über die Nasenlöcher zu breiten. So gesehen begegnet das schnuffelnde Kind mit dem Tuch seinem Begehren nach der Mutter, von der es seelisch abgenabelt werden soll.

Wenn es nicht die Mutter ist, sondern eine Frau oder ein Mann, wenn der Mensch nicht mehr Kind ist, sondern erwachsen, verliert die Liebe zum transitionalen Objekt ihren unschuldigen Charakter. Hat es jemand beispielsweise nötig, beim Gefühl des Aufkommens einer innerer Unruhe sich einen bestimmten Pullover überzustreifen (weil dieses Kleidungsstück an eine Begebenheit mit der vermissten Person erinnern lässt), sich mit einer Creme zu pflegen (weil es Kosmetik ist, die auch von der vermissten Person verwendet wird) oder sich sofort ein bestimmtes Tellergericht kommen zu lassen (weil es sich dabei um der vermissten Person Leibspeise handelt), sind dies alles Handlungen, die identisch sind mit dem Griff zum Schnuffeltuch. Allerdings - Hölle des Erwachsenendaseins - verbietet sich das, „the real Stoff“ sozusagen, von selbst. Regression wird halt leider mit geistiger Störung gleichgesetzt. Außerdem ist es im wünschenswerten Fall nicht länger die eigene Mutter, die jemand schmerzlich vermisst, sondern ein - zumindest potenzieller - Geschlechtspartner.

Was den Bilderbuchfetischisten, der beispielsweise an Schuhe denken muss, um in Ekstase zu geraten, mit dem Übergangsobjekt-Benutzer eint, ist die Heimlichkeit, in der er seine Handlung vollziehen will.

Zwar ist, von außen betrachtet, davon nichts wirklich zu erkennen - doch das Verzehren eines Sauerbratens mit Nudeln und Knödeln kann einen Moment größtmöglicher Intimität bedeuten, wenn es sich bei diesem Gericht um besagte Leibspeise des vermissten Menschen handelt; dieser Sauerbraten also die Funktion eines transitionalen Objekts innehat, dem sich der Esser sozusagen liebevoll widmet - und das nicht erst durch das Einverleiben, sondern schon während des Aufsuchens des Restaurants, durch das Bestellen des einzig Möglichen et cetera: Die Beschäftigung mit all diesen Vorgängen rund um das Übergangsobjekt wird als Beschäftigung mit dem abwesenden Menschen erlebt, dessen Nähe eigentlich von größter Wichtigkeit wäre, warum auch immer das dann gerade nicht möglich ist.

Diese gehirnliche Leistung ist die Königsdisziplin der Vorstellungskraft. Romaneschreiben, das blöde Ausdenken von gleichwie opulent ausgestatteten Phantasmagorien à la „Herr der Ringe“ oder „Alice im Wunderland“ sind ordentlich, aber nichts im Vergleich zu der kindlichen Selbsthypnose vermittels eines quadratischen Stücks Windeltuch. Oder dem Besänftigen der quälenden Sehnsucht durch die Beschäftigung mit einem Sauerbraten samt Knödel und Nudeln. Oder dem Sich-Einsprühen mit des anderen Parfum; dem bloßen Betrachten des Anzeigenmotivs dieses Parfums; dem Anhören eines Songs („unser Lied“).

In der jährlichen Umfrage der Wissenschaftsplattform edge.org ging es in diesem Jahr um Antworten auf „Was wird unser Leben noch einmal richtig verändern?“

Der 87-jährige Physiker Freeman Dyson aus Princeton bedauerte, es selbst nicht mehr erleben zu können, glaubt aber an eine Revolution durch Radiotelepathie. Bei dieser Technologie wird das Gehirn von Mikrowellensensoren ummantelt werden, die jede neuronale Aktivität registrieren und - an einen anderen Menschen versenden können. Es wird dann möglich sein, zu erleben, was und wie ein anderer Mensch denkt; was und wie ein anderer Mensch fühlt. Man wird auf eine kaum vorstellbare Weise innig verbunden sein mit einem anderen Menschen. Man wird ihn, so Freeman Dysons Hoffnung, zumindest: tatsächlich verstehen.

Bis es zu ersten Tests kommen kann, müssen laut Dyson noch zwei marginale Technologien erfunden werden. Er geht davon aus, dass es noch 80 Jahre dauern wird, bis die ersten Radiotelepathie-Probanden große Augen machen werden.

Aber was diese gehirnliche Übertragungsleistung angeht, sind Übergangsobjektbenutzer dem Ganzen bereits recht nah.