Kassel
Zu acht stehen sie nebeneinander im engen Raum unter der Keule. Von hier aus, durch die Luken holt der Blick dieser dort Stehenden wie auf ein Wort weit aus und streift erst links, dann rechts über die bunten Flanken des Habichtswaldes, pendelt nun zurück zur Mitte und rollt über die Kaskaden hinunter wie ein Maßband aus Wasser – vom Riesenkopfbassin an sind es noch 250 Meter, über die 6 Meter 40 breite Bahn. Gegenläufig wachsen dem sich entrollenden Blick Treppenstufen entgegen, von beiden Seiten her 842 Stück. Dann der Sturz des an seinem Ursprung noch achtfachen, jetzt zum Strahl gebündelten Blicks: 6 Meter tief fällt er in das grob herzförmige Bassin um die Grotte des Neptun. Der Wassergott schweigt. Er ist aus Stein.
Wie überhaupt alles hier um Neptun, die Grotte, die Kaskaden herum: Das Oktagon dort oben, achtundzwanzigeinhalb Meter hohes Schloß des Riesen Herkules, der in taugrün an dessen Spitze triumphiert. Auf seine Keule gestützt, 8 Meter und 25 Zentimeter hoch und als Ganzes aus dem Kupfer getrieben vom Goldschmied Johann Jacob Anthony aus Augsburg; die Vexierwassergrotte darunter, Höhle des steinernen Pan, dessen Flöte das Wasser einst noch lockende Töne abpresste, in dessen Nische der Wanderer von überall her von verdeckten Röhren mit Wasser erschreckt wird, um so getrieben zu werden in den Schoß der Statue des Pan und seiner Gesellen – links: Neid und rechts: Tod; und gleichfalls aus Stein sind Riesenkopf und Riesenbrust im Bassin vor der Grotte: Riesenreste des Encelades, zerquetscht von einem Haufen Steine, die Herkules von der Spitze der Burg her nach ihm geschleudert haben sollte. Soll zeigen: Der Sturm der Riesen nach dem Olymp ist damit abgewehrt oder -wendet. Herkules war siegreich, Encelades ist der Besiegte – jetzt nur noch ein letztes, das ihm bleibt, seinem Bezwinger zu entgegnen: er prustet eine Fontäne aus Wasser – was sonst? hier? – nach ihm in den Himmel, knappe 13 Meter hoch.
Ein Gigantenspiel, versteinert, in Tuffstein gefroren. Die Welt hier: Fantasie, die nimmer verfliegt.
Fantasie eines Mannes, des Landgraf von Hessen, Vorname: Karl. Den wir uns vorstellen müssen wie einen spielenden Bub auf der Matte in seinem Zimmer, der ganz erhitzt ist und heiß vom Spielen und der nach den Gesichtern am Türspalt ruft: „Gleich! Noch ein bisschen! Nur ein kleines bisschen noch.-“ Einen also, der keinen Schluß findet, der es liebt, wenn ihm das Spielgetöse über dem Kopf zusammenschlägt, der gerne versinkt.
Einen Schlossbewohner also, dem ein Garten oder Park nicht genügt. Der eine e i g e n e Welt braucht vor dem Fenster, morgens, wenn er seine Augen schon aufschlagen muß; dessen Träumen nimmer ein Ende finden soll – im Licht nicht und auch nicht an den Fenstern. Der sein Träumen auch überall außer sich wiederfinden will.
Dieser Karl, Schlossbewohner und Landgraf von Hessen bricht also an einem Morgen in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts aus Kassel zu einer langen Reise auf; besieht sich Italien, Rom dort, keine der berühmten Villenanlagen lässt er aus. Und dort, vor allem angesichts der Villa Aldobrandini bei Frascati geht ihm auf, wohin sich der Park um sein Schloß daheim verwandeln soll – zuhause lässt er ja seit Jahren unentschlossen am Osthang des Habichtswaldes roden, rund um das kleine Jagdschloß und die Moritzgrotte herum. Bis zur Italienreise schwebte Karl für diesen Teil des Schlossparks etwas wie eine Kaskadenanlage vor (sein Vorgänger zeigte bei besagter Moritzgrotte bereits bescheidene Wasserspiele). Nun aber lässt er endlich breite Schneisen schlagen: Sein Karlsberg (später: Wilhelmshöhe) soll zum nordhessischen Arkadien werden! Giovanni Francesco Guerniero, Architekt aus Rom, zeichnet bereits an einem Plan. Und Landgraf Karl, ausgestattet mit Land, Leuten und Geld, sowie besessen von jenem etwas, das sein Zeitgenosse, der Fürstbischoff Lothar Franz von Schönborn den „Teufels-Bauwurm“ nennt, gefallen bereits die ersten Skizzen seines römischen Baumeisters. Sie gefallen ihm sogar sehr.
Schon in den bloßen Anfängen der langwierigen Bauarbeiten präsentiert er der Öffentlichkeit das entstehende Großwerk mit einem detaillierten Kupferstich seines Architekten, einer danach gefertigten Serie von Ölgemälden, sowie einem 63 Meter langen Holzmodell. Die Neugierde auf die Wasserspiele des Landgrafen lockt bald mehr und mehr Menschen nach Kassel. In Reisebeschreibungen und Tagebucheinträgen der Zeitgenossen finden sich begeisterte Kommentare über das am Karlsberg zu Kassel bestaunte.
Von der Spitze des Berges her, so sahen sie es damals und dort, wird einst ein kupferner Herkules grüßen. Zu dessen Füßen erstreckt sich ein Gigantenschlachtfeld aus Stein, bis herunter zu seinem, Karls Schloß. Überall auf den Rasenhängen verstreut liegende Riesenfindlinge und Felsbrocken zeugen von der gerade verrauchenden Schlacht, die Herkules zu Gunsten der Götter entscheiden konnte. Der Riese Encelades liegt – erschöpft von der fehlgeschlagenen Erstürmung des Olymp und verschüttet unter Felslasten – am Boden und speit mit letzter Kraft einen Wasserstrahl, aus dem die Kaskaden schwellen. Vorbei an den Grotten, den Tempeln, zum See.
Nur ein Drittel dieser umfangreichen Planungen Guernieros mit dem Arbeitstitel Delineatio Montis a Metropoli Hasso-Casselana werden in den folgenden dreißig Jahren umgesetzt und tatsächlich errichtet. Es reicht nur zum Oktagon, zwei Wassertheatern und den Kaskaden. Der Rest, es fehlen noch knapp 800 Meter der geplanten Wasserachse, etliche Kaskaden und Terrassen bis hin zum Schloß, das ebenfalls einem anderen, Orangerieartigen Bau nach Entwürfen des Römers weichen sollte, wurde nie in Angriff genommen. Der zur Mitte des Jahres 1718 erreichte Zwischenstand wurde nicht weiter ausgebaut. Der Durchreisende Johann Wolfgang von Goethe notierte: „Der Winterkasten auf dem Weissenstein, ein Nichts um Nichts, ein ungeheurer Confeckt Aufsatz und so mit Tausend andern Dingen.“
1730 starb Landgraf Karl und mit ihm verlor Guerniero den einzigen Befürworter seines Großprojekts. Die Um- oder überhaupt Gestaltungen der Wilhelmshöhe – so umtriebig und ehrgeizig die Bauarbeiten gerade noch betrieben wurden – kamen mit dem Tod ihres Verfügers ins Stocken, erstarrten dann ganz. Und ihr Warten sollte dreißig Jahre lang dauern.
Karls Nachfolger Friedrich I. zog es vor, als schwedischer König in Stockholm zu residieren. Sein Bruder Wilhelm sorgte immerhin dafür, dass ihnen Wilhelmshöhe nicht zerfiel. Und Probleme gab es andauernd, denn Guerniero war zwar ein hervorragender Planer, ein Visionär, doch seine Entwürfe für das Kassler Arkadien waren ihrer Zeit zu weit voraus. Die Gewerke verwandten teilweise mangelhafte Baumaterialien, das für viele Konstruktionen eingesetzte Gussmauerwerk hielt längst nicht so lange, wie erwartet und geplant. Besonders das Oktagon, Riesenschloß und Krönung der Anlage, war ständig von teilweisem Einsturz bedroht. Abstützungen und Umbauten wurden immer wieder notwendig. Vollkommen ruiniert wurde es jedoch nie.
Was aber „hielt“, im Gegensatz zu den Bauten aus Stein, war Guernieros Wasserarchitektur. Seine Konstruktion benutzt geschickt die besondere Lage des Habichtswaldes, einem Teil des an Fulda und Werra gelegenen Berglandes, das reichlich Wasser führt. In den versteckt angelegten Becken und Speicherteichen der Anlage wird Wasser aus den zahlreichen Quellen des Waldes, von Tau, Regen und Schneeschmelze gesammelt. Die Grubenwässer der inzwischen stillgelegten Braunkohlestollen werden ebenfalls hinzugeleitet und für die sogenannten Wasserkünste, die Fontänen und Kaskaden benutzt. Des Landgrafen Wunsch, die Wasserspiele Tag und Nacht ohne Pause betreiben zu lassen, scheiterte nicht nur allein aus finanziellen Gründen; die Wasserspiele sind vor allem eine Meisterleistung der Ingenieurskunst, denn Guerniero konstruierte hierfür ein Fontänenspektakel, das allein mit der naturgegebenen Fallsucht des Wassers betrieben wird, ohne dabei auch nur eine einzige Pumpe oder sonstige Mechanik zur Hilfe zu benötigen. So sind heute noch, wie schon bei der ersten Vorführung 1714, ausschließlich Arbeiter (und keine Maschinen!) stundenlang damit beschäftigt, durch Ziehen und Schließen ein Klappen- und Schleusensystem zu bedienen, um die Wasserspiele in Gang zu setzen. 350 000 Liter Wasser rauschen dann – wild schäumend hier, dann wieder zu glashellen Folien gespannt – die großen Kaskaden hinunter. Das meiste davon strömt aus dem obengelegenen Sichelbachteich, der allein über 40 000 Kubikmeter fasst. Von ihm aus führen zwei Systeme kommunizierender Röhren zum Oktagon, und in dessen nördlichen Vorrat, den Unglücksteich (so heißend, seit dort 1714 ein Handwerker verunglückte und starb).
Trotz dieser Einmaligkeit der Wasserspiele, sowie der gesamten Anlage in der damaligen Zeit, fällt es erst an Landgraf Friedrich II., sich von 1763 an dem inzwischen auf Wilhelmshöhe umgetauften Karlsberg anzunehmen. Gerade zurückgekehrt aus dem Siebenjährigen Krieg, lässt er die gerade virulenten Strömungen von Romantik und Empfindsamkeit in seine Planungen einfließen. Philosophentempel und Denkhallen werden aufgestellt. Die Grotte des Pluto wird um eine Höllenszene bereichert. Und auch die irdische Welt und Gegenwart hält in Nachbildungen Einzug in Karls Mythengarten. Schon entsteht eine maßstabsverkleinerte Moschee mit Kuppel und Minaretten an einem Abhang auf Südost unterm Schloß. Und ebenfalls dort siedelt sich rund um eine Windmühle ein Kleinstdorf im chinesischen Stil samt Pagoden und kantonesischen Katen an; der Name des Orts lautete Mu-Lang – und verballhornte so das französische Wort für Mühle, Moulin. Die Be“wohner“ dieses original chinesischen Unterhaltungsdorfes waren übrigens weder - wie man vielleicht vermuten möchte - gelb angemalte Schauspieler aus Kassel, noch direkt importierte Chinesen. In Ermangelung echter Asiaten befahl Friedrich II. kurzerhand einigen am Hof vorhandenen „Mohren“ ihm in Mu-Lang die Chinesen zu geben. Die schwarzen „Rundaugen“ genügten seinem Durst nach exotischer Parkbevölkerung auch vollauf.
Doch Friedrich will dem Park auch Schönes: Während seiner Regentschaft werden umfangreiche Pflanzungen durchgeführt; die Gartenanlagen ergrünen, sind von unbekannter Üppigkeit. Labyrinthe entstehen. Die Wasserspiele aber interessieren Friedrich wenig. Sein Material ist der fühlige Weltenstoff. Bis zu seinem Tod 1785 wird sich daran nichts mehr ändern.
Als dann Wilhelm der IX. als Kurfürst nach Wilhelmshöhe kommt, findet er den Garten als das vor, wie wir ihn auch heute noch lesen können: Ein früher Themenpark von Mythen und Geschichte – vergleichbar mit dem „Sagenpark“, der in Botho Straußens Drama Die Ähnlichen eine Rolle spielt. Gleich wie Karl als der pathetische, Friedrich als der schwurbelnde Gartengestalter erinnert wird, so ist es Wilhelm IX, der die Wilhelmshöhe zur Reife führt; das ihm überlassene Stückwerk zum Park zusammenwachsen lässt. Zwei Mitarbeiter wirkten daran unverzichtbar mit: Zum einen der Baumeister Heinrich Christoph Jussow, unter dessen Kommando die Bepflanzung der Wilhelmshöhe zur so artenreichen und vielfältigen gedieh, wie sie auch heute noch vorgefunden wird: Aus Amerika, Japan und Persien stammen die Bäume und Sträucher. Er weist Wilhelms Armeechefs an, bei ihren Feldzügen auch in den Landschaften des Feindgebietes Beute zu machen. Irgendwann, in einer Stunde höchster Euphorie schlägt er seinem Herrn sein ehrgeizigstes Projekt vor: Einen künstlichen Vulkan, der glühende Kohlenbrocken speit (im hinteren Teil des Gartens).
Der andere, noch engagiertere Mitstreiter des Kurfürsten ist Karl-Friedrich Steinhofer. Er, der ehemalige Brunneninspektor, wird bald Wassergott von Wilhelmshöhe genannt. Ein kleiner, wohl recht dicker Mann sei er gewesen. Viele Gemälde aus der Zeit zeigen ihn, nie ohne ein Riesenschnupftuch, sein Markenzeichen – ähnlich einem Alfred Hitchcock in seinen eigenen Filmen – meist am Rand vor seinem Wasserfall stehend. Es wird erzählt, Steinhofer „verstand“ die Wasserfälle und Kaskaden, wusste instinktiv, wo der Fehler begraben lag, wenn ein Wasserspiel streikte. Es ist natürlich unmöglich, aber es wird weiterhin erzählt, Steinhofer habe mit dem fallenden Wasser „geredet“. Denn Karl-Friedrich Steinhofers Welt war – um es mit Wittgenstein zu sagen: alles Wasserfall ist.
Seine Hinterlassenschaft, der nach ihm benannte Steinhöfer-Wasserfall rauscht noch heute über ein bewachsenes Felsenmeer ab. Dort setzt sich aus seiner Gischt der Blick unserer acht Stehenden wieder zusammen und klimpert müd, will schlafen; nach Hause, in Kassel, der Stadt.